Leningrad

Die Belagerung Leningrads gehört zu den größten Katastrophen des Zweiten Weltkriegs. Fast 900 Tage lang, vom 7. September 1941 bis zum 27. Januar 1944, hielten die deutsche Wehrmacht im Süden und die finnische Armee im Norden die Stadt vom sowjetischen Hinterland abgeschnitten. Nur über den Ladogasee konnten Lebensmittel in den Belagerungsring gebracht werden: im Sommer per Schiff und im Winter per Lastwagen über die Eisstraße. Diese „Straße des Lebens" ermöglichte es den Leningradern, die deutsche Belagerung zu überstehen. Die Kapazität dieser Versorgungslinie reichte jedoch nicht aus, um die Bedürfnisse der drei Millionen Einwohner zu befriedigen. Die lokalen Verantwortlichen waren gezwungen, die Lebensmittelrationen immer weiter herabzusetzen. Im Dezember 1941 erreichten sie mit 125 Gramm Brot pro Tag ihren Tiefststand. Dieses „Blockadebrot" bestand in jenem Winter zu 40 % aus Ersatzstoffen: Kleie, Futterkuchen, Hülsen, Reiskörnern und Zellulose. Der Hunger nahm schreckliche Formen an. Menschen brachen mitten auf der Straße tot zusammen. In ihrer Verzweiflung aßen die Leningrader alles: Bald waren Hunde und Katzen aus dem Stadtbild verschwunden, auch sind Fälle von Kannibalismus überliefert. Die Kälte verschärfte die Situation. Der erste Kriegswinter war mit Temperaturen bis zu minus 40°C einer der strengsten im 20. Jahrhundert. So hatte auch der Mangel an Brennmaterialien fatale Auswirkungen. Das gesamte Alltagsleben kam zum Erliegen. Die Wasser- und Energieversorgung brach zusammen, seit November fuhren keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr, und Leningrad versank in Dunkelheit. Im Dezember fielen die Heizungen aus, und die Menschen versuchten, ihre Zimmer mit kleinen gußeisernen Öfen selbst zu beheizen. Sie verbrannten ihre Möbel und Bücher, da es schon bald kein Holz mehr in der Stadt gab. Die Bilanz dieser 900 Tage: rund eine Million Tote unter der Leningrader Zivilbevölkerung - das sind rund doppelt so viele Zivilisten wie in Deutschland während des gesamten Kriegs durch die alliierten Luftangriffe umgekommen sind.“

Sofern nicht anders angegeben, stammen die angeführten Zitate aus Jörg Ganzenmüllers Buch „Das belagerte Leningrad 1941 – 1944 – Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern, 2007“

Hier eine Dokumentation des ORF:

 

 

Andreas von Westphalen: „Zum 75. Mal jährt sich die Befreiung Leningrads. Die Belagerung der Stadt war eine der schlimmsten Kriegsgräuel der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Doch hierzulande wird kaum daran erinnert. Das ist fatal.

Am 27. Januar 1944 endete die „größte demographische Katastrophe, die eine Stadt in der Geschichte der Menschheit jemals erfahren musste“ (John Barber). Leider steht zu befürchten, dass in Deutschland der heutige Gedenktag verstreichen wird, ohne dass dem Grauen gedacht wird, das durch Deutsche vorsätzlich mit der Blockade Leningrads verursacht wurde.

Als am 8. September 1941 die deutsche Wehrmacht den Vorort Schlüsselburg eroberte, war Leningrad dadurch auf dem Landweg abgeschnitten und weiträumig eingeschlossen. Die einzige Verbindung zum Hinterland bildete der größte See Europas, der Ladogasee. Ganze 872 Tage dauerte die Blockade Leningrads. 872 Tage hungerte die Metropole an der Newa. Rund eine Million Zivilisten starben hierbei. Das sind rund doppelt so viele Zivilisten wie im Deutschen Reich während des gesamten Kriegs durch alliierte Luftangriffe umgekommen sind.

Die jahrelange Aushungerung war aber keineswegs Ausdruck einer erbitterten Belagerung zweier gleicher Militärkräfte. Tatsächlich hatte die deutsche Kriegsführung nie geplant, dass alle Einwohner der 3,2-Millionen-Stadt überleben sollten. Bereits zwei Wochen nach Kriegsbeginn notierte Franz Halder, Generalstabschef des Heeres: „Feststehender Entschluss des Führers ist es, Moskau und Leningrad dem Erdboden gleich zu machen, um zu verhindern, dass Menschen darin bleiben, die wir dann im Winter ernähren müssten.“

Reichsmarschall Hermann Göring, der die ökonomische Ausbeutung der besetzten Gebiete koordinierte, erklärte lapidar: „Aus wirtschaftlichen Überlegungen ist die Eroberung großer Städte nicht erwünscht, ihre Einschließung ist vorteilhafter.“ Entsprechend formulierte Generalquartiermeister Eduard Wagner in einem Brief an seine Frau: „Der Nordkriegschauplatz ist so gut wie bereinigt, auch wenn man nichts davon hört. Zunächst muss man sie in Petersburg schmoren lassen, was sollten wir mit einer 3,2 Mill. Stadt, die sich nur auf unser Verpflegungsportemonnaie legt. Sentimentalitäten gibt’s dabei nicht.“ Sentimentalitäten gab es tatsächlich keine, wie die Weisung der Heeresgruppe Nord beweist: „Jedes Ausweichen der Zivilbevölkerung gegen die Einschliessungstruppen ist – wenn notwendig unter Waffeneinsatz – zu verhindern.“

Die deutsche Militärstrategie zielte von Anbeginn darauf ab, möglichst schnell eine Hungerkatastrophe in der Stadt herbeizuführen. So hatten die deutschen Piloten den expliziten Befehl, Lebensmittellager, Kraftwerke und Wasserwerke zu bombardieren. Schon am 12. September zerstörten sie das größte Lebensmittellager der Stadt.

Wie gravierend das Ausmaß der Hungerkatastrophe in der Stadt war, wussten die deutschen Verantwortlichen durchaus. Joseph Goebbels notierte in seinem Tagebuch: „Es spielt sich augenblicklich in Petersburg ein Stadtdrama ab, wie es die Geschichte noch nicht gekannt hat. Die Auswirkungen der Belagerung werden sich erst dann für die Weltöffentlichkeit zeigen, wenn Leningrad gefallen ist.“ Der Lagebericht der Wirtschaftsinspektion Nord merkte hierzu Mitte Dezember 1941 an: „Die Masse der Bevölkerung hungert und kann teilweise vor Schwäche das Bett nicht verlassen. Göring gab sich weiterhin wenig sentimental. Das Schicksal der großen Städte, speziell Leningrad, sei ihm „vollständig egal. Dieser Krieg wird die größte Hungerkatastrophe seit dem 30jährigen Krieg zeigen.“

Entgegen einem jahrzehntelang in der Bundesrepublik Deutschland gepflegten Glauben hätte die Stadt Leningrad ihrem Schicksal niemals durch Kapitulation entgehen können. Die Weisung für die Heeresgruppe Nord am 28. September 1941 war eindeutig: „Eine Kapitulation ist nicht zu fordern“. Das Schicksal der Weltstadt war somit entschieden. Das Schreiben der Seekriegsleitung war noch schärfer formuliert: „Sich aus der Lage der Stadt ergebende Bitten um Übergabe werden abgeschlagen werden, da das Problem des Verbleibens und der Ernährung der Bevölkerung von uns nicht gelöst werden kann und soll. Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teils dieser großstädtischen Bevölkerung besteht in diesem Existenzkrieg unsererseits nicht.“

Eine Woche später wurde die Entscheidung bestätigt. Alfred Jodl, Chef des Wehrmachtsführungsstabs, betonte: „Der Führer hat erneut entschieden, dass eine Kapitulation von Leningrad oder später von Moskau nicht anzunehmen ist, auch wenn sie von der Gegenseite angeboten würde.“ (Jodl rechtfertigte dies durch eine mögliche Unterminierung Leningrads, wie es in Kiew geschehen war, wo Explosionen 200 Deutschen das Leben kosteten und 10 bis 25.000 Einwohner obdachlos machten.) Gegenüber Walther von Brauchitsch, Oberbefehlshaber des Heeres, bestätigte Hitler die Entscheidung.

Dies war das Todesurteil für die mehr als drei Millionen Menschen innerhalb des Blockaderings. Wilhelm Ziegelmayer, Ernährungsexperte des Oberkommandos der Wehrmacht, notierte nüchtern: „Wir werden uns auch künftig nicht mit Forderungen nach einer Kapitulation Leningrads belasten. Es muss durch eine wissenschaftlich begründete Methode vernichtet werden.“ Es kann nicht deutlich genug betont werden: Die Blockade Leningrads ist ein Sonderfall der Geschichte, denn niemals zuvor ist die Einnahme einer Stadt ausgeschlossen und der Hungertod aller Einwohner eingeplant worden.

Das anvisierte Schicksal Leningrads spiegelte sich auch im „Generalplan Ost“ vom Juni 1942 wider. Dieser nahm für die Metropole eine „künftige Stadtbevölkerung mit 200.000“ an. Also ganze drei Millionen weniger als zu Beginn des Krieges (dies berücksichtigt noch nicht die Hunderttausende Flüchtlinge, die aktuell in Leningrad zu überleben versuchten). Im „Entwurf eines Raumordnungsplans für das Ostland“ vom November 1942 gingen die Autoren sogar davon aus, dass diese Region „nach Ablauf der Kampfhandlungen relativ entvölkert sein“ werde.

Selbstredend änderte der Entschluss, eine Kapitulation Leningrads nicht anzunehmen, die Stadt also nicht erobern zu wollen, keineswegs etwas an der Entscheidung, die Bevölkerung Leningrads nicht vor dem drohenden Hungertod zu bewahren. Am 3. Oktober betonte Generalquartiermeister Wagner, dass „für Petersburg alle vorbereitenden Maßnahmen zur Versorgung der Zivilbevölkerung abgelehnt“ seien. Einen Monat später erklärte er auf einer großen Generalstabsbesprechung: „Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß insbesondere Leningrad verhungern muss, denn es ist nicht möglich, diese Stadt zu ernähren. Aufgabe der Führung kann es nur sein, die Truppe hiervon und von den damit verbundenen Erscheinungen fern zu halten.“ Am 8. November 1941 offenbarte Hitler: „Wir waren vor Leningrad genauso lange offensiv, als dies notwendig war, um Leningrad einzuschließen. Jetzt sind wir defensiv, der andere muss jetzt auszubrechen versuchen, aber er wird in Leningrad verhungern!“

Am 5. September notierte Goebbels die besondere Problematik für die deutsche Propaganda, das Aushungern einer Metropole wie Leningrad zu begründen: „Es macht uns einige Sorge, wie dieses Stadtdrama vor der Weltöffentlichkeit gerechtfertigt werden soll. Aber die Bolschewisten sind uns ja weitgehend entgegengekommen. Sie selbst haben es in die Welt hinausposaunt, dass sie die Absicht haben, diese Stadt bis zum letzten Mann zu verteidigen. Sie haben sich also auch die Folgen zuzuschreiben. Wir geben noch ein Flugblatt heraus, das von unseren Fliegern über Leningrad abgeworfen werden soll und in dem der Stadt ihr grauenhaftes Schicksal vor Augen gehalten werden wird. Dies Flugblatt veröffentlichen wir auch in der Auslandspresse und in unseren Sprachdiensten im Rundfunk und verschaffen uns damit für alles, was kommen wird, ein wirksames Alibi.“

Wenige Wochen später ist Goebbels erleichtert: „Es liegt also durchaus in unserem Sinne, wenn Leningrad noch einige Zeit Widerstand leistet. Wir können dann diese Millionenstadt Straße um Straße und Viertel um Viertel zerstören, und besetzen wir sie dann, so werden notwendig werdende Sprengungen die noch übrigbleibenden Mauerreste dem Erdboden gleichmachen. Es entwickelt sich hier das schaurigste Stadtdrama, das die Geschichte jemals gesehen hat. (...) Etwas ähnliches wird unter Umständen mit Moskau der Fall sein.“

Der Historiker Wigbert Benz betont, dass die Aushungerung Leningrads jahrzehntelang „zu einer normalen Belagerung marginalisiert wurde“. Bis in die 1980er Jahre hinein wurde die Auffassung allgemein, die Wehrmacht habe nur zum Mittel der Aushungerung Leningrads gegriffen, weil sie die Stadt nicht habe einnehmen können. Historiker wandten sich explizit dagegen, die Blockade von Leningrad als Kriegsverbrechen einzustufen: So tragisch diese Vorgänge auch gewesen seien, moralische Vorwürfe gegen die deutschen Truppen würden jeder Grundlage entbehren. Immer noch gehöre die Belagerung und Beschießung einer verteidigten Stadt und Festung zu den gebräuchlichen und unbestrittenen Methoden der Kriegsführung. Daher wird die Blockade Leningrads entsprechend als „normales Kriegsereignis“ gedeutet.

Seit dem Beginn der neunziger Jahre wird schließlich auch das Leid der belagerten Leningrader thematisiert. „Dieser Wandel im deutschen Gedächtnis hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die bislang getrennten Formen der Erinnerung in Ost und West zusammengeführt werden“, sagt der Historiker Jörg Ganzenmüller. In der DDR hatte der staatlich verordnete Antifaschismus für die faktische Bekanntheit der Blockade gesorgt, auch wenn ihre Darstellung dem sowjetischen Heldennarrativ untergeordnet war. „Als Genozid an den Leningradern wurde die Geschichte von keiner Seite erzählt“, betont Ganzenmüller.

Heute sind sich die Historiker über die Einordnung der Blockade von Leningrad einig. So stellen der US-amerikanische Historiker Richard Bidlack und sein russischer Kollege Nikita Lomagin beispielsweise fest: „Nach dem Holocaust war die Blockade Leningrads der größte Akt eines Genozids in Europa während des Zweiten Weltkrieges.“ Auch die deutschen Historiker Jörg Ganzenmüller und Christian Hartmann sprechen explizit von einem „Genozid“. Karl Schlögel betont, heute sei „unbestritten, dass die über Leningrad verhängte Blockade zu den großen Kriegsverbrechen zu zählen ist“.

Erst 2001 war ein deutsches Staatsoberhaupt bereit, ein deutliches Zeichen an die Erinnerung der Blockade Leningrads zu setzen. Gemeinsam legte der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder mit Präsident Wladimir Putin, dessen ältester Bruder in der Blockade verstarb, auf dem zentralen Gedenkort der Blockadeopfer in Leningrad einen Kranz nieder und erkannte somit symbolisch das Leiden der Leningrader Bevölkerung während der deutschen Belagerung an.

Am 27. Januar 2014, dem „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ und dem 70. Jahrestag der Befreiung Leningrads, lud der Deutsche Bundestag Daniil Granin ein, um eine Gedenkrede zu halten. Granin ist gemeinsam mit Ales Adamowitsch Autor des tief beeindruckenden „Blockadebuches“. Am selben Tag schrieb der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck an den russischen Präsidenten: „Deutschland ist sich seiner geschichtlichen Verantwortung für das Leid, das den Einwohnern Leningrads angetan wurde, und der brutalen Kriegsführung seiner Soldaten, Einsatzgruppen und SS-Formationen bewusst.“

Heute finden keine nennenswerten Gedenkveranstaltungen auf staatlicher Ebene statt. Es ist also keineswegs sicher, ob Gaucks Versprechen fünf Jahre später noch Bestand hat. Sicherlich ist die aktuell sehr angespannte Lage zwischen dem Westen und Russland nicht die ideale Voraussetzung für die Organisation von Gedenktagen, aber dies darf keineswegs eine Entschuldigung dafür sein, die Erinnerung an das Ende einer der schwersten deutschen Kriegsverbrechen zu unterlassen. Jedem, der an dieser Stelle einen moralischen Zeigefinger schwenkt, sei die Mahnung des Historikers Christian Streit ins Stammbuch geschrieben: „Die Voraussetzung zur Versöhnung ist die Erinnerung an das, was war.“

https://www.cicero.de/kultur/75-jahrestag-befreiung-leningrad-gedenkentag-voelkermord-russland-deutschland-genozid

So löblich der Artikel ist, irrt Andreas von Westphalen doch an zwei Stellen: 872 Tage Belagerung bedeuten nicht 872 Tage Hunger (dazu später mehr) und Gerhard Schröder war nicht deutsches Staatsoberhaupt.

 

Leben in Leningrad

 

Erinnerungen

 

Der russische Präsident Wladimir Putin, selbst "Leningrader Kind", betonte, wie wichtig es ist, die Erinnerung an die Belagerung Leningrads wachzuhalten, als er am Sonntag, dem 75. Jahrestag des Endes der Belagerung, im Oktjabrski-Konzertsaal in St. Petersburg sprach.

"Dieses Ereignis [der Tag, an dem die Belagerung Leningrads gebrochen wurde] wird für immer großartig sein für die Leningrader Bürger, für Russland, für die ganze Welt. Diese 872 Tage schrecklicher und unmenschlicher Qualen, die die Bürger der Stadt durchlebt haben, werden nie vergessen werden. Ihre Leiden und Opfer sind unermesslich", sagte er.

Putin fügte hinzu, dass es wichtig sei, "den Urenkeln der Gewinner die ganze heroische Wahrheit über die Belagerung von Leningrad zu vermitteln, ein Gefühl der Bewunderung für Stolz und Würde der Leningrader Bürger".

"Wir, wie auch unsere Nachkommen, müssen unser Bestes tun, damit sich solche Tragödien nie wiederholen. Wir müssen uns entschlossen dafür einsetzen, das Andenken an jeden Menschen zu schützen, der zum Sieg beigetragen hat. Die Erinnerung, die dazu bestimmt ist, die Menschen zu vereinen, ruft die Menschen zu Frieden und Gerechtigkeit auf. Deshalb werden Daten wie das heutige nie als zweitrangig oder gewöhnlich angesehen werden."

Die Belagerung Leningrads durch deutsche Truppen begann am 8. September 1941 und dauerte 872 Tage bis zum 27. Januar 1944. Die Blockade wurde schließlich am 18. Januar 1943 gebrochen, als es den sowjetischen Streitkräften gelang, einen schmalen Korridor in die Stadt zu öffnen, wobei die Stadt am 27. Januar 1944 vollständig befreit wurde.

Mehr als eine Million Einwohner Leningrads starben während der Blockade. Die meisten sind verhungert oder erfroren. Auch der russische Präsident ist ein Leningrader Kind. Zwar wurde er nach der Blockade geboren, aber die Folgen und das Leid, das seiner Familie während der Zeit widerfuhr, hinterließen auch beim Präsidenten tiefe Narben.

Sein älterer Bruder starb, nachdem man es seiner Mutter weggenommen hatte, an Diphtherie. Damals brachte man die Kinder in Kinderheime, um sie vor dem Verhungern zu retten. Später war es auch beinahe um seine Mutter geschehen. Sanitäter trugen sie bereits aus dem Haus, zusammen mit Leichen. Der im Krieg verletzte Vater kam gerade nach Hause, sah, was mit seiner Frau geschah, und konnte die Sanitäter an der Eingangstür aufhalten.

Putin erklärte einst dazu: "Er trat näher heran, und ihm schien, als atmete sie noch. Er sagte den Sanitätern: 'Sie lebt doch noch!' – 'Den Transport', bekam er zur Antwort, 'wird sie nicht überleben.' Da ging er mit den Krücken auf die Sanitäter los und zwang sie, sie in die Wohnung zurückzutragen. Sie sagten: 'Gut, wir tun jetzt, was du willst, aber sei dir darüber im Klaren, dass wir die nächsten zwei bis vier Wochen hier nicht mehr vorbeikommen werden. Du musst dann allein zurechtkommen.' Er pflegte sie gesund. Sie lebte bis zum Jahr 1999. Er verstarb Ende 1998."“

https://deutsch.rt.com/kurzclips/83234-putin-unsere-pflicht-heroische-wahrheit-leningrader-blockade-erzaehlen/

 

 

Evakuierung

 

Laut Jörg Ganzenmüller wurden zwischen dem 29.06.1941 und dem 15.04.1942 1.287.088 Menschen aus Leningrad evakuiert und bis Ende 1942 weitere 462.257 Menschen.

Ausgelagert in den sicheren Osten der Sowjetunion wurden bis Oktober 1943 unter anderem:

70 vollständige Betriebe, 70.000 Maschinen, 58.000 Elektromotoren, 125.000 Tonnen Eisenmetalle, 31.000 Tonnen Buntmetalle.

 

Späte Befreiung

 

Es ist ein fester Bestandteil des sowjetischen Heldenepos über den „Großen Vaterländischen Krieg", daß Leningrad 900 Tage lang der deutschen Belagerung trotzte. Dieser Mythos verkennt die militärische Lage, in der sich die Newametropole tatsächlich befand. Denn der Wehrmacht fehlten nach dem Truppenabzug im Herbst 1941 die militärischen Mittel, einen aussichtsreichen Versuch zur Einnahme der Stadt zu unternehmen. Nur mit der Operation „Nordlicht" starteten die Deutschen im Sommer 1942 eine groß angelegte Offensive. Leningrad mußte von der Roten Armee also weniger verteidigt, als vielmehr befreit werden. Dies empfanden auch die in der Stadt ausharrenden Menschen so. Seit Februar 1942 gab es Stimmen, die von der sowjetischen Führung forderten, den Blockadering entweder zu sprengen oder - wenn man dazu nicht in der Lage sei - die Stadt den Deutschen zu übergeben. Doch erst am 27. Januar 1944 wurde Leningrad endlich entsetzt. Dabei war die Hoffnung der Eingeschlossenen auf die Befreiung schon im Winter 1941/42 groß. So notierte Petr Samarin, stellvertretender Werkabteilungsleiter im Leningrader Rechenzentrum, am 30. Dezember 1941 in sein Tagebuch:

Heute spricht man über den herrlichen Frontbericht. Wir haben große Beute gemacht und viele Städte im Süden und im Westen zurückerobert. Wie schön! Wann kommen die Siege zu uns nach Leningrad, wann hören wir auf, so zu krepieren ..."

Warum wurde Leningrad erst so spät befreit? Die westliche Forschung hat zuweilen gemutmaßt, daß man den Blockadering schon früher hätte sprengen können. Immerhin hatte die Rote Armee im Januar 1944 am südlichen Frontabschnitt, wo die Wehrmacht am weitesten ins Landesinnere vorgestoßen war, die einst besetzten Gebiete wieder zurückerobert und bereits die sowjetisch-polnische Grenze von 1939 überquert. Am nördlichen Frontabschnitt waren dagegen seit Herbst keine größeren Veränderungen zu verzeichnen. Fehlte also im Kreml der politische Wille, die Blockade schnellstmöglich zu beenden?

Betrachtet man das militärische Geschehen an der Leningrader Front näher, dann muß man diesen Vorwurf als zu pauschal zurückweisen. Die Rote Armee verweilte nicht zweieinhalb Jahre untätig in ihren Schützengräben, sondern unternahm zwischen September 1941 und Januar 1943 immerhin fünf Versuche, den Belagerungsring zu durchbrechen …

Der Januar 1943 brachte nicht nur eine Wende an der Leningrader Front, sondern auf dem gesamten sowjetischen Kriegsschauplatz. Durch den Sieg bei Stalingrad hatte die Sowjetunion die strategische Initiative an sich gerissen. Auch vor Leningrad lag nun das Heft des Handelns eindeutig in den Händen der Roten Armee – eine Einschätzung, die auch Stalin teilte:

Vor drei Monaten haben die Truppen der Roten Armee die Offensive im Vorgelände von Stalingrad begonnen. Seither liegt die Initiative der Kriegshandlungen in unseren Händen, während das Tempo und die Stoßkraft der Angriffsoperationen der Roten Armee nicht nachlassen. Heute greift die Rote Armee unter den schweren Verhältnissen des Winters an einer Front von 1.500 Kilometern an und erzielt fast überall Erfolge. Im Norden, bei Leningrad, an der Mittelfront, im Vorgelände von Charkow, im Donezbecken, bei Rostow, an der Küste des Asowschen und des Schwarzen Meers versetzt die Rote Armee den Hitlertruppen einen Schlag nach dem anderen.“

Doch wer nun glaubte, die Rote Armee würde die zweitgrößte Stadt des Landes bald vollständig entsetzen, der sah sich getäuscht. Ein Jahr lang tat sich an der Leningrader Front praktisch nichts. Während die sowjetischen Truppen in Zentral- und Südrußland weite Gebiete befreiten, blieben sie auf dem nördlichen Kriegsschauplatz weitgehend passiv. Waren die sowjetischen Offensiven bis dahin im kontinuierlichen Abstand von Wochen oder wenigen Monaten erfolgt, so brachte man nun die Zeit damit zu, den freigekämpften Korridor zu befestigen und die Lage zu stabilisieren. Die einzige Operation, welche die Rote Armee am nördlichen Frontabschnitt im Sommer 1943 unternahm, galt nicht der Befreiung Leningrads, sondern der Rückeroberung der Gebiete um den Ilmensee mit den Städten Novgorod und Luga. Danach wurden die erschöpften Truppen der Volchov-Front auch nicht aufgefüllt, denn ihre Aufgabe bestand laut Stalin nicht in weiterem Raumgewinn, sondern in der Bindung deutscher Divisionen. Dabei verfügte die Wehrmacht Ende August 1943 praktisch über keinerlei Reserven mehr. Es dauerte noch bis zum Januar 1944, ehe die Rote Armee ihren sechsten Befreiungsversuch unternahm, der die deutschen Stellungen tatsächlich innerhalb weniger Tage zum Zusammenbruch brachte. Folgt man der Version Zdanovs, dann gelang die Befreiung sogar vollkommen ohne militärische Unterstützung von außen.

Warum hatte also das sowjetische Oberkommando, das doch alle Trümpfe in der Hand hielt, ein ganzes Jahr gewartet, bis es eine endgültige Befreiung Leningrads anordnete? Dafür lassen sich eine Reihe handfester Gründe benennen. Zunächst einmal kann die Versorgungslage Leningrads im Jahre 1943 nicht mit den Verhältnissen des Winters 1941/42 gleichgesetzt werden. Bereits im Sommer 1942 war die Bevölkerungszahl auf 807.300 Menschen gesunken, im Januar 1944 waren es nur noch 630.000. Die Stadt wirkte so leer und ausgestorben, daß den amerikanischen Journalisten W.L. White, der im Jahre 1944 Leningrad besuchte, das Gefühl beschlich, er durchstreife Pompeji. Bald nach der Rückeroberung Schlüsselburgs konnte die Versorgung der Überlebenden durch den Korridor entlang des südlichen Seeufers gewährleistet werden. Schon am 22. Februar 1943 wurden die Brotrationen auf das Niveau von Moskau angehoben. Ein Leningrader, der die gesamte Blockadezeit in der Stadt verbracht hat, notierte am 11. September 1943 in sein Tagebuch: „Das Leben in der Stadt hat sich vollkommen normalisiert."

Somit laufen Darstellungen, welche die Befreiung Leningrads mit einer Erlösung von der Hungerkatastrophe gleichsetzen, in die Irre. Eine Befreiung hätte die Versorgungslage Leningrads nicht verbessert. Daneben fielen auch keine kriegswirtschaftlichen Gründe in die Waagschale, denn die wichtigsten Leningrader Industriebetriebe waren evakuiert, und die verbliebenen Fabriken versorgten die Leningrader Front mit Schußwaffen und Munition.

Militärstrategisch hatte der Nordabschnitt der Front ebenfalls keine entscheidende Bedeutung. Leningrad war seit dem Herbst 1941 zum Nebenkriegsschauplatz geworden und blieb es während des restlichen Krieges. Weder konzentrierten sich hier bedeutende Kräfte der Wehrmacht, noch bedrohten die Deutschen wichtige Industrie- und Rohstoffbasen. So wie Hitler im zweiten Kriegsjahr den Schwerpunkt seines Feldzugs auf den kriegswirtschaftlich wichtigeren Süden der Sowjetunion legte, genauso hatte für Stalin die Befreiung dieser Gebiete sowie Zentralrußlands Vorrang vor der Rückeroberung des Baltikums. Aus militärstrategischer Sicht war die Situation vor Leningrad für die sowjetische Seite also eher vorteilhaft: Vom Gegner ging keine Gefahr mehr aus, vielmehr wurden seine Truppen an diesen Nebenkriegsschauplatz gebunden.“

 

Unheroisches Verhalten

 

Nicht nur in der sowjetischen Propaganda wurde und wird die Leningrader Bevölkerung als heldenhaft dargestellt. Dabei hat sie sich nicht anders benommen als andere Menschen in Zeiten extremen Hungers auch.

Dazu gehören Unterschlagung von Lebensmitteln für den eigenen Bedarf bis hin zu organisierten Banden, denen es gelang, gegen Verkauf dieser Lebensmittel beachtliche Reichtümer anzuhäufen. Jörg Ganzenmüller beschreibt, dass innerhalb weniger Monate 1942/1943 unter anderem folgende Hehlerwaren sichergestellt wurden: 2,77 Millionen Rubel in bar, Goldmünzen im Wert von 6.708 Rubel, 15,6 kg Goldschmuck, 269 Golduhren, knapp 16 Tonnen verschiedene Lebensmittel.

Im August 1942 standen 90.000 Wohnungen leer wg. Evakuierung, Einberufung oder Todesfällen. Und die wurden natürlich geplündert.

In den Wintermonaten 1941/42 kam es zu Kannibalismus: ca. 1.500 Personen wurden wg. Verzehr oder Verkauf von Menschenfleisch verurteilt. Die Dunkelziffer dürfte allerdings weit höher liegen. Auch wenn manchmal Menschen getötet wurden, wurden meistens bereits Gestorbene verspeist.

Von den organisierten Diebes-Banden abgesehen ist einiges so ziemlich jedem Menschen zuzutrauen und der Wurm wünscht niemandem, je in solch eine Situation zu kommen.

 

Daniil Granin und das „Blockadebuch“

 

Es wurden aber nicht nur die Memoiren der Kriegshelden gelesen. Das kommunikative Gedächtnis aller blokadniki erfuhr eine ungeahnte Renaissance. Ales Adamowitsch und Daniil Granin gingen sogar programmatisch vor. Die beiden Schriftsteller hatten mit einer großen Anzahl von Überlebenden Interviews geführt, Tagebücher und Erinnerungen gesammelt, ausgewertet, zu einer dokumentarischen Erzählung zusammengefügt und im „Blockadebuch" wirkungsvoll in Szene gesetzt. Ganz bewußt sollte ihr Werk eine Alternative zur offiziellen Erinnerung anbieten. Die letztere habe nämlich nur

den Heroismus, die Heldentaten der Menschen, der furchtlosen Kämpfer, gerühmt. Wo aber waren die Werke über die Menschen, die die Ungerechtigkeit, die Schwere des Lebens nicht bewältigen konnten und in Verzweiflung fielen? Wie viele es um uns herum auch gab, die Literatur hat ihnen nicht die Hand gereicht. Sie hat nur gebrandmarkt, verurteilt und uns die Gefallenen fremd werden lassen. Der Gedanke, daß Unglück und Leid nicht zu uns Menschen gehört, war so stark geworden, daß man sogar versuchte, die Leningrader Blockade als eine Kette von Heldentaten und Großtaten darzustellen.“

Adamowitsch und Granin gingen ihre Interviews in der Grundannahme an, die Schrecken der Blockade hätten sich in das Gedächtnis der Leningrader fest eingebrannt. Demnach hätte ihre Erinnerung „die Wahrheit des Volkes über die tragischen und heroischen 900 Tage von Leningrad, die ganze Wahrheit über den Krieg" gespeichert, die es „vor dem Vergessen zu bewahren" galt:

Aber nichts ist vergessen - diese in Leningrad aufgekommenen Worte klingen wie Zuversicht, wie Hoffnung und wie eine Bitte. Jawohl, nichts ist vergessen, selbst wenn der Mensch wollte und ein Recht hätte zu vergessen, könnte er so etwas vergessen? Ja, die noch lebenden Blockadeteilnehmer erinnern sich an alles. Sie haben die Blockade mitgemacht, haben sie tagaus, tagein ertragen und ihre Menschenwürde bewahrt. Wir aber, wir, die wir das nicht erlebt haben, oder die Jugend von heute - haben wir ein Recht, uns nicht darum zu bemühen, alles zu erfahren, was die Leningrader damals auch um unsertwillen ertragen, erlebt, erlitten, geleistet haben? … Ja, die Leningrader haben die Blockade tagaus, tagein mit tragischer Standhaftigkeit und Würde ertragen. Und mit gleicher Würde haben sie jahrelang die brennende Wahrheit über das Erlebte tief in sich verborgen."

Indem Adamowitsch und Granin um Gehör für die Blockadeteilnehmer baten, plädierten sie dafür, einer alternativen, bislang beiseite geschobenen Form der Erinnerung eine Plattform zu geben. Explizit kämpften sie dabei gegen das sich verbreitende Desinteresse der jungen Generation an Krieg und Blockade. Ihr Buch sollte nicht nur ein „Denkmal der Vergangenheit" errichten, sondern einen „lebendigen Kontakt zur Gegenwart" herstellen. Als Vehikel diente ihnen gerade nicht jener pompöse Heldenkult, dessen matter Abglanz vergangener Zeiten einerseits bei den Nachgeborenen einen schalen Nachgeschmack hinterließ, andererseits die wahren Gefühle der Blockadeteilnehmer nicht widerzuspiegeln vermochte:

Kein Blockadeteilnehmer denkt von sich: Wir haben eine Heldentat vollbracht und Heldentum bewiesen. Nein, Jahrzehnte später jedoch dienten diese schweren Jahre für manche gewissermaßen als Rechtfertigung für ihr Leben, wurden zum Kennzeichen staatsbürgerlicher Standhaftigkeit, zum Gradmesser ihrer Beteiligung am Sieg."

Die Kernaussage des „Blockadebuchs" lautete vielmehr: „Die innere Kultur ist die Stärke, nicht die Schwäche des Menschen." So steht bei Adamowitsch und Granin die Solidarität der Leningrader im Vordergrund. Die beiden Schriftsteller rückten die Leidensfähigkeit der Leningrader ins Zentrum ihrer Erzählung, oder, wie Adamowitsch sich ausdrückte, „was ein Volk durchzustehen vermag, wenn es um Leben und Tod der Heimat geht". Zudem hoben sie hervor, daß die Leningrader in dieser unmenschlichen Situation ihre menschliche Würde bewahrt haben, ja sogar „mit einer besonderen Würde" gestorben seien. Zwar verschwiegen sie die existierende Kriminalität nicht, doch wurde diese stets als Ausdruck von individueller Charakterschwäche interpretiert.

Es sollte also weniger an den Patriotismus der Nachgeborenen appelliert werden. Vielmehr wollten Adamowitsch und Granin das Mitgefühl der jungen Generation wecken:

Die Wahrheit über das von Millionen Menschen während der Blockadejahre Erlebte, diese dokumentarische Wahrheit, von Menschen vorgetragen, die all dies persönlich durchgemacht haben, wird vielleicht auch jetzt noch grausam erscheinen. Aber dafür wird sie jedem zu Herzen gehen (hoffen wir)."

Auch wenn sich das im „Blockadebuch" verdichtete kommunikative Gedächtnis zum Teil gezielt vom sowjetischen kulturellen Gedächtnis abhebt, so sind beide doch auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Allerdings erfüllen sie unterschiedliche Funktionen der Erinnerung, die sorgfältig voneinander zu trennen sind. Jan Assmann hat die Polarität zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis mit der Gegensätzlichkeit von Alltag und Fest verglichen. Er spricht sogar von einem ,Alltags-' und einem ,Festgedächtnis'. Diese Dichotomie beschreibt auch die Erinnerungsformen an die Blockade. So erinnern sich im „Blockadebuch" die Opfer der Belagerung an die Ereignisse, die sie erlebt haben. Diese Erinnerungen teilen sie mit ihren Zeitgenossen, und es entsteht eine ‚Gedächtnisgemeinschaft' (P. Nora). Eine Mitarbeiterin der Eremitage wird zum Beispiel mit dem Satz zitiert: „Die Blockade hat uns so fest miteinander verbunden, daß wir diese Bande bis heute nicht lösen können." Während die Erinnerung an Hunger und Tod die täglichen Begleiter der Überlebenden sind, haben die Nachgeborenen nur die Möglichkeit, über das Mitfühlen an dieser Schicksalsgemeinschaft teilzuhaben. Das „Blockadebuch" versteht sich als ein Beitrag dazu.“

RT deutsch: „Einer, der sein Leben lang den Fragen nachging, was die deutsche Führung mit der Blockade von Leningrad bezweckte und warum die Stadt überlebt hat, war der berühmte Schriftsteller Daniil Granin, heute 97 Jahre alt, selbst Einwohner und als Freiwilliger der Volkswehr Verteidiger der Stadt. In seinem in den 1970er Jahren zusammen mit Ales Adamowitsch geschriebenen Klassiker "Das Blockadebuch", das in literarischer Form die unfassbaren Geschichten der "Blockadniki", so hießen die Eingekesselten, zusammenfasst, in seinen Romanen, zahlreichen Reden und Gesprächsrunden: Überall blieben diese Fragen leitmotivisch präsent, nie wieder sollten sie ihn, den Überlebenden, loslassen.

Diese Fragen hatten ihn noch in den 1950er Jahren nach Deutschland verschlagen. Seit dieser Zeit unterhält er viele Kontakte zu Deutschen, auch in den letzten Jahren war er oft in Deutschland zu Besuch.

Bei einem Treffen mit Aktivisten der deutsch-russischen Verständigung im Jahr 2007 im ostdeutschen Wittenberg stellte er fest, wie absurd das Ziel dieses Krieges war. So gut und effizient die deutsche Seite diesen Krieg auch vorbereitet hatte, blieb er doch stets nur bis zur Hälfte durchdacht. Selbst nach der geplanten schnellen Zerschlagung der Roten Armee: wohin dann mit den Menschen? Selbst wenn wir, wie es mittlerweile auch erwiesen ist, von einem Vernichtungskrieg ausgehen können, bei dem mindestens 30 Millionen sowjetischer Bürger vernichtet werden sollten: Was sollte mit dem Rest geschehen und wie wollte man mit ihm umgehen? …

Granin, der sehr viel mit deutschen Quellen arbeitete, erzählt in seinem Buch, wie deutsche Ärzte und Fachleute für Ernährungsfragen haarklein ausrechneten, wie lange die Menschen mit den in der eingekesselten Stadt zugänglichen Lebensmitteln durchhalten würden. Hätten ihre Berechnungen sich bewahrheitet, wären alle Einwohner der Stadt am Ende schon mehrfach tot gewesen.

Warum überlebten so viele am Ende doch? Es waren die Improvisationskünste der Einwohner, logistische Meisterleistungen der Militärführung und vor allem das solidarische Mitgefühl unter den Verbliebenen, die der Wehrmacht am Ende einen Strich durch die Rechnung machen sollten.

In einer Rede am 27. Januar 2014 vor Präsident Gauck, Kanzlerin Merkel, Bundestagsabgeordneten, Schülern und Studenten sagte Daniil Granin:

Die wichtigsten Helden in der Stadt waren ein Jemand; ein namenloser Passant; Menschen, die die anderen aufgehoben hatten; diejenigen, die bereits gefallen waren… dieser Jemand, wer war das eigentlich? Das waren Menschen, in denen das Mitgefühl erwacht war. Das waren die größten und wichtigsten Helden während der Zeit der Blockade ...

Daniil Granin, der mit seiner nüchternen und zugleich doch rührenden Art nach seiner eigenen Einschätzung die Herzen seiner Zuhörer im Bundestag gewonnen hat, ist eine Person, die Länder und Völker über die unterschiedlichen historischen Etappen hinweg verbindet. Als Kriegsveteran und als sowjetischer und russischer Schriftsteller war er auch zur Zeit der Perestroika gesellschaftlich und politisch sehr aktiv.

Für ihn war seine Rede vor dem deutschen Parlament eine Art sakraler Akt:

In der Tat war die Empfindung merkwürdig und durchaus vielschichtig: ich allein, vor mir ganz Deutschland. Ja richtig, nicht der Bundestag, sondern eben Deutschland. Ich aus dem Leningrad, das einst Hitler vernichten wollte.

Das ist bewegend und schön. Es bleibt jedoch die Frage, ob diese am 27. Januar 2014, dem Tag des Gedenkens an die Holocaust-Opfer, gehaltene Rede auch heute, nach der Eskalation der so genannten Ukraine-Krise und allen darauf folgenden Ereignissen, noch möglich wäre?

Das ist ungewiss. Gewiss ist, dass Deutschland und Russland einander zumindest auf der Ebene der politischen Eliten wesentlich entfremdeten, in erster Linie aufgrund der Sanktionen und der Medienkampagnen, die Deutschland auf wessen Druck oder aus welchem zwangsneurotischem Drang auch immer beschlossen, unternommen oder unterstützt hat. Unter den Entscheidungsträgern dieser Maßnahmen waren auch viele Anwesende vom 27. Januar 2014.

Die Russen in ihrer Mehrheit empfinden diese Maßnahmen, seien es Wirtschaftssanktionen, der Ausschluss von Paralympischen Spielen, deutsche Medienkampagnen, sei dies in Form zahlreicher ARD- und ZDF-Produktionen oder Hetze in der Bild-Zeitung, als ungerecht. Das bestätigen auch alle soziologischen Studien und Befragungen. Tage des Gedenkens wie der am 08. September sind jedoch immer guter Anlass, noch mal darüber nachzudenken, welche gefährliche Fehleinschätzungen es auch heute gibt und wie sich ideologischem Wahn, der Hass gebiert, gegensteuern lässt.“

https://deutsch.rt.com/international/40475-daniil-granin-schriftsteller-und-verteidiger/

Nochmal Andreas von Westphalen: „Am 27. Januar 2014, dem „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ und dem 70. Jahrestag der Befreiung Leningrads, lud der Deutsche Bundestag Daniil Granin ein, um eine Gedenkrede zu halten. Granin ist gemeinsam mit Ales Adamowitsch Autor des tief beeindruckenden „Blockadebuches“. Am selben Tag schrieb der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck an den russischen Präsidenten: „Deutschland ist sich seiner geschichtlichen Verantwortung für das Leid, das den Einwohnern Leningrads angetan wurde, und der brutalen Kriegsführung seiner Soldaten, Einsatzgruppen und SS-Formationen bewusst.““

https://www.cicero.de/kultur/75-jahrestag-befreiung-leningrad-gedenkentag-voelkermord-russland-deutschland-genozid

Die Heuchelei von Joachim Gauck und den anderen Verantwortungsträgern im Deutschen Bundestag ist aus heutiger Sicht nur schwer zu ertragen: Sie bereiteten gerade den Regime-Wechsel in der Ukraine vor, siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/57-boxer-aufstand.html und wenige Wochen nach Daniil Granins Auftritt im Bundestag boykottierte Joacjim Gauck die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele im russischen Sotschi wg. angeblicher homosexuellen-feindlichen russischen Gesetze. Da war schnell Ende mit der „geschichtlichen Verantwortung für das Leid, das den Einwohnern Leningrads angetan wurde“.

Daniil Granin im Bundestag:

 

 

 

Russisches Gedenken an die Blockade

 

Die Langlebigkeit dieser weltanschaulich geprägten Lesart erklärt sich aus der allgemeinen Tendenz der sowjetischen Historiographie, das stalinistische Geschichtsbild allenfalls dort zu revidieren, wo es unhaltbar geworden war. Nur notgedrungen räumte man also alte Positionen. Aus diesem Grund erweiterte die sowjetische Geschichtswissenschaft zwar kontinuierlich unser Faktenwissen, doch blieb stets der Heroismus ihr wichtigster Bezugspunkt, von dem jede Beschäftigung mit der Blockade auszugehen hatte. Das einzige, was sich im Zuge der jeweiligen „politischen Konjunktur" änderte, waren die Helden. Zunächst wurde die erfolgreiche Verteidigung Leningrads Stalin oder der lokalen Parteiorganisation als Verdienst gutgeschrieben, später der Roten Armee oder der Leningrader Bevölkerung insgesamt.“

Das heutige russische Gedenken sieht so aus:

 

 

 

Leningrad und die Deutschen

 

Stellt man abschließend der sowjetischen Erinnerung an die Belagerung Leningrads die deutsche gegenüber, dann ist zunächst festzuhalten, daß die Blockade keinen Platz im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik fand. Weder Historiker noch Schriftsteller oder Filmemacher schenkten dem Ereignis ihre Aufmerksamkeit. Auch in den westdeutschen Schulbüchern fanden die Ereignisse im belagerten Leningrad keine Erwähnung. Der Grund für dieses weitgehende Vergessen bestand darin, daß sich die Blockade nicht in das in den späten vierziger und fünfziger Jahren sich etablierende allgemeine Narrativ vom Zweiten Weltkrieg einpassen ließ. Bis in die achtziger Jahre dominierte die doppelte Opferrolle der Deutschen das kulturelle Gedächtnis der Bundesrepublik: von der Führung mißbraucht und vom Krieg gebrandmarkt.

In den seltenen Fällen, in denen Leningrad in bundesdeutschen Darstellungen zum Zweiten Weltkrieg erwähnt wurde, standen nicht die Ereignisse in der belagerten Stadt im Mittelpunkt. Leningrad diente vielmehr als Symbol für ganz andere Narrative, die mit der Blockade unmittelbar nur wenig zu tun hatten. So betonten ehemalige Wehrmachtgeneräle in ihren Erinnerungen die vermeintliche Distanz zwischen Wehrmacht und Nationalsozialismus. Stets machten sie Hitler allein für die Verbrechen und die strategischen Fehler des Krieges verantwortlich. Die militärischen Erfolge dagegen schrieben die Militärs ihrer eigenen Führung und dem Einsatz der Truppe gut. Eine Vorreiterrolle kam hier Erich von Manstein zu. In seinen Erinnerungen repräsentiert die Newametropole einen der zahlreichen „verlorenen Siege". Hitler habe mit seinem Befehl, die auf Leningrad vorrückende Panzergruppe 4 anzuhalten, die Chance zur Einnahme Leningrads leichtfertig verspielt. Walter Chales de Beaulieu, der als Stabschef von Generaloberst Erich Hoepner mit der Panzergruppe 4 im Herbst 1941 vor Leningrad war, schildert Hitler ebenso als Saboteur der deutschen Kriegführung. Er hebt hervor, daß sich Hoepner gegebenenfalls über das Verbot Hitlers hinweggesetzt hätte und nach Leningrad hineingegangen wäre, wenn sich damals nur eine Möglichkeit geboten hätte. Um sein Kriegshandwerk ordentlich auszuüben, so sollte der Leser dieses Buches schlußfolgern, hätte man sich eigentlich den Befehlen Hitlers widersetzen müssen.

Die frühen Gesamtdarstellungen zum Zweiten Weltkrieg schlugen häufig den Weg ein, den die Memoiren der Militärs vorgegeben hatten. Auch sie betonten, daß der Verzicht auf die Einnahme Leningrads eine einsame Entscheidung Hitlers gewesen sei. Der Haltebefehl vor Leningrad wird meist als paradigmatisch für eine insgesamt „unvernünftige" Kriegführung Hitlers interpretiert. Davon setzte sich die Wehrmachtführung ab, die rational und nüchtern ihr Kriegshandwerk verrichtet und den abenteuerlichen Entscheidungen Hitlers letztlich nicht mehr habe folgen können. Auf diese Weise distanzierten sich die Militärs nach dem Krieg sowohl vom Nationalsozialismus als auch von der totalen Niederlage. Sämtliche Meinungsverschiedenheiten zu operativen und politischen Fragen stilisierten sie zu einem tiefen, grundsätzlichen Widerspruch zwischen Hitler und der Wehrmacht. Leningrad kam in dieser Erinnerung nur der Platz eines Beispiels unter vielen zu.

Zahlreiche Historiker sind dieser Darstellung bereitwillig gefolgt. Die Vertreter einer Nationalgeschichte sahen im Nationalsozialismus grundsätzlich einen Bruch in der deutschen Geschichte, ja kennzeichneten ihn sogar als „undeutsch" oder „geschichtslos". In dieses Bild fügte sich auch die Interpretation, das Militär habe sich von dieser „satanischen Verfälschung echter deutscher Tradition" weitgehend rein halten können. Von den störenden Einmischungen Hitlers und den Verbrechen der SS abgesehen, habe die Wehrmacht einen gewöhnlichen Krieg geführt. Somit konnte auch die Belagerungsstrategie vor Leningrad nicht Bestandteil der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik sein, sondern mußte als „normales Kriegshandwerk" gelten. In diesem Narrativ wird deshalb nicht mehr betont, daß die Wehrmacht die Stadt eigentlich hätte besetzen können, wären die vorrückenden Verbände nicht durch einen Anhaltebefehl gestoppt worden. Vielmehr habe die Wehrmacht nur deshalb zum Mittel der Aushungerung gegriffen, weil sie die Stadt nicht habe einnehmen können. In diesen Kontext ist auch die bereits im ersten Kapitel zitierte Wertung von Joachim Hoffmann einzuordnen, bei der Blockade habe es sich um eine „gebräuchliche und unbestrittene Methode der Kriegführung" gehandelt. Als Rechtfertigung dieser Strategie dient häufig der Hinweis auf die Wehrhaftigkeit der Leningrader Zivilbevölkerung. Nicht das Leid der hungernden Menschen wird thematisiert, sondern deren „fanatischer Widerstandswillen" hervorgehoben. Die Leningrader erscheinen in diesem Narrativ nicht als Opfer der deutschen Belagerungsstrategie, sondern als Kombattanten auf seiten der Roten Armee.

Das zweite zentrale Narrativ in der Erinnerung an die Belagerung Leningrads stilisierte den deutschen Landser zum eigentlichen Opfer der Schlacht um Leningrad: Er mußte gegen einen personell und materiell überlegenen Gegner kämpfen, die Fehler einer unzulänglichen Führung ausbaden und die Unwirtlichkeit des nördlichen Rußlands ertragen. Die existentiellen Erfahrungen des Frontalltags stehen auch im Zentrum der wenigen literarischen Verarbeitungen der Kämpfe vor Leningrad. Das wohl bedeutendste Beispiel ist der Roman „Die Stalinorgel" von Gert Ledig. Die Handlung des Buches spielt im Sommer 1942 rund 40 Kilometer südlich von Leningrad. Die Stadt selbst kommt in dem Roman allerdings überhaupt nicht vor. Vielmehr beschreibt der Autor die Brutalität des Stellungskrieges, der am nördlichen Frontabschnitt über zwei Jahre tobte. Die Kämpfe werden aus der Perspektive der Frontsoldaten beider Seiten geschildert, die den Krieg als Martyrium erleben und letztlich von ihrer jeweiligen Führung betrogen werden. Weitere populäre Darstellungen des Zweiten Weltkrieges finden sich in den diversen „Landser"-Heften. Auch in den dort abgedruckten Erzählungen treten die deutschen Soldaten in erster Linie als Opfer auf. Doch während der Krieg in Ledigs Roman als Hölle geschildert wird, der alle Beteiligten nur entkommen wollten, erscheint er hier mitunter als Abenteuer, in dem der einzelne seine Tapferkeit und seinen Heldenmut beweisen konnte. Diese verklärende Darstellung räumt der belagerten Stadt keinen Platz ein, auch wenn sie die Schlacht vor Leningrad zu schildern vorgibt. Damit wird die Handlung von ihrem historischen Ort losgelöst. Die Geschichten sind austauschbar und könnten an jedem beliebigen Abschnitt der deutsch-sowjetischen Front spielen.

Die Erinnerung an die Belagerung Leningrads verlief also entlang der zentralen Narrative der deutschen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Die Integration in den allgemeinen Kanon war jedoch nur möglich, indem beide Narrative die Besonderheiten der Blockade - ihre Funktion als Mittel des Genozids und den mehr als zweijährigen Überlebenskampf einer Großstadtbevölkerung - ausblendeten. Indem man das historische Ereignis jedoch seiner Spezifika beraubte, konnten die persönlichen Erinnerungen der Soldaten an die Belagerung nicht zu symbolischen Formen gerinnen und ein Teil des deutschen kulturellen Gedächtnisses werden.

Statt dessen wurde Stalingrad zum zentralen Erinnerungsort des deutsch-sowjetischen Krieges, das im Gegensatz zu Leningrad in unzähligen Romanen, Filmen und Zeitungsartikeln in der Öffentlichkeit seit den fünfziger Jahren präsent war. Diese Rolle wuchs Stalingrad deshalb zu, weil die Niederlage der 6. Armee an der Wolga alle Elemente der westdeutschen Kriegserinnerung in idealtypischer Weise in sich vereinigte. Zum einen spiegelte die differierende Lagebeurteilung während der Schlacht durch die Armeeführung einerseits und durch das Führerhauptquartier andererseits den vermeintlichen Antagonismus zwischen Wehrmacht und Nationalsozialismus wider. Der Haltebefehl und die Versprechen Hitlers, den Kessel über eine Luftbrücke zu versorgen, waren bereits von vielen Zeitgenossen als Illusion erkannt worden. Der Führerbefehl an die 6. Armee, sich einzuigeln und „bis zur letzten Patrone" zu kämpfen, symbolisierte sowohl die Überheblichkeit eines in Operationsfragen inkompetenten Hitler als auch die Rücksichtslosigkeit des fanatischen Weltanschauungstäters gegenüber den eigenen Soldaten. Gegen dieses Bild hob sich die Wehrmacht in der Eigenwahrnehmung als eine hochprofessionelle Armee ab, der es lediglich darum ging, einen ihr auferlegten Krieg erfolgreich zu führen. Aus Sicht der einfachen Soldaten änderte an dieser Wahrnehmung auch nichts, daß General Paulus die sinnlosen Haltebefehle Hitlers weitergab und anderslautende Einschätzungen aus der eigenen Armeeführung nicht beachtete. Man sah sich vielmehr allgemein von der politischen und militärischen Führung in ein Inferno geworfen und dort im Stich gelassen.

Hieran knüpft das zweite zentrale Element der deutschen Kriegserinnerung an: Stalingrad entwickelte sich auch zum zentralen Opfernarrativ des deutschen Soldaten. Hatte die nationalsozialistische Propaganda die Angehörigen der 6. Armee noch als Helden dargestellt, änderte sich das Bild nach Kriegsende grundlegend. Nach wie vor wurde zwar betont, daß die Soldaten tapfer einer feindlichen Übermacht getrotzt hatten, doch im Zentrum standen nun der Hunger und die Kälte, welche die Landser im Kessel von Stalingrad auszuhalten hatten. In Zeitungsberichten und Fernsehdokumentationen dominierten Bilder von ausgemergelten und halberfrorenen deutschen Soldaten ebenso wie auf dem Kinoplakat zu Joseph Vilsmaiers Spielfilm „Stalingrad". Da die 6. Armee in Stalingrad tatsächlich von der deutschen Führung „verheizt" wurde und die Wehrmachtsoldaten im Kessel unter den extremen Entbehrungen litten, eignete sich Stalingrad wie keine andere Schlacht des Zweiten Weltkriegs zu einem Symbol, an das sich die Kriegserinnerung der Deutschen heften konnte.

60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich die deutsche Erinnerung gegenüber der unmittelbaren Nachkriegszeit gewandelt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion rückten nun verstärkt auch die Leiden des Kriegsgegners in das Bewußtsein der Westdeutschen. Seit dem Beginn der neunziger Jahre wird in Fernsehdokumentationen, Ausstellungen und wissenschaftlichen Untersuchungen regelmäßig der Frontalltag der Belagerer wie das Leid der belagerten Leningrader thematisiert.

Dieser Wandel im deutschen Gedächtnis hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß die bislang getrennten Formen der Erinnerung in Ost und West zusammengeführt werden. In der DDR war die Erinnerung an Leningrad einerseits stark vom sowjetischen Heldenepos geprägt, andererseits durch den staatlich verordneten Antifaschismus zum Symbol im Klassenkampf zwischen Sowjetmacht und Großkapital erhoben. Für Heinz Bergschicker waren Hitlers Zerstörungsabsichten sogar der Beweis dafür, daß das „Dritte Reich" in seinem Krieg gegen die Sowjetunion nicht von rassistischen Motiven geleitet war:

Für eine weitere Kampagne zur ,Ausrottung von Juden und Asiaten' schließlich war die Leningrader Nachkommenschaft des rein germanischen Wikingers Rurik auch kein passendes Objekt. Hitlers Plan lieferte den zynisch-eindeutigen Beweis dafür, daß die Wehrmacht hier zum Instrument eines Klassenkampfes auf Leben und Tod geworden war, den die heimlichen Herren Deutschlands, die Großindustriellen und Bankiers, gegen die sozialistische Stadt führten. Ein wieder zum Kapitalismus bekehrtes Leningrad konnten sich selbst Europas Neuordner nicht vorstellen."

Die deutsche Belagerungsstrategie belegt in dieser Interpretation den klassenkämpferischen Charakter des deutsch-sowjetischen Kriegs und zeigt zugleich die angebliche Unumkehrbarkeit des geschichtlichen Fortschritts marxistischer Lesart. Nach seiner sozialistischen Erfahrung könne Leningrad nie wieder eine kapitalistische Stadt werden.

Trotz dieser ideologisch stark überzeichneten Narrative, die in der Kriegserfahrung der Deutschen in keiner Weise verankert waren, hat sich die Belagerung Leningrads ins kulturelle Gedächtnis der Ostdeutschen tiefer eingeprägt, als es im Westen der Fall war. Da der schwere Blockadealltag der Leningrader schon in der Schule behandelt wurde und auch den Stoff für eine Reihe von Jugendbüchern lieferte, war tatsächlich jeder Bürger der DDR mit der Leidensgeschichte des belagerten Leningrads vertraut.

Die Erinnerung an die Belagerung Leningrads in Ost und West könnte auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein. Während die Blockade in der Sowjetunion und in der DDR zu einem herausragenden Heldenepos des Zweiten Weltkriegs verklärt wurde, erfuhr sie in der Bundesrepublik eine Marginalisierung zu einer gewöhnlichen Militäroperation, die sich durch keinerlei besondere Kennzeichen von anderen Schlachten des Krieges abhob. Bei allen Unterschieden haben diese beiden Narrative jedoch eines gemeinsam: Sie blenden beharrlich aus, daß die deutsche Strategie vor Leningrad schon bald nicht mehr darauf abzielte, die Stadt zu erobern. Als Genozid an den Leningradern wurde die Geschichte von keiner Seite erzählt.“

 

Leningrad heute

 

Vor 75 Jahren endete nach fast 900 Tagen die Belagerung von Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, durch die deutsche Wehrmacht. Anlässlich des Jahrestages kündigte die Bundesregierung an, die heute noch lebenden Opfer der Blockade mit einer "humanitären Geste" entschädigen zu wollen.

Zwölf Millionen Euro sollen entweder direkt den Überlebenden zu Gute kommen oder in Institutionen wie ein Krankenhaus für russische Kriegsveteranen und in ein neues deutsch-russisches Begegnungszentrum fließen. Dies sei ein Zeichen der Anerkennung der Verantwortung für das im deutschen Namen begangene Unrecht jener Jahre, hieß es aus dem Auswärtigen Amt. In einer gemeinsamen Erklärung von Bundesaußenminister Heiko Maas und seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow heißt es:

"Heute vor 75 Jahren wurde Leningrad, das heutige St. Petersburg, durch sowjetische Truppen von der Blockade durch die deutsche Wehrmacht vollkommen befreit, die in die Geschichte als ein brutaler Akt gegen eine ganze Stadt und ihre Bevölkerung eingegangen ist. Damit endete eine 872 Tage dauernde Zeit des Sterbens, des Hungerns und Leidens, während der mehr als eine Million Menschen den Tod fanden."

Die Entschädigung werde dazu beitragen, dass sich "die Lebensqualität der noch lebenden Blockadeopfer verbessern wird", lautet es in der Erklärung weiter. Zudem diene die Geste Deutschlands der "historischen Aussöhnung der beiden Länder" und bilde eine Grundlage für die künftigen bilateralen Beziehungen.“

https://www.tagesschau.de/inland/leningrad-blockade-entschaedigung-101.html

Das ist für den Wurm überraschend. Zum Einen war Heiko Maas nun nicht gerade als großer Freund der Russen bekannt, siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/326-gut-gestylter-nato-strichjunge.html, zum Andern möchte der Wurm an das schäbige Verhalten der deutschen Politik und der deutschen Eliten zum letztjährigen Gedenken an „75 Jahre Stalingrad“ erinnern:

„Dass kein Vertreter der deutschen Regierung zum Gedenken an 75 Jahre Stalingrad zur Mahnung an den Frieden dabei war sowie die bösartigen Reaktionen aus deutscher Politik und Medien lassen das Schlimmste für die nahe Zukunft befürchten …

Ulrich Heyden: „Zu einer Diskussion in der gesamten Gesellschaft über die Verbrechen an der Ostfront und den Hungertod von über drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen kam es in Deutschland nie, im Gegensatz zum Holocaust, über den seit Anfang der 1980er Jahre offen und immer stärker gesprochen und publiziert wurde. Die Zahl von 27 Millionen Toten auf Seiten der Sowjetunion (davon 15 Millionen Tote auf Seiten der sowjetischen Zivilbevölkerung) wird in deutschen Medien selten genannt. Dass die Intellektuellen in Deutschland heutzutage lieber über die Opfer der Stalin-Herrschaft sprechen, obwohl die Opferzahl unter Stalin viel geringer war, zeigt, dass die Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges in Deutschland viel zu früh beendet wurde.

Aus persönlichen Gesprächen weiß ich, wie die Russen (auch die jüdischen Russen) es schmerzt, dass wir Deutsche viel Mitgefühl für die Juden und Israel haben, die Leiden der Russen und anderer Sowjetvölker im Zweiten Weltkrieg aber nicht kennen oder vergessen haben.

Meine Gesprächspartner vergleichen und fragen, warum habt ihr so wenig Mitgefühl mit unserem Leiden während des Zweiten Weltkrieges?“

https://www.rubikon.news/artikel/woher-dieser-hochmut

Gert Ewen Ungar: „Gegenüber Russland gibt es keinerlei sich aus der gemeinsamen Geschichte ableitende Verpflichtung. Weder aus der Befreiung vom Faschismus noch aus der Wiedervereinigung, wie man an der Osterweiterung der NATO deutlich sehen kann. Wir ziehen keine historischen Lehren. Weder aus dem in einem verabscheuungswürdigen Rassismus wurzelnden Generalplan Ost, der den deutschen “Herrenmenschen” durch Ermordung und Versklavung der slawischen “Untermenschen” Lebensraum im Osten erschließen sollte, noch aus dessen faktischer Umsetzung wie der Belagerung von Leningrad, bei der die Stadt nicht zum Aufgeben, sondern die Einwohner zum Verhungern gebracht werden sollten, ergibt sich für die Bundesregierung eine historische Verantwortung. Stattdessen scheint es, als wäre genau diese rasseideologisch begründete deutsche Überheblichkeit, die zu einer nahezu unermesslichen Zahl an Toten geführt hat, wieder groß en vogue …

Doch in solchen Artikeln des Mainstreams wird auch deutlich, wie tief die Ressentiments gegen Russland sitzen. An diesem Gedenkwochenende wurde wieder einmal deutlich, wie tief eingeschrieben in die deutsche Kultur das ist, was den Generalplan Ost aber auch das aktuelle Russland-Bashing des Mainstreams und die beschämende Verweigerungshaltung der Bundesregierung gegenüber ihrer historischen Verantwortung möglich macht. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde viel aufgearbeitet, die in einer kruden Rasseideologie gipfelnde Idee der Überlegenheit der Deutschen gegenüber den Slawen, insbesondere den Russen jedoch nur ungenügend.

Sie lässt sich allzu einfach reaktivieren, wovor der Mainstream in seiner Propagandawut aktuell reichlichen Gebrauch macht. Und sie bleibt unwidersprochen. Während es ganz einfach ist, sich die Attribute antisemitisch, antiamerikanisch oder homophob einzufangen, sind es oftmals gerade jene selbsternannten Tugendwächter, die im Hinblick auf Russland kein Tabu kennen und ihren antirussischen Gefühlen völlig freien Lauf lassen. Dass diejenigen, die sich sonst für Vielfalt, Buntheit und Gendergerechtigkeit einsetzen, im Hinblick auf Russland all diese Grundsätze und Haltungen über Bord werfen, zeigt, wie wirkmächtig der rassistische Mechanismus auch heute noch ist.

Die irrwitzige Lehre von der eigenen Überlegenheit ist nach wie vor wirksam und zeigt sich bei derartigen Gelegenheiten wie dem Gedenktag des Endes der Schlacht von Stalingrad in aller Klarheit: in der Berichterstattung darüber und in der geschichtlichen Ignoranz der deutschen politischen Kaste. Dabei könnte keine Nation der Welt besser wissen, dass es eine anlasslose Aggression Russlands nicht gibt, als die deutsche. Kein Land in der EU könnte mit seiner Geschichte ausgleichender wirken als Deutschland. Doch es macht von seiner Möglichkeit, aus einer historischen Verantwortung heraus Frieden zu stiften, keinen Gebrauch, sondern reaktiviert und bedient im Fall von Meinungsunterschieden tief in die Kultur eingeschriebene Ressentiments, um so zu eskalieren. Das ist die Schande Deutschlands. Sie zeigte sich am vergangenen Wochenende wieder in aller Deutlichkeit.“

https://deutsch.rt.com/meinung/64821-umgang-mit-stalingrad-moralische-bankrotterklarung-bundesregierung-rassenideologie-ressentiments/

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/317-stalingrad.html

Sollte ein Jahr später ein Umdenken stattgefunden haben? Es wäre bitter notwendig.

 

 

 

Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm