Erster und größter Naturforscher aller Zeiten

Mensch frage im westlichen Kulturkreis aufgewachsenen Menschen, welche Gemälde er kennt. Mona Lisa“ und „Das Abendmahl“ werden mit Sicherheit dabei sein. Beide von Leonardo da Vinci, der vor 500 Jahren starb.

Umso erstaunlicher, als die Malerei nur eine von mehreren Beschäftigungen war, denen Leonardo nachging. Sein Wert für die Menschheit liegt mit Sicherheit nicht in der Malerei, sondern in der Wissenschaft: für viele gilt er als „erster und größter Naturforscher aller Zeiten“.

 

Leonardo

 

Leonardo war seit jeher ein Außenseiter der Gesellschaft und wurde damit nicht ernst genommen. Als unehelicher Sohn eines Vaters, der ihn zwar förderte, aber nicht so wie seine „legitimen“ Söhne, als in die Zukunft blickender Praktiker von den gebildeten, in schönstem Latein und Griechisch parlierenden „Humanisten“, als Künstler von jenen, die ihn bezahlten. Es war für ihn besser, seinen Atheismus und seine Homosexualität nicht allzu sehr herauszustellen.

Kurzum: Leonardo kannte die Menschen und verachtete sie entsprechend.

Offensichtlich konnte er es sich leisten, sein eigenes Ding zu machen. Auftragsarbeiten machte er nicht immer fertig; teilweise nimmt er sich Freiheiten heraus, die entgegen den Vereinbarungen waren.

Er war experimentierfreudig, arbeitete gründlich und langsam und bezeichnete Ungeduld als Urgrund aller Dummheit. Dass er nicht alles zu Ende brachte, mag daran liegen, dass es ihm in erster Linie ums Verstehen ging. Wusste er, wie etwas geht, war der Zweck erfüllt – und fertig stellen kostete für ihn dann nur noch unnötig Zeit.

Politisch hat er nie Position bezogen und hat sich stets geweigert, Tiere zu töten oder zu verletzen.

Wenn nicht anders angegeben, stammen die folgenden Zitate aus dem Buch „Leonardo da Vinci – Das Auge der Welt“ von Volker Reinhardt, das der Wurm wärmstens empfehlen kann. Unter anderem deshalb, weil Volker Reinhardt sich nichts ausmalt, sondern sich streng an die Fakten hält.

Leonardo, der Naturforscher, hatte oft den Tod von Tieren und Menschen vor Augen, und gerade deshalb verabscheute er das Töten, das ebenfalls zum natürlichen Leben gehörte: „Der Mensch und die Tiere sind in Wirklichkeit eine Durchgangsstation und ein Rohr der Nahrung, Grab für Tiere, Herberge der Toten, und sie machen aus dem Tod des Anderen Leben für sich selbst, und sich selbst machen sie damit zur Hülle der Verwesung.“ Diese abstoßende Verwandlung von fremdem Tod in eigenes Leben hat Leonardo konsequent verweigert: Er tötete und verzehrte keine anderen Lebewesen. Damit stellte er sich außerhalb der Natur und ihres Zyklus von Fressen und Gefressenwerden ...“

 

Dokumentation der Natur

 

„In dieser Zeit hinausgezögerter, verschleppter und nicht zu Ende verfolgter Aufträge begann Leonardo damit, „Hefte“ anzulegen und sie mit Zeichnungen und Kommentaren zu seinen Beobachtungen und Untersuchungen zu füllen. Viele dieser Manuskripte haben den Charakter von Notizblöcken oder ähneln schnell hingeworfenen Skizzenbüchern. Die Fülle der angeschnittenen Themen ist groß, doch fehlt es auch nicht an längeren und geschlosseneren Abhandlungen, vor allem zu bevorzugten Gegenständen wie dem Adel der Malerei oder dem Flug der Vögel. Diese von jetzt an bis zu seinem Tod nicht mehr abreißende Forscher- und Dokumentationsarbeit, die für die Nachwelt den eigentlichen Leonardo ausmacht und seinen Mythos begründete, war für die Zeitgenossen eine seiner vielen Seltsamkeiten und Schrulligkeiten oder sogar, siehe Vasari, eine schuldhafte Verschwendung von Genie. In diese Aufzeichnungen fließen gelegentlich Anmerkungen zu persönlichen Verhältnissen oder Veränderungen im Haushalt ein, die jedoch nur selten datiert werden. Eine strikte Chronologie dieser Manuskripte zu erstellen, ist daher unmöglich. Die wenigen tagebuchartigen Einträge, die Entwicklung des Zeichenstils, die Abfolge der Forschungsfelder, die Entfaltung von Ideen und der Wandel von Erklärungsmustern erlauben es immerhin, eine grobe zeitliche Zuordnung vorzunehmen.

Leonardo war sich der unsystematischen Anlage seiner Studien und Untersuchungen wohl bewusst und träumte immer wieder davon, diese zu einem geordneten Kompendium zusammenzustellen - von 120 solchen Bänden ist an einer Stelle sogar die Rede. Doch dazu ist es nie gekommen. Gewissermaßen als Ersatz für eine Ausgabe letzter Hand hat Francesco Melzi, Leonardos adeliger Page der letzten Lebenszeit, Jahrzehnte nach dem Tod seines verehrten Meisters die Ausschnitte aus dessen gewaltigem Nachlass zusammengestellt, die im weitesten Sinne von Kunsttheorie und -praxis handeln. So kam eine erste Fassung des später berühmten „Traktats“ über die Malerei zustande, der im Gegensatz zu seinem Titel keine kohärente, in sich geschlossene Abhandlung ist, sondern eine Kompilation inhaltlich verwandter Textstellen, wie durch die zahllosen Wiederholungen und Wiederaufnahmen bereits niedergelegter Gedankengänge unschwer zu erkennen ist. Melzi war es auch, der Leonardos künstlerischen und intellektuellen Nachlass in seiner Gesamtheit erbte und bis zu seinem Tod um 1570 pietätvoll bewahrte. Seine Nachkommen hielten an dieser Geisteshaltung jedoch nicht fest, sondern verstreuten die Manuskripte in alle Winde. Wieviel von dieser Hinterlassenschaft heute erhalten ist, lässt sich nicht sicher abschätzen; davon unbenommen ist der erhaltene Bestand imposant genug.

Bei aller thematischen Vielfalt sind Leonardos „Notizbücher“ und sonstige Manuskripte durch ein übergeordnetes Ziel verklammert: Sie wollen die Welt mit den Mitteln der Erfahrung, das heißt: durch die intensive Beobachtung ihrer Erscheinungsformen, katalogisieren und interpretieren und auf diese Weise die Kräfte erfassen, die alle Hervorbringungen der Natur durchdringen und beleben. Dabei werden die Grenzen des Lebendigen weit gezogen, von den Gesteinen und Mineralien über die Pflanzen zu den Tieren und dem Menschen, dem rätselhaftesten und doppeldeutigsten aller Lebewesen. Leonardo folgte dabei lange Zeit der traditionellen Denkfigur, dass sich Makrokosmos und Mikrokosmos, die große und die kleine Welt, also die Beschaffenheit der Erde und des Menschen, entsprechen. Diese Vorannahme der Analogien im Großen und Kleinen fand in Leonardos Erforschung der Natur vielfachen Niederschlag. So sah er das Gewässersystem der Erde in direkter Analogie zum Adernetz des menschlichen Körpers. Erst nach Jahrzehnten intensiver Untersuchungen sollte Leonardo diese Prämissen infrage stellen und schließlich verwerfen. Eine neue, alternative Gesamttheorie anstelle der für untauglich befundenen Prinzipien hat er jedoch nicht entwickelt. Durch zahllose Beobachtungen der Natur im Großen wie im Kleinen gewann er allmählich die Einsicht, dass es eine solche Generalerklärungsformel nicht gibt. Seine Suche nach den Kräften, die die Welt zu immer neuer Zeugung und Zerstörung anhalten, blieb daher am Ende offen und unvollständig. Aus heutiger Perspektive liegt in dieser fragmentarisch zerstreuten Anlage der einzigartige Rang und Reiz von Leonardos Weltbestandsaufnahme: Jede Erscheinung der Natur, mochte sie noch so unbedeutend anmuten wie der Aufbau einer Blüte oder die Schichtung von Gebirgsgestein, wird mit unersättlichem Erkenntnisdrang hinterfragt, katalogisiert und in Beziehung zu ähnlichen Phänomenen gesetzt. Die zu seiner Zeit so hoch gehandelten Erklärungsmuster der antiken Autoritäten von Aristoteles bis Galen werden berücksichtigt, wenn sie mit der eigenen Beobachtung übereinstimmen, doch im Fall von Divergenzen, die sich im Laufe von Leonardos Studien häufen, zugunsten der Empirie verworfen. Im Zuge seiner Untersuchungen zeichnete sich für Leonardo ab, dass nur eine neue, auf „Mathematik“, also auf präziser, nicht zuletzt quantitativer Registrierung der Naturphänomene, beruhende Methode weiterführen kann. Dass diese Methode durch Experimente und deren Auswertung untermauert und erweitert werden muss, ist ebenfalls eine Frucht dieser empirisch gewonnenen Erkenntnisse. Zu solchen Experimenten gehörte allerdings auch das freie, oft spekulative Weiterdenken nach dem Muster der Analogie: So und nicht anders muss ein Glied des menschlichen Körpers nach dem Vorbild der Natur funktionieren. Weiter reichen Leonardos theoretische Überlegungen nicht. „Mathematik“ ist für ihn letztlich ein Synonym für präzise Bestandsaufnahme, die Ableitung von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten war darin nicht eingeschlossen.

Das maßgebliche Organ, mit dem er die Welt erforschte, war für Leonardo das Auge, der Sinn, über den sich die Seele des Menschen beherrschen lässt. Nicht zuletzt deshalb blieb ihm die Abstraktion mit der Aufstellung allgemeingültiger Formeln weitgehend verschlossen. Ihm diese „Beschränkung“ vorzuwerfen, ist so unhistorisch, wie ihn zum Propheten einer Technologie zu überhöhen, die sich erst seit dem späten neunzehnten Jahrhundert unter radikal gewandelten kulturellen, sozialen und ökonomischen Vorzeichen entfaltet hat. Leonardos Lebensleistung ist auch ohne dieses falsche Pathos unvergleichlich. Ihre Einzigartigkeit gewinnt sie nicht zuletzt durch die polemische Auseinandersetzung mit einer Gegenwart, die im Gegensatz zu ihm die Welt für ausreichend entschlüsselt hält und daher die ungeheure Aufgabe, der er sich widmet, nicht einmal erkennt, geschweige denn als gerechtfertigt oder gar notwendig ansieht.“

„Leonardo wäre nicht Leonardo gewesen, wenn er sich mit den Zitaten berühmter Modelle begnügt hätte. Er ging den prestigeträchtigen Auftrag auf seine Weise an: mit ausgedehnten Studien zu dem eigentlich untergeordneten, ja dienenden Teil des Monuments, dem Pferd. Diese empirischen Studien entsprangen seiner Überzeugung, dass die Natur bislang unvollkommen erforscht sei; das galt für Gesteine, Fossilien, Pflanzen, Tiere und Menschen, und damit auch für das Pferd, die in Leonardos Augen vielleicht faszinierendste Kreatur auf Erden. Um ein Pferd so zu modellieren und danach in Bronze zu gießen, dass es seine herausragenden Eigenschaften angemessen verkörperte und zugleich die Emotionen des Betrachters beherrschte, musste es von Grund auf neu untersucht werden: mit seinen Bewegungen, aber auch mit seinen seelischen Regungen, wie sie in Kopf und Gliedern zum Ausdruck kommen.“

„Darf man Leonardo, den überzeugten Vegetarier, als Urahn der ökologischen Bewegungen vereinnahmen? Für ihn braucht die Erde Schutz vor dem Menschen, der sie in seinem krankhaften Größenwahn zerstört, während für seine Zeitgenossen umgekehrt der Mensch den Urgewalten der Natur ausgeliefert war und sie zähmen musste. Doch die Natur zu idyllisieren war nicht Leonardos Sache, das unterscheidet ihn von der Natursicht und dem Menschenbild des einundzwanzigsten Jahrhunderts. „Eine Auster, die zusammen mit Fischen von einem Fischer in dessen Haus abgeladen worden ist, bittet die Ratte, sie zum Meer zurückzubringen. Die Ratte öffnet sie mit der Absicht, sie zu fressen, doch als sie die Auster beißt, quetscht diese den Kopf der Ratte ein und hält sie fest. Kommt die Katze und tötet sie.“ Die Moral der kurzen Fabel ist wiederum: Fressen oder gefressen werden, so lautet das Gesetz der Natur.“

 

Tiere

 

„Vor allem aber musste der kühne Pilot die Beschaffenheit der Luft für sich nutzen: „Ein Stoff bietet der Luft so viel Widerstand wie die Luft dem Stoff. Sieh, wie das Flügelschlagen gegen die Luft den schweren Adler hoch in die dünne, dem Element des Feuers nahe Luft emporträgt. Und sieh auch, wie die Luftbewegung über dem Meer Schiffe mit schweren Lasten mit geblähten Segeln schnell fahren lässt. Durch diese Belege und die daraus gezogenen Beweise kannst du erkennen, dass ein Mensch mit richtig angebrachten großen Flügeln den Widerstand der Luft besiegen und unterwerfen und sich in die Luft schwingen kann.“

Die Kunst des Fliegens bestand also darin, den Menschen so weit wie möglich zum Fledermaus-Vogel zu machen. „Der Vogel ist ein Instrument, das nach mathematischen Gesetzen funktioniert, und der Mensch ist in der Lage, ein solches Instrument mit seinen Bewegungen nachzubauen, doch nicht mit ebenso viel Kraft; diese fehlt allein zum Aufrechterhalten des Gleichgewichts. So kann man sagen, dass einem solchen vom Menschen hergestellten Instrument nur die Seele (anima) des Vogels fehlt, und diese Seele muss von der Seele des Menschen nachgemacht werden. Die Seele in den Gliedern der Vögel wird zweifellos seinen Bedürfnissen besser entsprechen als die von diesen Gliedern getrennte Seele des Menschen, vor allem in den nahezu unsichtbaren Bewegungen zur Wahrung des Gleichgewichts.“ Fliegen wie ein Wesen der Lüfte wird der Mensch also nie können. Aber die sichtbaren Bewegungen dieser Wesen kann der Mensch wahrnehmen und dadurch die Seele, das heißt: ihr Lebens- und Bewegungsgefühl, zumindest nachahmen und nachfühlen.

Ein Vogel ist also mehr als ein Flugapparat der Natur, er hat eine eigene Seele, und das heißt: ein eigenes Leben, eigene Bedürfnisse und damit ein Lebensrecht, das dem des Menschen ebenbürtig ist. Von der Auffassung des Philosophen Rene Descartes (1596-1650), dass Tiere gefühllose Maschinen seien und daher lebendig seziert werden dürften, war Leonardo Welten entfernt …

Hinter den technischen Problemen trat eine entscheidende, so gut wie nie gestellte Frage ganz in den Hintergrund: Wozu sollte die ganze Übung eigentlich gut sein? Ein Nutzen war aus der Flugfähigkeit des Menschen nicht abzuleiten. Das Argument, dass dem Erfinder nebst dessen Heimatort großer Ruhm winkte, hatte Leonardo in seinen Rätseln und Fabeln gründlich entzaubert; ein großer Ruf unter den Menschen war demnach alles andere als erstrebenswert. Das könnte eine Bescheidenheitsfloskel sein, doch zum Bild des ersten großen Erforschers der Natur, das Leonardo für sich konstruierte, passte der Ruf des Entdeckers noch besser als der des Erfinders. Zu wissen, wie der Mensch fliegen könnte, war für ihn daher wichtiger als das Fliegen selbst …

Der Ingenieur will die Welt mit seinen Errungenschaften verändern, Leonardo aber wollte sie mit seinen der Natur abgeschauten Apparaturen verstehen.“

 

Pflanzen

 

„Leonardos Interesse an Pflanzen hatte mit alldem nichts gemein. Seine botanischen Zeichnungen, die in einem Vierteljahrhundert zwischen den 1480er-Jahren und dem letzten Lebensjahrzehnt entstehen, werden zu einer Revolution, denn sie zeigen Blumen und Büsche als Lebewesen, beseelt von einer Lebenskraft, wie sie auch Tieren und Menschen eigen ist. Sie sind empirische Studien, die diese Kraft zu bannen und mit ihren Wirkungen zu erfassen suchen. Wie schon beim Menschen und speziell beim Embryo faszinierte Leonardo das Phänomen des Wachstums. Seine ersten Beobachtungen sind noch recht einfach: „Alle Blumen, die die Sonne sehen, bilden ihren Samen aus, die anderen hingegen nicht, das heißt: diejenigen, die nur einen Wiederschein der Sonne empfangen.“ Die chemischen Vorgänge der Photosynthese wurden erst viel später entschlüsselt, doch das Prinzip ist hier erfasst: Blütenpflanzen benötigen im Gegensatz zu Farnen und Moosen viel Licht. Die Kräfte, die Pflanzen zum Wachsen brachten, ließen sich an Büschen und Bäumen am deutlichsten beobachten: „Die unteren Austriebe von Baumzweigen wachsen stärker als die oberen, und zwar deshalb, weil die Flüssigkeit (umore), die sie nährt, schwer wie sie ist, leichter nach unten als nach oben dringt und weil die Austriebe, die nach unten wachsen, sich vom Schatten abwenden, der sich in der Mitte der Pflanze konzentriert.“ Ebenso bemerkenswert wie die Beobachtung ist die Sprache, in die sie gefasst wird: Die Pflanzen „sehen“ und entwickeln einen eigenen Willen zum Licht und zum Wachstum. Dabei sind diejenigen „Individuen“ - Botaniker benutzen diesen Ausdruck bis heute, wenn sie von einzelnen Pflanzen sprechen - im Vorteil, die den direktesten Weg nehmen: „Die Pflanze, die die kleinste Verzweigung hervorbringt, wird ihr Wachstum auf der geradesten Linie verfolgen.“

Das Austreiben und Gedeihen im Pflanzenreich faszinierte Leonardo so, dass er zu eigenen Experimenten schritt: „Wenn die Spitzen der Pflanzenzweige nicht von Früchten niedergedrückt werden, drehen sie sich so weit wie möglich zum Himmel. Die oberen Seiten ihrer Blätter wenden sich dem Himmel zu, um die Nahrung des Taus zu empfangen, der in der Nacht auf sie fällt. Die Sonne gibt den Pflanzen Geist und Leben, und die Erde nährt sie mit Feuchtigkeit. In diesem Zusammenhang machte ich einen Versuch: Ich ließ einem Kürbis nur eine einzige winzige Wurzel und nährte diese mit Wasser, und dieser Kürbis brachte alle Früchte, die er erzeugte, zur Vollendung, und das waren immerhin an die sechzig lange Früchte. Und als ich dieses Leben (vita) sorgfältig untersuchte, erkannte ich, dass der nächtliche Tau mit seiner Nässe so reichlich durch ihre großen Blätter eindrang, dass er der Pflanze und ihren Kindern (figliuoli) bzw. den Eiern, die die Kinder hervorzubringen haben, reichlich Nahrung bot.“ Ableger einer Pflanze als deren Kinder, Früchte als Eier: Leonardo zog keinen Trennstrich zwischen Flora, Fauna und Menschen. Pflanzen ernähren sich nicht allein durch ihre Wurzeln im Boden, sondern auch durch ihr Blattwerk - so lautet die Auswertung des damals einzigartigen Versuches, dessen Resultat heute zum botanischen Basiswissen gehört. Wie immer waren solche Untersuchungen von zeichnerischen Bestandsaufnahmen begleitet.“

 

Versteinerungen

 

„Zwischen den Steinen, den Pflanzen und den Tieren gab es für Leonardo Übergangsformen: „Warum finden wir die Knochen von großen Fischen und Austern und Korallen und anderen großen Muscheln und Seeschnecken auf den hohen Gipfeln meernaher Berge ebenso wie im tiefgelegenen Meer?“ Leonardo war nicht der erste, der diese Frage stellte. Schon im fünften Jahrhundert vor Christus entwickelte der griechische Historiker Herodot, der solche Fossilien auf Hügeln über dem Nil entdeckt hatte, die Theorie, dass hier ehemalige Meere durch die Anschwemmungen des Stroms im Laufe eines langen Zeitraums verlandet waren. Herodot konnte frei von dogmatischen Vorgaben argumentieren. Christliche Autoren mussten dagegen die erdgeschichtlichen Erscheinungen mit dem biblischen Weltbild in Übereinstimmung bringen und die Fossilien theologisch akzeptabel erklären. So konnte etwa eine geheimnisvolle Schöpferkraft im Fels am Werk gewesen sein, mit oder ohne Beitrag der Gestirne; möglich war auch, dass der Teufel durch sie den Glauben der Christen an die Schöpfung erschüttern wollte. Naturnäher argumentierten diejenigen, die in den Fossilien Produkte von felsinternen Gärungsprozessen sehen wollten, die durch Dampf verdichtet worden waren. Doch ausgestochen wurden alle diese Deutungen von der naheliegenden Antwort, dass sich Versteinerungen von Meerestieren auf Bergen befinden, weil die Sintflut einst die ganze Welt mit Wasser bedeckt hat.

Doch diese Standardinterpretation hielt genaueren Beobachtungen nicht stand. „In diesem Werk musst du zuerst beweisen, dass die Muscheln in tausend Fuß Höhe nicht von der Sintflut dorthin gebracht wurden, denn man findet sie alle auf derselben Höhe, während viele Berge weit über diese Stufe hinausragen.“ Also mussten diese höheren Berge entweder nach der Sintflut entstanden sein, oder deren Wassermassen hatten nicht die gesamte Oberfläche der Erde überschwemmt. In jedem Fall hatten Fossilien und Sintflut nichts miteinander zu tun. Auch eine so große Überschwemmung wie die biblische Sintflut musste zudem von den Gesetzen der Natur bestimmt gewesen sein: „Und du musst fragen, ob die Sintflut von Regen oder einem Anschwellen des Meeres verursacht wurde. Und dann musst du zeigen, dass die Muscheln als schwere Objekte weder durch das von Regen verursachte Anschwellen der Flüsse noch durch das Ansteigen des Meeres von Meeres- auf Bergeshöhe angehoben worden sind; ebenso wenig können sie von den Flüssen gegen deren Strömung dorthin gezogen worden sein.“

Diese Überlegungen führten in theologische Untiefen: „Hier erhebt sich der folgende Zweifel: Ob die Sintflut zur Zeit Noahs universell war oder nicht. Und es scheint, dass das nicht der Fall war, und zwar durch die nachfolgenden Gründe. Die Bibel sagt, dass die Sintflut aus vierzig Tagen und Nächten ununterbrochener Regenfälle bestand, und dass das Wasser dadurch zehn Ellen über den höchsten Gipfeln der Berge stand. Und wenn das so war und der Regen universell, dann muss er unsere Erde, die eine Kugel ist, bedeckt haben. Die Oberfläche einer Kugel aber ist von deren Mittelpunkt überall gleich weit entfernt; das gilt also auch für das Wasser, das diese Kugel bedeckt, und daher ist es unmöglich, dass sich das Wasser auf dieser Kugel bewegt, denn das Wasser bewegt sich nicht in sich selbst, außer wenn es abfließt. Wie konnte also das Wasser einer solchen Sintflut abfließen, wenn es, wie hier bewiesen ist, keine eigene Bewegung besaß? Und wenn es abfloss, wie bewegte es sich dann, wenn es nicht bergauf floss? Hier fehlt es also an natürlichen Beweisen. So muss man, um diesen Zweifel zu zerstreuen, das Wunder zu Hilfe rufen oder sagen, dass dieses Wasser durch die Hitze der Sonne verdunstete.“ Doch das hätte sehr viel länger gedauert als in der Bibel berichtet. Blieb als traditionelle Erklärung das Wunder, was für Leonardo der intellektuellen Kapitulation gleichkam …

Die Muscheln an den Flanken der toskanischen Berge haben Leonardo zu ungewöhnlich intensiven Forschungen und für seine Verhältnisse bemerkenswert langen Texten inspiriert. Wie immer ist er dabei mit methodischer Gründlichkeit vorgegangen. Konnten die Muscheln, die sich in ihrem natürlichen Ambiente am Grunde des Meeres aufhalten und dort sogar in den Sand eingraben, beim Ansteigen der Sintflut aus eigener Kraft emporgeschwommen sein und so die mittleren Höhen der Berge erreichen? Muscheln - so der empirische Naturforscher Leonardo - bewegen sich im Wasser nicht schneller als eine Schnecke auf dem Land. Auf diese Weise schaffen sie pro Tag höchstens eine Strecke von drei bis vier „Armen“, also eine gute menschliche Körperlänge. Während einer Überschwemmung von vierzig Tagen und Nächten, der Dauer der biblischen Sintflut, war dieser Aufstieg also nie und nimmer zu bewältigen. Die Sintflut mit der Stoppuhr beim Muschelrennen widerlegen - bei allem wissenschaftlichen Ernst sind diese Passagen von einer untergründigen Ironie durchtränkt.

Damit war aber noch nicht gesagt, wie es wirklich gewesen ist. Für Leonardo stand außer Frage, dass das versteinerte Getier im Fels der Berge von Wassermassen dorthin getragen worden sein musste; andere Ursachen schieden endgültig aus. Dafür kam nur das Meer infrage. Also mussten die jetzigen Täler einst mit Meerwasser gefüllt gewesen sein; wo das aus geologischen Gründen nicht der Fall gewesen sein konnte, gab es auch keine Muscheln. Aus Leonardos präzisen Beschreibungen geht hervor, dass er tagelang auf Fossilienexkursion gewesen sein muss. Der Anstieg des Wassers über dem heutigen Landgebiet konnte entweder durch mehrere nacheinander hereinbrechende Überflutungen oder durch einen lang andauernden Wasserstau verursacht worden sein. Gegen die These von den vielen Einzelkatastrophen sprach der Zustand der Versteinerungen: „Innerhalb der verschiedenen Felsschichten sind einzelne und miteinander verbundene Schalen gefunden worden, wie diejenigen, die vom Meer im Schlamm lebendig verscharrt wurden; dieser Schlamm aber trocknete und versteinerte mit der Zeit.“ Sand, gemischt mit Seetang, versteinert die Muscheln und macht sie unbeweglich; danach verschwindet der Seetang, die Muschel aber bleibt im Berg - das war Leonardos letztes Wort in Sachen Fossilien. Doch auch die Pflanzen, die diesem Prozess nicht standhielten, gingen nicht völlig verloren, denn ihre Abdrücke blieben bei der Sedimentierung erhalten. Blätter solcher „Urpflanzen“ hat Leonardo gezeichnet und Ornamenten zugrunde gelegt.

An die Theorie, dass einst Meer war, wo sich jetzt Land erstreckte, knüpften sich zahlreiche Fragen. Die brennendste betraf das Alter der Welt. Die Bibel kam auf sechstausend Jahre. Verglichen mit den Verwandlungen der Erde und ihrer Lebewesen, vor allem den Versteinerungen, war das ein sehr kurzer Zeitraum. Auch wenn Leonardo davon ausging, dass die Natur die Lebewesen, die sie erschaffen hatte, nicht veränderte, also keine Theorie der Evolution entwickelte, deutete für ihn alles darauf hin, dass die Geschichte neu geschrieben werden musste, und zwar diesmal als Naturgeschichte in einem viel längeren Zeitraum als bislang auch nur geahnt.“

Siehe auch http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/90-oekoterrorist-noah.html

 

Fluss als Teil der Natur

 

„Leonardos Arbeit für diesen völlig verunglückten Plan hat sich nicht nur in Notizen, sondern auch in Karten niedergeschlagen; eine zeigt die westliche Toskana mit Pisa, die andere den tatsächlichen Verlauf des Flusses und wie man diesen umleiten sollte. Der kühn ausschwingende künstliche Wasserlauf wirkt auf diesem zweiten Blatt wie ein Bypass, der das Fluss-Herz mit seinen mäandrierenden Adern vor dem Infarkt bewahren sollte: „Sie wissen nicht, warum der Arno niemals in einem Bett bleiben wird. Das liegt daran, dass die Flüsse bei ihrer Mündung in ihn Erde ablagern und von der entgegengesetzten Seite abtragen und so den Fluss in diese Richtung drücken.“ Wenn Ströme versanden, sucht sich das Wasser neue Bahnen. Der Kanal kann hier Abhilfe schaffen, doch unterliegt auch er dem Gesetz des Werdens und Vergehens. Am nachhaltigsten ist diese Arbeit, wenn sie sich an den Vorgaben der Natur ausrichtet: „Der Fluss, der von einem Ort zu einem anderen umgeleitet werden soll, muss pfleglich behandelt (debbe essere lusingato) und nicht mit Gewalt misshandelt werden.“ Lusingare heißt schmeicheln. Leonardo schreibt also vom Fluss wie von einem Lebewesen, und er hat diese Bemerkungen mit Strömungszeichnungen versehen, die an gewelltes und lockiges Haar erinnern.“

 

Sonne

 

„Wozu Leonardo die Spiegel benötigte, von denen Vasari ausnahmsweise wahrheitsgemäß berichtet, hat er in seinen Notizheften unter der Überschrift „Über den Beweis, dass die Sonne von Natur aus und nicht durch ihre Tätigkeit heiß ist“ niedergeschrieben. Das, so Leonardo, „wird unwiderleglich durch den Glanz des Sonnenkörpers bewiesen, dessen Anblick das menschliche Auge nicht aushalten kann, und darüber hinaus belegen es zur Genüge ihre Strahlen, wenn sie von einem konkaven Spiegel reflektiert werden, denn wenn diese das Auge mit so großem Glanz treffen, dass es sie nicht aushalten kann, dann ist dieser Glanz auf der Sonne an ihrem eigenen Standort genauso heftig. Und dass das stimmt, beweise ich so: Wenn der Spiegel exakt so konkav geformt ist, dass er den Strahl richtig erzeugt, dann kann kein von der Natur geschaffenes Lebewesen die Hitze ertragen, die vom Auftreffen eines Strahls ausgeht, der von einem solchen Spiegel reflektiert wird. Und wenn du dagegen einwendest, dass der Spiegel selbst kalt ist und trotzdem heiße Strahlen aussendet, so entgegne ich dir, dass der Strahl von der Sonne kommt und beim Durchgang durch den Spiegel seinem Ursprung gleichbleibt, durch welches Medium er auch immer hindurchgeht. Und der Strahl des konkaven Spiegels, der durch die Fenster eines Brennofens hindurchgeht, in dem Metall geschmolzen wird, gewinnt keine Hitze und wird sie auch dann nicht annehmen, wenn er durch die Feuerkugel hindurchgeht.“

Man muss nicht so weit gehen, Leonardo zum Ahnherrn der Sonnenenergie zu erheben, um diese Experimente, in denen es um die Umwandlung von Licht in Wärme geht, bemerkenswert zu finden.“

 

Natur im Bild

 

Volker Reinhardt gibt viele Bild-Interpretationen, von denen der Wurm sich drei herausgreifen will:

 

Porträt der Cecilia Gallerani (Dame mit Hermelin)

 

https://www.oppisworld.de/zeit/leonardo/dame-mit-hermelin.html

 

„… wird das Porträt denn auch gemeinhin bis heute gedeutet: die geschmeidige, gefügige Geliebte, die der Ankunft ihres strahlenden Gebieters harrt, der sich durch das Licht ankündigt, das auf ihr hingebungsvolles Antlitz fällt. Es ist jedoch fraglich, ob Leonardo in dem Bild tatsächlich solche Anweisungen umgesetzt hat. Eine seiner Tierschilderungen, die er um dieselbe Zeit verfasste, handelt ebenfalls vom Hermelin: „Das Hermelin mit seiner Zurückhaltung speist nur einmal am Tag und lässt sich eher von den Jägern fangen, als in einen schlammigen Bau zu flüchten, um seine natürliche Schönheit nicht zu beflecken.“ Dem schönen Räuber werden also Eigenschaften zugeschrieben, denen Leonardo Hochachtung entgegenbringt. Lieber untergehen als sich erniedrigen - diese stolze Haltung ähnelt nicht zufällig Leonardos Beschreibung des Malers in seinem komfortablen Atelier, wo er sich im Gegensatz zum schweiß- und schmutztriefenden Bildhauer bei seiner Arbeit wie ein großer Herr fühlen darf. Das Hermelin ist also der Aristokrat der Tierwelt und dadurch Leonardo wesensverwandt, vielleicht sogar sein alter ego. Auf diese Weise sind „il Moro“, die Hermelin-Frau und der Maler durch ihre Embleme zu dritt im Bild vertreten. Der Fokus, in dem sie sich kreuzen, ist das Hermelin. Das Gesicht der jungen Frau wirkt durch das von einem Netz eng an die Kopfhaut gedrückte Haar etwas nonnenartig, auf jeden Fall lässt es keine stärkere erotische Ausstrahlung aufkommen. Ihre Züge zeugen wie schon bei Ginevra Benci von Intelligenz, Energie, Durchsetzungsvermögen und Selbstsicherheit; zum Fetisch eines vor Sehnsucht schmachtenden Liebhabers taugt daher auch dieses Bild nicht. Darum liegt eine ganz andere Deutung des Bildes, nämlich als „Hermelin mit Dame“, nahe.

Das Hermelin zieht die Blicke viel stärker auf sich, als es einem bloßen Accessoire gebührt. Im Gegensatz zum eher maskenhaft gemalten Haupt der Mätresse ist sein Kopf mit beispielloser anatomischer Präzision und Plastizität wiedergegeben. Der Betrachter ist unwillkürlich versucht, die feinen Knochenlinien unter dem flauschigen Fell mit der Hand nachzuziehen - wäre da nicht der hellwache Ausdruck der genau beobachtenden Augen, die eine schmerzhafte Gegenreaktion befürchten lassen, sei es mit den scharfen Zähnen, sei es mit den Krallen. Leonardos Hermelin hat genau die stolze Würde, die er ihm in seinem „Tierleben“ zuschreibt und für sich und sein Metier in Anspruch nimmt, und damit ist er selbst als Schöpfer des Bildes auch dessen Teil. Im Bildnis der Ginevra Benci verselbständigt sich der Wacholder, hier das Raubtier. Die Botschaft ist beide Male dieselbe: Der Mensch ist Teil der Natur, die er fälschlich zu beherrschen glaubt.“

 

Die heilige Anna selbdritt

 

https://www.oppisworld.de/zeit/leonardo/anna-selbdritt.html

 

„Um 1508 begann Leonardo in Florenz mit einem Bild der Jungfrau Maria, ihrer Mutter, der heiligen Anna, und dem Jesuskind …

Warum Leonardo das Bild mit nach Frankreich nahm, statt es in Florenz abzuliefern, bedarf wie schon im Fall der „Mona Lisa“ der Erklärung. Erneut malte er für sich, obwohl nun im Gegensatz zur „Mona Lisa“ eindeutig eine nicht erledigte Bestellung vorlag - warum? Ein irritierendes Merkmal des Bildes sticht ins Auge: Jesus hat sein linkes Bein über das Lamm gelegt und dieses an den Ohren gepackt, um ihm das Genick zu brechen. Seine Großmutter Anna scheint den brutalen Tötungsakt, der sich hier abzeichnet, nicht zu bemerken; sie schaut liebevoll auf den Nacken ihrer Tochter. Diese will ihren Sohn auf den Schoß zurückholen; ob sie sieht, was dieser gerade tut, ist unklar, vielleicht verdeckt sein Kopf ihr den Blick auf den gedrehten Hals des Lammes. Der blaue Umhang über Marias Kleid erstreckt sich von ihrer linken Schulter bis zur rechten Hüfte und berührt auch den Jesusknaben. Vor allem mit dem hinteren Abschnitt erinnert er von ferne an den Schwanz eines Raubvogels. Das Lamm ist das Opfertier schlechthin; Christus, der sich opfert, um die Sünden der Menschen auf sich zu nehmen, ist das Lamm Gottes. Doch diese einfache Gleichung, die den meisten Deutungen des Bildes zugrundegelegt wird, geht im Bild nicht auf. Wenn das Lamm wie in der theologischen Tradition für Christus stünde, tötete Christus sich selbst - eine Blasphemie. Dass Leonardo den Jesusknaben hier als Lammtöter gemalt hat, ist von der kunsthistorischen Forschung weitgehend anerkannt. Doch warum weicht er so radikal von der Tradition ab? Überzeugende Antworten auf diese Frage sind bislang ausgeblieben …

Dass Leonardo diesen apokryphen Text gekannt hat, ist in Anbetracht seines Desinteresses an Theologie unwahrscheinlich. Zudem hat er keine der darin beschriebenen Episoden gemalt. Der Jesusknabe zaubert ja nicht, sondern ist dabei, das Lamm mit reiner Körperkraft zu töten. Sein zur Mutter zurückgewandter Kopf drückt puren Mutwillen aus, als wollte er sagen: Versuch nur, mich daran zu hindern! Gemalt ist also eine Machtprobe, wie sie für dieses Kindesalter typisch ist. Die beiden Frauen sind nichts als Liebe, füreinander und für das Kind, und diese Liebe für das eigene Fleisch und Blut ist natürlich. Natürlich ist aber auch die zerstörerische Regung des so sorgsam behüteten kleinen Jungen, der seine Kraft zur Vernichtung eines anderen Lebens benutzt. Die Natur macht keine Ausnahmen, sie duldet nichts Übernatürliches, nicht einmal als Zauberkraft. Die christliche Religion ist mit ihrer übernatürlichen Erlösungsbotschaft in die Natur zurückgeholt und damit entzaubert.“

 

Leda und der Schwan

 

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Spiridon_Leda.jpg

 

„… Kaum geboren, treten die Sprösslinge des Zeus auch schon eine Zeitreise an. Mit dem fordernden Blick auf Leda schauen sie auf die Vorgeschichte ihrer Geburt zurück, denn Leda ist zwar mit ihrem Kopf ganz jungfräuliche Mutter, mit ihrem übrigen Körper aber eine nur allzu willige Ehebrecherin. Ihr rechter Arm umfasst liebevoll den Hals des Schwans, der als Phallus männlichen Sexualneid aufkommen lassen kann, in der linken Hand hält sie einen blühenden Jasminzweig, dem betörende Wirkungen zugeschrieben werden. Doch dieser lüstern blickende Schwan braucht kein Aufputschmittel. Der geflügelte Gigant der Gewässer umfasst mit einer Schwinge besitzergreifend die Hüfte seiner Eroberung und streckt gierig seinen zahnbestückten Schnabel ihrem lieblichen Mund entgegen, ohne ihn zu küssen.

So ist sein Werben erfolgreich und erfolglos zugleich. Eben noch Geliebte, ist Leda mit ihrem Kopf, mit Willen und Bewusstsein, bereits Mutter; die animalische Geilheit hat ihren Zweck erfüllt, jetzt will sie davon nichts mehr wissen. Damit ist sie die Siegerin. Zeus hat sein Vergnügen gehabt, doch Leda hat eine neue Aufgabe und Identität gewonnen: Sie muss ihre mörderischen Vierlinge aufziehen. So triumphiert am Ende die Natur allein. Sie hat ihre Köder ausgeworfen, und alle haben angebissen: der höchste Gott, die Menschenfrau, der Schwan. Im Gewässer treiben die Blätter des Rohrkolbens aus, auch er ein Sexualsymbol, auf dem Wiesenabschnitt strecken die Blumen ihre Blüten empor, um bestäubt zu werden. Es ist alles von einerlei Art und einem ewigen Kreislauf unterworfen: zeugen, geboren werden, reifen, Frucht bringen und vergehen. Nichts und niemand, nicht einmal der höchste Gott des Olymps, kann sich diesem Zyklus entziehen.

Cassiano del Pozzos Gefühle vor dem Bild des französischen Königs lassen sich durch die Betrachtung der „Leda Spiridon“ leicht nachvollziehen: Alle erotische Anziehungskraft ist letztlich ein Mittel zum Zweck, die Natur hat ihren Lebewesen den Trieb zur Arterhaltung eingepflanzt. Der Ursprung des Lebens, sei es vegetativ, animalisch oder menschlich, hat nichts Erhabenes, sondern etwas Groteskes; was die Menschen Liebe nennen, ist in Wirklichkeit die immergleiche Schmierenkomödie der Natur. Damit werden auch die moralischen Kategorien zweifelhaft: Mutterliebe erzeugt Monster, aus Güte geht Zerstörung hervor. Leonardos Leda ist wie seine „Mona Lisa“ eine Studie über die Allmacht der Natur, nur mit anderen Mitteln.“

 

Anatomie des Menschen

 

Mit dem bloßen Ausmessen des menschlichen Körpers hatte es allerdings für den Maler-Philosophen nicht sein Bewenden. Er musste als kühner Forschungsreisender tiefer in die Geheimnisse des menschlichen Körpers vordringen als alle anderen vor ihm. So widmete er sich seit dem Ende der 1480er-Jahre anatomischen Studien, zu denen er zahlreiche Zeichnungen und Notizen hinterließ. Diese Pionierleistungen waren nach seiner Selbsteinschätzung des höchsten Ruhmes würdig, denn sie kosteten den, der sie erbrachte, eine schier übermenschliche Überwindung …“

 

Groteske

 

http://www.arnold-boegelein.de/innen_5.htm

 

„Die Natur verteilte ihre Vorzüge ungerecht, und der Mensch war nicht ihr Lieblingsgeschöpf. Der Attraktion der Schönheit entsprach die Faszination der Hässlichkeit - das war Leonardos ganz persönliche, nicht-humanistische „Proportion“.

Dass beides untrennbar zusammengehört, machte schon die Zeichnung des schönen Jünglings und des lüsternen Greises deutlich. Am krassesten zeigte sich die Zerstörungskraft der Natur im Prozess des Alterns und im dadurch bewirkten Verfall von Körper, Geist und Psyche. Doch die Zeit war nicht die einzige und nicht einmal die zerstörerischste Waffe der Natur. Viele Menschen waren von Anfang an auf das Grauenhafteste missgebildet. Für sie war die Natur allenfalls eine Stiefmutter, und ein liebender Gott war in ihr oder hinter ihr erst recht nicht erkennbar. Ein Meisterwerk dieser negativen Bestandsaufnahme ist Leonardos Zeichnung, in der fünf groteske Figuren eine schaurige Disharmonie von Wahnsinn und Wut bilden. Vier von ihnen umringen und bedrängen einen mit Eichenlaub umkränzten Greis, der mit der gekrümmten Nase und dem felsartig vorgewölbten Kinn in Leonardos menschlichem Bestiarium als Typus in zahlreichen Variationen vorkommt. Die Komposition der unheimlichen Gruppe erinnert an die Verspottung Christi, bei der Maler seit jeher die menschliche Niedertracht und Grausamkeit phantasievoll darstellen konnten. Das Eichenlaub des starr und ungerührt aus der Zeichnung blickenden Alten entspräche dann der Dornenkrone Christi, was der Szene eine blasphemische oder zumindest eine ironisch autobiographische Note gäbe, falls das Haupt mit dem falschen Lorbeer für den Künstler selbst steht. Die grotesken Schmähköpfe gehörten dann den „Poeten“, die ihn und seine überlegene Kunst herabsetzen.

Alle diese Versuche, dem hässlichen Ensemble eine „Geschichte“ zu unterlegen, bleiben letztlich Spekulation. Zu sehen ist der Mensch in fünf Stadien des Verfalls, die das ganze Spektrum zwischen (von links nach rechts) aggressiver Bösartigkeit, qualvoller Verwirrung, starrer Demenz, eisiger Verbohrtheit und selbstgefälliger Narrheit abdecken. Im Verlauf dieses Niedergangs verwandeln sich die Gesichter der fünf zunehmend ins Maskenhafte und Tierische; bei Leonardos Inszenierung von Galeazzo Sanseverinos großem Auftritt auf Ludovico Sforzas Hochzeit hätte das Quintett den Aufzug der wilden und lärmenden Männer ausgezeichnet eskortiert. Eine der vielen Spielarten des grotesk umkränzten Hauptes geht höchstwahrscheinlich in Leonardos florentinische Frühzeit zurück und zeigt ebenfalls im Profil einen Mann mit Rüstung und Helm, dessen heroische Vorbilder aus der Antike unübersehbar sind und ebenso unübersehbar persifliert werden. Das gilt vor allem für das Gesicht, das die Elemente des Heldenhaften grotesk übersteigert und so zur reinen Karikatur wird. Zu sehen ist also ein verrückter Feldherr oder ein Wahnsinniger, der sich für einen Imperator hält, bestenfalls ein Schauspieler in einer Komödie der Irrungen und Wirrungen …

Obwohl dabei bestimmte Motive wie der bizarre Krieger mit markigem Kinn regelmäßig erscheinen, ging es ihm nicht um Typisierung oder gar Kategorisierung, sondern um die Erforschung des Menschen und die Ausmessung der Natur: So grausam war sie zu ihren Stiefkindern, so lächerlich war der Anspruch des Menschen, Krone der Schöpfung zu sein, so schnell ging seine Vernunft verloren und machte den seltsamsten Verwirrungen des Geistes Platz. Bei oberflächlicher Betrachtung konnte man über diese Studien der Entstellung natürlich auch lachen. Diese Art von „Humor“ dürfte denn auch dafür ausschlaggebend gewesen sein, dass Leonardos bittere Variationen über das Thema der verunstalteten menschlichen Physiognomie ein voller Erfolg waren - sie wurden von Zeitgenossen und Nachfolgern eifrig kopiert. Leonardos Menschenbild war mit der christlichen wie der humanistischen Auffassung gleichermaßen unvereinbar. Für die Theologen war die ursprüngliche Größe des Menschen durch die selbstverschuldete Erbsünde irreparabel beschädigt, die erst durch den Opfertod Christi getilgt werden konnte. In Leonardos Augen hingegen erfuhren die Geschöpfe der Natur, der alles beherrschenden Urkraft, keine Verwandlung - die Zerstörungswut gehörte daher zur Grundausstattung des Menschen seit jeher.“

 

Seele

 

„Was aber ist die Seele? Bei der Entstehung des Embryos, so Leonardo, erzeugt die Seele der Mutter in der Gebärmutter dessen Gestalt und erweckt dann zum rechten Zeitpunkt dessen eigene Seele. „Diese aber liegt zuvor wie schlummernd im Schutz der mütterlichen Seele, die sie durch die Nabelschnur nährt und mit allen belebenden Elementen (membri spirituali) versorgt.“ Auf diese Weise übertragen sich starke Erschütterungen der Mutter direkt auf den Embryo, der daran sogar zugrunde gehen kann. Eine wie auch immer geartete Beseelung durch eine höhere Macht aber findet nicht statt. Die Seele ist ein Teil der menschlichen Natur, der nach der Zeugung von einer Generation zur nächsten weitergereicht wird wie die Nahrung durch die Nabelschnur. Die Seele ist eine Art höchste Koordinierungs- und Leitungsinstanz des Menschen, die alle Wahrnehmungen, Anregungen und Bestrebungen bündelt und ordnet; als solche kann sie trotz aller Souveränität schon zu Lebzeiten Schaden nehmen. Dass sie mit dem Tod des Körpers stirbt, sagt Leonardo nicht ausdrücklich, doch ergibt sich diese Vergänglichkeit zwingend aus ihrer Funktionsbestimmung.

Leonardo war sich bewusst, dass er sich mit diesen Ausführungen auf gefährliches, nämlich theologisch besetztes Terrain vorwagte: „Und den Rest der Definition der Seele lasse ich in den Köpfen (menti) der Mönche zurück, diesen Vätern der Völker, die alle Geheimnisse durch Inspiration kennen.“ Das war natürlich blanke Ironie, ebenso wie der Schluss dieser Passage: „Ich lasse die gekrönten Texte (lettere incoronate) stehen, da sie höchste Wahrheit sind.“ Die lettere incoronate, das war die Welt der Worte, der Gottesgelehrten und Humanisten, die sich Fabelwelten zusammenphantasierten und sich der Erforschung der tatsächlichen Welt mit ihrem albernen Hochmut widersetzten. Damit standen sie in einer peinlichen Reihe mit den Zauberern und Geistersehern, die die Dummen mit ihren Ammenmärchen erschreckten, um sie dann nach allen Regeln der Kunst auszunehmen. Leonardo war nicht der Einzige, der diesen leeren Verheißungen ablehnend gegenüberstand, doch kein anderer Zeitgenosse hatte den Nekromanten, Alchemisten und Astrologen so unwiderlegliche Argumente entgegenzuhalten wie er: „Es kann keine Stimme geben, wo es nicht Bewegung gibt und wo die Luft nicht durchstoßen wird; die Luft kann nicht durchstoßen werden, wo es kein Instrument dafür gibt; körperlose Instrumente aber gibt es nicht. Da das so ist, kann ein Geist weder Stimme noch Gestalt noch Kraft haben, und wenn er einen Körper annimmt, kann er nirgendwo eindringen, wo die Tore geschlossen sind. Und wenn jemand behauptet, dass der Geist durch komprimierte Luft verschiedene Gestalt annehmen kann und durch dieses Instrument spricht und sich mit Kraft bewegt, so entgegne ich darauf, dass da, wo keine Nerven und Muskeln sind, auch keine Kraft sein kann, die sich in der Bewegung solch eingebildeter Geister niederschlägt.“ Die Alchemisten können zwar ihre verwegenen Versprechen, Gold herzustellen, nicht einhalten, produzieren aber unbeabsichtigt nützliche Nebenprodukte wie zum Beispiel Glas. Ja, sie helfen durch ihre Tätigkeit der Natur auf die Sprünge, da sie deren Elemente so vermischen, wie es die Natur selbst nicht getan hat. Alchemie ist für Leonardo also nichts anderes als Chemie im heutigen Verständnis; sie ist an die Gesetze der Natur gebunden und nutzt diese für ihre Zwecke aus. Nekromanten aber behaupten, über der Natur zu stehen und dieser zu gebieten. Doch über der Natur steht nichts und niemand. „Sie haben Bücher vollgeschrieben, in denen sie behaupten, dass Verzauberungen und Geister wirkungsmächtig sind und ohne Zungen und organische Instrumente sprechen, ohne die man nicht sprechen kann, und dass sie schwerste Gewichte tragen und Stürme und Regenfälle entfesseln können. Auch behaupten sie, dass sie Menschen in Katzen und Wölfe und andere wilde Tiere verwandeln können; dabei werden diejenigen, die so etwas behaupten, als allererste zu wilden Tieren.““

 

Grausamkeit

 

„Die Natur ist ganz anders, als der Mensch, das destruktivste Wesen auf Erden, glaubt. Sie bietet ihm die Mittel, um sich selbst zu zerstören: „Die Toten werden aus dem Grund der Erde auferstehen und mit ihren harten Bewegungen zahllose menschliche Kreaturen aus der Welt vertreiben.“ Das klang wie eine Travestie des Jüngsten Tages, an dem die Toten auferweckt werden, um von Christus als dem Weltenrichter ihren Urteilsspruch, Erlösung oder Verdammnis, zu empfangen. Doch hier waren die Metalle gemeint, die der Mensch dem Erdreich entriss, um mit dieser toten Materie Unzählige seinesgleichen zu töten. Tod und Vernichtung sind im Plan der Natur angelegt, schließlich fressen sich auch die Tiere gegenseitig. Doch die Lust des Menschen an der Zerstörung geht weit über diesen regulären Kreislauf von Werden und Vergehen hinaus:

„Tiere werden auf der Erde zu sehen sein, die sich untereinander unablässig mit schwersten Schäden und Morden für beide Seiten untereinander bekämpfen werden, und ihre Bösartigkeit wird kein Ende haben. Mit ihren starken Gliedern werden sie einen großen Teil der Bäume der großen Wälder des Universums niederreißen. Und nachdem sie sich daran gesättigt haben, werden sie ihre Lust dadurch stillen, dass sie Tod, Kummer, Mühsal, Angst und Schrecken unter den anderen belebten Dingen säen werden. Ja, mit ihrem grenzenlosen Hochmut werden sie sich sogar zum Himmel emporheben wollen, doch wird die übermäßige Schwere ihrer Glieder sie auf dem Boden halten. Und nichts wird auf oder unter der Erde bleiben, das sie nicht verfolgen, stören, zerstören oder von einem Land ins andere zerren. Und ihre Körper werden Grab und Durchgangsstation aller von ihnen getöteten Lebewesen werden. O Welt, warum öffnest du dich nicht und verschlingst sie in den tiefen Spalten deiner großen Abgründe und Höhlen, um solche grausamen und mitleidlosen Ungeheuer vor dem Himmel zu verbergen?“

Dieses bösartigste aller Tiere ist der Mensch, die Rätsel-Prophezeiung ist „Von der Grausamkeit des Menschen“ überschrieben. Der Mensch, der wie ein Vogel fliegen will, wird auf den harten Boden der Tatsachen zurückgeworfen, da sein Körpergewicht solchen Höhenflügen entgegensteht - dieses Beispiel für die Selbstüberschätzung des Menschengeschlechts lässt aufhorchen. Schließlich studierte Leonardo den Flug der Vögel mit heißem Bemühen und entwarf Apparate für Menschen, die es ihnen gleichtun wollten.“

 

Kriegsgeräte

 

„Einen großen Teil seiner Entwürfe hat Leonardo in den 1490er-Jahren Kriegsgeräten gewidmet. Das entsprach seiner Selbstanpreisung von 1482 und ab April 1498 auch der Gefahrenlage seines Herrn. Zum Einsatz gekommen ist von diesen kühnen Projekten jedoch nichts. Sie waren zum einen „futuristisch“, das heißt: mit den technischen Mitteln der Zeit nicht herstellbar oder benutzbar …

Darüber hinaus fragt sich, wem die überdimensionalen Apparate mehr Schaden zufügen würden, dem Feind oder den eigenen Leuten, die den damit entfesselten Kräften hilflos ausgeliefert waren. Leonardo verabscheute und verachtete den Krieg wie jede mutwillige Vernichtung von Leben; in Zeichnungen wie diesen ist die Grenze zur Karikatur überschritten.

Zwischen Science-Fiction und zerstörerischem Furor sind die „vernünftigen“ Entwürfe zu situieren, die zum einen für Verblüffung auf höfischen Theaterbühnen zu sorgen hatten und zum anderen zum Einsatz auf Baustellen gedacht waren. Dazu gehören Lastkräne, kurbelbetriebene Aufzüge oder Klingenschleifmaschinen. Sie hatten ihren Platz in der Mitte des tätigen Lebens, so dass sich alles Parodistische erübrigte; trotzdem sind auch diese Zeichnungen alles andere als nüchterne Gebrauchsanweisungen. So wie in Leonardos Fabeln Weidenbäume und Nüsse ausgeprägte eigene Interessen besitzen und Eigendynamik entfalten, sind auch die technischen Hervorbringungen des menschlichen „Vizegottes“ weit mehr als unbelebte Gerätschaften. Sie werden zu Kreaturen, die den Menschen erheben und rechtfertigen, aber auch beherrschen und vernichten können.“

 

Sintflut

 

„Leonardos wahres Interesse galt bis zum Schluss den unbändigen und zerstörerischen Kräften der Natur. Diese lebenslange Faszination nährte sich gleichermaßen aus Beobachtungen und „Gedankenarbeit“. Eine besonders eindrucksvolle Erfahrung dieser Art hatte Leonardo in seiner Mailänder Zeit bei einer Reise zum nahegelegenen Lago Maggiore gemacht. Dort - so sein hochgradig emotional eingefärbter Bericht - stand eine säulenförmige Wolke am Horizont, die von der untergehenden Sonne in Rottönen gebadet wurde. Diese Riesenwolke zog die kleineren an sich und gebar einen Sturm von ungeheurer Gewalt, der auf die Erde hereinbrach wie ein Schwamm, den eine starke Hand unter Wasser drückt.

Solche Beobachtungen gingen nahtlos in „Mentalexperimente“ über, wie sie die folgende Beschreibung aus Leonardos letzten Jahren zeigt: „Die Luft war vom dichten Regen dunkel, der vom seitlich einfallenden Sturm getrieben schräg hereinbrach und in der Luft Wellen wie Staub schlug, unterschieden nur durch die geraden Linien der herabstürzenden Wasser. Aber seine Farbe war die des Feuers; entzündet wurde es von den Blitzen, die die Wolken spalteten und zerfetzten; in seinem Auflodern blinkte das Meer, das die Täler überschwemmt hatte und in seinen Tiefen die geknickten Wipfel der Bäume erkennen ließ.“ Menschen und Tiere haben sich in diesem Inferno auf die letzten freien Höhen geflüchtet, wo sie das Wasser bald einholen wird. Überschrieben ist die Katastrophenvision mit „Darstellung der Sintflut“, doch der Titel täuscht: „Vorstellung von einer Sintflut“ wäre treffender. Leonardo wusste von seinen Fossilien-Studien im Apennin genau, dass es die eine große Flut nie gegeben hatte, sondern eine lange, potentiell endlose Abfolge von katastrophalen Überschwemmungen. Von einer apokalyptischen Sichtweise und Stimmung ist seine Darstellung denn auch weit entfernt. Wenn die Wellen die letzten Gipfel überschwemmt und die Menschen ertränkt haben werden, „bilden sie neue Berge, von tiefen Abgründen umgeben“. Diese „Sintflut“ formt eine neue Geographie für neues Leben, mag es mit dem menschlichen Leben auch zu Ende gegangen sein.

In einer anderen, ausführlicheren Textpassage aus seiner Spätzeit malt sich Leonardo das Ende der Spezies Mensch noch viel drastischer aus: „Oh, was für schreckliche Laute hört man durch die dunkle Luft, die von Donner und Blitz durchstoßen wird, die bei ihrem rasenden Lauf alles zerstören, was sich ihnen in den Weg stellt. Oh, wie viele Menschen mag man dann sehen, die sich mit den eigenen Händen die Ohren verschließen, damit sie das schreckliche Toben nicht hören, das von den mit Regen durchmischten Stürmen durch die finstere Luft rauscht ... Andere nehmen sich in ihren verzweifelten Zuckungen selbst das Leben, weil sie in ihrer Hoffnungslosigkeit solchen Schmerz nicht ertragen können.“ Wieder andere töten ihre Kinder, um ihnen ein grausameres Ende zu ersparen, einige beten zu Gott, doch Gott ist die Natur, und die Natur duldet kein menschliches Leben mehr.

Das düstere Szenario ähnelt der Sintflut, wie sie Michelangelo wenige Jahre zuvor an der Decke der Sixtinischen Kapelle gemalt hatte. Auch dort kämpfen Mütter wie Furien für das Überleben ihrer Kinder. Auch dort versuchen Menschen, die rettende Arche zu erreichen, aber das Boot ist bereits voll, Neuankömmlinge werden erbarmungslos ins Wasser zurückgeworfen. Wegen ihrer Sünden haben sie es nicht anders verdient. Doch Leonardo geht es nicht um gerechte Strafen, wie die verblüffende Schlusspassage des Schreckenstextes zeigt, sondern um die möglichst genaue Schilderung der natürlichen Vorgänge: „Vielleicht scheint es dir, dass du mich dafür tadeln müsstest, dass ich die Wege, die die Luft durch die Bewegung des Winds macht, dargestellt habe, obwohl der Wind selbst innerhalb der Luft nicht zu sehen ist. Darauf ist zu entgegnen, dass man in der Luft nicht die Bewegung des Windes, sondern nur die Bewegung der von ihm fortgetragenen Dinge sieht.“ Dem Verfasser wegen der Darstellung des Windes Vorwürfe zu machen, ist abwegig. Empfindsame Naturen mochten ihm stattdessen mangelnde Empathie, ja Herzlosigkeit bei der Schilderung des Untergangs vorhalten. Darauf hatte Leonardo schon bei der Rechtfertigung seiner anatomischen Studien geantwortet: Wer den Erscheinungsformen des Todes und der Zersetzung nicht gewachsen ist, taugt nicht zum Selbstdenker. Die Vernichtung des menschlichen Lebens auf der Welt war für ihn kein religiöses oder moralisches, sondern ein künstlerisches und wissenschaftliches Problem. Der Maler-Philosoph, der seine Aufgabe ernst nimmt, hat diesen Untergang nach bestem Wissen und Gewissen bis zum Schluss zu dokumentieren, als wahrhafter Chronist der Natur und ihrer Geschichte.

Doch das unerschütterliche Registrieren des Endes ist nicht alles. In Leonardos Beschreibungen schwingt ein Ton des tiefen Behagens mit. Die Verzweifelten, die vor dem unausweichlichen Ertrinken Ohren und Augen verschließen: Das sind seine arroganten Zeitgenossen, die von der Erforschung der Natur nichts wissen wollten und jetzt mit Schrecken erkennen müssen, dass sie ihre Zeit vergeudet und ihr Leben verspielt haben. Sie haben Leonardo, dem Erforscher der Natur und dem Verkünder ihrer Gesetze, die kalte Schulter gezeigt und empfangen jetzt die gerechte Strafe dafür, dass sie ihn verlacht haben. Das erinnert an Ungläubige, die die Botschaft der Erlösung nicht annehmen wollten und deshalb verworfen wurden. Sie haben sich in eitlem Selbstbetrug gewiegt, jetzt werden ihnen brutal die Augen geöffnet. Sie sind für die Natur nicht mehr wert als die Muscheln, die sich nach dem Abzug der Wasser auf den Gipfeln der Berge versteinert haben: „Man soll eine große Menge Menschen und Tiere vom Ansteigen der Überschwemmung an die Spitzen der Berge getrieben sehen, ganz am Rande des Wassers.“

Welche ästhetische Faszination für Leonardo von den großen Katastrophen der Natur ausging, die in Wirklichkeit nur Katastrophen des Menschen und gewisser Tiere waren, zeigt eine grandiose Erdrutsch- und Verschüttungs-Vision: „Ein Berg, der sich über einer Stadt ausbreitet, wird Staub in Form von Wolken hervorbringen, aber die Farbe solchen Staubs wird sich von der Farbe der Wolken unterscheiden. Und wo der Regen besonders dicht fällt, muss die Farbe der Wolken weniger hervortreten, und wo der Staub dichter ist, muss der Regen dagegen zurücktreten.“ Der Untergang des Lebens reduziert sich auf das Problem der richtigen Farbgebung für die richtige Darstellung der Naturkräfte. So steht am Ende nicht die Offenbarung des Johannes, sondern eine Lektion für den Maler: „Und der Rest dieses Stoffes wird im Buch der Malerei getrennt behandelt werden.“

Die Beschäftigung mit dem Ende der Welt war zu Leonardos Zeit große Mode. Brennende Wolken, wie sie Leonardo am Lago Maggiore beschrieb, sahen viele. Doch sie sahen nicht die Wolken allein, sondern darin Engel mit Schwertern, Lämmer oder Jungfrauen auf Mondsicheln oder Blutregen. Eine solche Vision eines Domherrn von Orvieto bot den Anstoß für eine Freskenserie Luca Signorellis in der dortigen Kathedrale, die das zerstörerische Wirken des Antichrist, dessen Überwindung und das anschließende Weltgericht mit der Scheidung in Gerettete und Verdammte äußerst eindringlich veranschaulicht. Doch an solchen Visionen des Untergangs von Welt und Zeit zeigte sich Leonardo zeit seines Lebens desinteressiert. Ihn beschäftigte nicht der Grund und die Folge, sondern die Art und Weise solcher Umwälzungen. Zudem war für ihn die Welt ewig, untergehen konnten daher nur einzelne Lebewesen wie zum Beispiel der Mensch. Bei der Vergegenwärtigung dieser Vorgänge steigerten sich Leonardos „Gedankenexperimente“ zu sprachlichen Höhen, die den Vergleich mit den berühmtesten Literaten der Zeit nicht scheuen müssen. Für enthusiastische Humanisten brach das Goldene Zeitalter der Kulturerfüllung an, für Bußprediger wie Savonarola nahten nach der Niederringung des Antichrist und der spirituellen Erneuerung der Menschheit die letzten seligen tausend Jahre des Heilands und seiner Erwählten auf Erden. Von beiden zeittypischen Erwartungshaltungen war Leonardo gleich weit entfernt. Diese unüberbrückbare Distanz zu allen vorherrschenden Trends der Zeit hat die Forschung bisher nicht genügend herausgearbeitet: Ihn faszinierten die Kräfte der Natur um ihrer selbst willen - und weil sie den Menschen als Gattung herabdrückten, ihn selbst als ihren Erforscher hingegen emporhoben.

Trotz ihrer Wortgewalt werden Leonardos literarische Untergangsbeschwörungen von seinen Zeichnungen zum selben Thema bei Weitem übertroffen. In seiner zweiten Florentiner Zeit entwarf Leonardo das Szenarium eines gewaltigen Gewitters über einer Stadt am Fuß des Gebirges. Die gängige Lokalisierung des Unwetters über einem Gebirgstal trifft den Sachverhalt dieser Zeichnung nicht, weil es in so abgelegenen Dörfern keine Kuppelbauten und Festungstürme gibt. Auch dieses Blatt ist daher ein exemplarisches „Gedankenexperiment“, keine meteorologische Bestandsaufnahme, sondern die Schilderung eines inneren Erlebnisses. Der Dramatik des Geschehens kann sich kein Betrachter entziehen. Die Wassermassen, die auf die wehrlose Siedlung herabstürzen, wirken wie ein Blutregen aus Wolken, die sich in kriegerischen Formationen zusammengeballt haben und bis zum Horizont emportürmen. Die Behausungen darunter sind besiegt und unterworfen, wie die Fußsoldaten im „Kampf um die Standarte“, den Leonardo um dieselbe Zeit bei Santa Maria Novella auf den Riesenkarton bannte. Sie können sich nur wegducken in diesem Toben der Elemente und darauf hoffen, verschont zu bleiben.

Etwa ein halbes Jahrzehnt später nahm Leonardo das Thema mit drei Variationen wieder auf. Die oberste Zeichnung zeigt, wie sich aus eichenblattartigen Sturmwolken lockenförmige Regenströme herauswinden und mit so ungeheurer Gewalt auf eine Stadt mit befestigter Burganlage stürzen, dass sich nach dem Aufprall regelrechte Wasserpilze bilden, die ihrerseits wieder zum Himmel emporzusteigen beginnen. Menschen sind in diesem ersten Inferno der Zerstörung nicht auszumachen, wohl aber in der zweiten Version. Hier ist die Verdichtung explosiver Masse am Himmel noch viel weiter vorangeschritten. Aus einem vulkanartig brodelnden Gemenge von züngelnden Schlangenlocken, blütenartigen Wirbeltrichtern und gezackten Rosetten werden Blitze in Stachelgarben abgeschossen, die unten auf Berge und Seen, seitwärts auf Strichmenschen treffen, die in ohnmächtigem Flehen die Arme nach oben recken oder wie Reptilien schutzsuchend auf dem Boden kriechen, bevor sie wie Ameisen in einer Pfütze ersäuft werden. Gegen diesen himmlischen Geschosshagel hilft weder Schild noch Festung. Dabei kontrastiert die phantastische Schönheit der Himmelsbatterien mit der Formlosigkeit der verlorenen Kreaturen. Die dritte Variation zeigt eine Wasserhölle. Vor den Ertrunkenen steht einer der letzten Überlebenden mit der Brust zur herabstürzenden Regenfront, als wollte er sie in einem letzten verzweifelten Rettungsversuch abwehren. Doch die Intervention kommt zu spät, die Fluten haben den Erdboden bereits erreicht und werden ihn binnen Kurzem davonspülen. Von Mitgefühl mit den Verlorenen ist auch hier keine Spur: Leonardo steht eindeutig auf der Seite der Naturkräfte, die die Erde von dem misslungenen Geschöpf Mensch reinigen und befreien.

Der Untergang des Menschen und der von ihm geschaffenen Werke hat Leonardo bis zu seinem Tod leidenschaftlich beschäftigt, wie zehn Zeichnungen aus den Jahren am französischen Hof belegen, die er mit „Sintflutstudien“ betitelt hat. Auf diesen Zeichnungen ist die Übermacht der Elemente noch erdrückender. Auf dem ersten der Blätter werden die zu Bauklötzen geschrumpften Heimstätten der Menschen oben, an den Seiten und vorne von Wassermassen eingekreist, die wie ein unwiderstehliches Heer auf sie einstürmen und sie in wenigen Augenblicken überspült haben werden; am rechten unteren Bildrand hebt sich eine Burganlage auf einem Hügel noch über die gefräßigen Strudel hinaus, doch auch dieses scheinbar uneinnehmbare Refugium wird nicht dem allgemeinen Untergang entkommen. Die zweite Zeichnung zeigt, wie sich die gewaltigen Kräfte der entfesselten Natur untereinander bekämpfen; so trifft eine gewaltige Wasserlocke, die sich aus überdimensionalen Eichenblattwolken herauskrümmt, auf tobende Stromschnellen, vor denen eine Regenwand wie herabfallendes Haupthaar vorbeizieht. Doch auch wenn sie sich zeitweise hemmen, blockieren oder aufheben, den destruktiven Furor der Wassermassen zähmt nichts und niemand, dazu ist ihre Gewalt zu groß.

Besonders unheimlich muten sichelförmige Regenkaskaden an, die auf dem dritten Blatt wie ein unaufhaltsamer Himmelstsunami auf eine Landschaft zurasen, deren Bäume brüchig wie Streichhölzer sind. Die Wassersensen werden sie wie Grashalme abmähen und alles vernichten, was hienieden kreucht und fleucht. Ob Felsquader zerlegt und durch die Luft geschleudert werden oder ganze Landschaften in Stromwirbeln versinken - alle diese Untergangsszenarien sind von erhabener Schönheit. So zeigt die Natur im Augenblick der Vernichtung ihre andere, schöpferische Seite. Ob die Spezies Mensch, die sich so heillos überschätzt, den großen Akt der Säuberung übersteht, ist offen und letztlich auch unerheblich. Die Erde selbst ist unzerstörbar, das Leben auf ihr geht weiter.“

 

Nachleben

 

Die Größe eines Menschen für die Nachwelt besteht darin, welche Gedanken in der Zeit gerade aktuell sind und wie Mensch und Gedanken beworben werden. Sehr schön beschreibt das Volker Reinhardt im Fall Leonardo da Vinci, der zeitweise in Vergessenheit geriet:

„… Leonardos nie sehr gefestigter Ruf begann bald zu verblassen ...

Dazu trug die Lebensbeschreibung Vasaris in den beiden Versionen von 1550 und 1568 entscheidend bei. In dieser „Biographie“ wurde dem Publikum alles geboten, was der scheinbar gesunde Menschenverstand an plausiblen Erklärungen verlangen konnte: Wer die Normen einer so ruhmreichen Zeit wie der Gegenwart mit Füßen trat und sich so verdächtige Tätigkeitsfelder suchte wie Leonardo, war vom rechten Weg abgewichen und hatte dafür zu bezahlen: mit einem letztlich verpfuschten Leben, der Geringschätzung der Mächtigen und Wohlgesinnten und wahrscheinlich auch mit der passenden Strafe im Jenseits. So gewann das Bild des Exzentrikers, der von der Natur so überreich beschenkt wurde, dass er das eigene Streben darüber vernachlässigte, für lange Zeit kanonische Gültigkeit. Vasari glaubte an den Fortschritt der Künste in Italien und ihre Vollendung unter dem göttlichen Michelangelo, an die Unverlierbarkeit der in drei Jahrhunderten gewonnenen Kultur und ihrer Techniken und damit an deren Erlernbarkeit. Die Zeit der Akademien war damit angebrochen. Das alles stand in unüberbrückbarem Gegensatz zu Leonardo, der nur die Natur als Lehrmeisterin und ihre Beobachtung als wahre Schulung anerkannte.

Für die Kunsttheorie des siebzehnten Jahrhunderts, die sich spätestens mit der Gründung der Königlichen Kunstakademie im Jahre 1643 schwerpunktmäßig nach Frankreich verlagerte, war Leonardo, der Maler, daher kaum von Interesse - im Gegensatz zu Leonardo, dem Kunsttheoretiker, dessen Ideen nach jahrzehntelangen Vorbereitungen 1651 unter dem Titel Buch über die Malerei im Druck erschienen … Sein Band wurde für anderthalb Jahrhunderte ein Langzeit-Bestseller in der Sparte „Kunstliteratur“; nicht weniger als zweiundsechzig Auflagen und Übersetzungen in mindestens fünf Sprachen sind belegt. Nachdem der Maler Leonardo da Vinci, falls er überhaupt zur Kenntnis genommen wurde, eher als ein Beleg für die Schädlichkeit allzu kühner Einfälle gegolten hatte, wurde der Theoretiker jetzt zum Kronzeugen für eine regelhafte, lernbare, an der Nachahmung der Natur orientierte, methodisch vertiefte und durch sorgsame Beobachtung geadelte akademische Kunst erhoben: eine der seltsamsten Vereinnahmungen in der unendlichen Geschichte der Leonardo-Erfindungen …

Dem achtzehnten Jahrhundert, das nicht mehr die Vergegenwärtigung edler Affekte, sondern die Darstellung von Tugend und Harmonie forderte, hatte Leonardo nichts Neues zu sagen; wenn sein Name in Theoriediskursen überhaupt erscheint, dann weit abgeschlagen hinter Raffael, der diese Ideale perfekt versinnbildlichte. Es waren elementare Umbrüche in Geschmack, Gefühl und Ideologie nötig, um den scheinbar ein für alle Mal abgetanen Leonardo zu neuer, produktiver Aktualität zu erwecken.

Dieser Umschwung wurde durch die Hinwendung zu einer heroisch überhöhten Antike vorbereitet, wie sie in den Bildern eines Jacques-Louis David seit den 1780er-Jahren Ausdruck fand. Hinzu kam der Kult des Originalgenies, der sich in der Wiederentdeckung Shakespeares und anderer Künstler manifestierte, die nach herkömmlicher Meinung nicht regelkonform genug waren. Als mit der Französischen Revolution nicht nur die ständische und politische Ordnung, sondern auch die Ästhetik des Ancien Regime gestürzt wurde, war der Boden für eine Neuentdeckung Leonardos bereitet. So wurden während der 1790er-Jahre durch emsige Forschungen in Mailänder Archiven und Bibliotheken wichtige Zeichnungen gefunden und durch Stiche verbreitet; damit kam erstmals eine Ahnung von einem anderen Leonardo, dem Beobachter und Erforscher der Natur und ihrer Erscheinungen, auf.

In den Studien Giovanni Battista Venturis von 1797 erscheint Leonardo erstmals als Bahnbrecher einer neuen, auf Erfahrung und mathematische Präzision gegründeten Naturwissenschaft. Damit öffnete sich das wichtigste, bis heute nicht zu Ende geschriebene Kapitel der Leonardo-Mythen: Leonardo avancierte zum Vorläufer der newtonschen Gravitationstheorie sowie der modernen Mechanik und Hydraulik und schließlich zum ersten und größten aller Naturforscher überhaupt. Nach dem Sturz der aristokratischen Ordnung lechzten die Intellektuellen nach alternativen Helden, die ihren Ruhm nicht mit dem Schwert in der Hand verdient hatten, sondern durch nützliche Tätigkeiten, also durch Forschung und Belehrung des Menschengeschlechts. Als Objekt dieser Verehrung bot sich Leonardo, das so lange verkannte Genie, jetzt von selbst an, vor allem im französisch beherrschten Italien zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts …

Der italienische Gelehrte, der seiner Nation ihren großen Sohn Leonardo wieder zurückgab, hieß Giuseppe Bossi und war mit romantischen Literaten des frühen Risorgimento wie Ugo Foscolo und Alessandro Manzoni befreundet. Solae Italiae gloria - alles zum Ruhm Italiens, unter diesem Motto widmete sich Bossi theoretisch und praktisch der Wiederauferstehung des untergegangenen Leonardo, zum Beispiel mit einer Ölversion von dessen „Abendmahl“, die den Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs zum Opfer gefallen ist. Seine Studien zu diesem Gemälde vertiefte Bossi in einem vierbändigen Werk, in dem er Vasaris Karikatur Leonardos als kapriziöser Talentverschwender widerlegen wollte. Leonardos weitgehend zerfallenes Meisterwerk wurde unter seiner Feder zu einem Meilenstein der abendländischen Kunst.

Bossis Studien wurden 1817 durch Johann Wolfgang von Goethes Essay über das „Abendmahl“ einem breiten europäischen Publikum bekanntgemacht. Goethe hatte schon dreißig Jahre zuvor bei seinem Besuch in Mailand seine Bewunderung für die erhabene Bildruine bekundet. Jetzt lieferte er auf der Grundlage von Bossis gelehrt-pedantischen Studien eine packende Deutung des Dramas, das sich an der letzten gemeinsamen Tafel Christi und der Apostel abspielte. Psychologisch einfühlsam deutete er das Werk als erhabenes Vorbild und eindringliche Mahnung für die Mönche, die in seinem Anblick speisten, ihr einfaches Mahl nebst Tellern und Gläsern darin gespiegelt sahen und von der Wucht des Augenblicks, in dem Christus den Verrat eines Jüngers ankündigt, ergriffen und geläutert werden sollten. Durch Goethes Vermittlung wurde Leonardo, was er im Gegensatz zu Michelangelo und Raffael bislang nicht gewesen war: ein scheinbar gesichertes Bildungsgut des Bürgertums.

Eine ähnliche Rolle spielte Stendhal (1733-1842) für Frankreich, wo Leonardos wichtigste Gemälde seit 1803 im neu eingerichteten öffentlichen Museum des Louvre erstmals von einem größeren Publikum in Augenschein genommen werden konnten. Stendhal suchte in Italien, was seiner Ansicht nach in Frankreich durch die soziale und kulturelle Dominanz des Besitzbürgertums verloren gegangen war: lodernde Leidenschaften, deren elementare, auch destruktive Wirkungen er mit psychologischem Scharfblick sezierte und zugleich heroisierte. Unter diesem Blickwinkel wurde Michelangelo sein Kronzeuge, doch fiel auch für den sanften und gesitteten Leonardo ein ehrenvoller Platz ab. In Stendhals Augen vermenschlicht er in seinem „Abendmahl“ das sakrale Geschehen radikal. Christus ist ein enttäuschter Idealist, der seine Vision der Bruderliebe und Solidarität von Judas verraten sieht und daraufhin jeglichen Lebenswillen verliert. Leonardo malt laut Stendhal also nicht den Beginn einer Passion, die den Menschen durch das freiwillige Opfer des Gottessohns die unverdiente Vergebung ihrer Sünden beschert, sondern die Menschheit, wie sie wirklich ist, und das Leiden hochgesinnter Naturen an diesem beschämenden Zustand. So ist der seelenzergliedernde Romancier einer der ersten, der Leonardo als Maler christlicher Szenen ohne christliche Glaubensüberzeugung deutete.

Kurz darauf wurde Leonardo an vorderster Front in zwei eng miteinander verknüpfte Debatten des neunzehnten Jahrhunderts verwickelt und gewann dadurch eine vorher nie gekannte Prominenz. Die erste, nur scheinbar rein wissenschaftliche Kontroverse entzündete sich an der Frage, ob die „Renaissance“, die jetzt als Epoche erfunden wurde, christlich oder heidnisch war. Je nachdem, wie man darauf antwortete, begann die Moderne im Geist der Kontinuität oder als Rebellion gegen eine erstarrte christliche Kultur, im fließenden Übergang oder als jäher Aufbruch zu neuen Horizonten. Dahinter stand der überall in Europa ausgetragene Kulturkampf zwischen Konservativen und Liberalen um die Deutungshoheit über die Geschichte, die allein zur Gestaltung von Gegenwart und Zukunft ermächtigte. Mit diesen weltanschaulichen Aspekten waren ästhetische Grundfragen eng verknüpft: War wahre Kunst regelhaft, oder zeigte sich das Genie im Mut zur Abweichung, ja sogar in der Darstellung des Hässlichen und Abseitigen? In allen diesen Auseinandersetzungen wurde Leonardo zum wichtigsten Gewährsmann einer neuen Zeit, eben der Renaissance, die sich angeblich vom Ballast einer verkrusteten Tradition befreite, die Unverwechselbarkeit des Individuums und die Hinfälligkeit überkommener Dogmen entdeckte, sich der Erforschung der Welt und des Menschen, wie er wirklich war, zuwandte und nach einer neuen Ganzheitlichkeit strebte.

Dieses Bild Leonardos als „Universalgenie“ der Renaissance entwarf zuerst der liberale französische Historiker Jules Michelet, der mit dieser Geschichtskonstruktion für die Erziehungs- und Kulturhoheit des säkularen Staates und gegen den Einfluss der Kirche, speziell der Jesuiten, auf Schulen und Universitäten Stellung bezog. Noch einflussreicher wurde Jacob Burckhardts 1860 erschienenes Buch Cultur der Renaissance in Italien. Darin vermittelte der Basler Historiker und Kunsthistoriker einem breiteren europäischen Bildungspublikum die Renaissance als kühnen Aufbruch in die Moderne unter dem Vorzeichen von Schönheit und Grauen, Erhabenheit und Abgefeimtheit. Burckhardt machte ausgerechnet Leonardo, den von den Humanisten geschnittenen lebenslangen Außenseiter, zum humanistischen uomo universale, zur Idealinkarnation des neuen Bildungsideals des vollkommenen Menschen und begründete damit einen Mythos, der bis heute ungebrochen fortlebt …

Alle diese Entwürfe und Projektionen beruhen auf Deutungen seiner Gemälde. Das riesenhafte Korpus der Notizhefte trat erst am Ende des neunzehnten Jahrhunderts allmählich ins Blickfeld einer Leonardo-Forschung, die sich mit der Sammlung und Erschließung dieser Überlieferung neu ausrichtete. Nun konzentrierte sich das Interesse auf Leonardo, den Techniker, Anatomen und Naturforscher, der bislang allenfalls eine Nebenrolle gespielt hatte. Gleichzeitig begannen vor allem Mailänder Lokalhistoriker damit, in verstaubten Archiven die nüchternen Zeugnisse seines Lebens zu sammeln und herauszugeben. Pionierleistungen auf diesem Gebiet waren die Entzifferung und Herausgabe sämtlicher Texte Leonardos durch Jean Paul Richter, die erstmals 1883 erschienen und 1977 von Carlo Pedretti grundlegend korrigiert und überarbeitet wurden, sowie die 1910 publizierte Quellensammlung Luca Beltramis. Alle drei Editionen sind bis heute für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Leonardo unverzichtbar …

Mit der fortschreitenden Erschließung und Verbreitung von Leonardos Aufzeichnungen brach sich die nächste große Mythenbildung Bahn: Leonardo avancierte zum Pionier der modernen Ingenieurskunst. Diese wahrscheinlich folgenreichste Verzerrung des historischen Leonardo fand bezeichnenderweise im faschistischen Italien der 1930er-Jahre statt, das damit seine eigene Fortschritts- und Zukunftsfähigkeit unter Beweis stellen und seinen unverlierbaren Primat als erste Kulturnation der Welt verkünden wollte. Zu diesem Zweck wurde von Mai bis Oktober 1939 auf Befehl Mussolinis eine große Leonardo-Ausstellung organisiert, an der allerdings auch spätere Antifaschisten beteiligt waren …

Die bei Weitem größte Resonanz findet in Zeiten rasanten naturwissenschaftlichen Fortschritts der Mythos von Leonardo dem Meistertechnologen und großen Vorwegnehmer bahnbrechender Entwicklungen. Offenbar brauchten die Ingenieur- und Computerwissenschaften des späten 20. Jahrhunderts als Gegenpol zu ihren nüchternen und anonymen Methoden das Urbild des Meisterdenkers, der mit seinem kühnen Ideenflug die Zeiten zu überspringen vermag und als herausragende Vorläufer- und Ahnenfigur die Leistungen der Gegenwart damit rechtfertigt und adelt. Das war und ist quasireligiöse Sinnstiftung in einer geheimnisarmen Zeit, die nach Wiederverzauberung lechzt. Der Erwerb des Codex Leicester durch den IT-Magnaten Bill Gates 1994 war gewissermaßen das Siegel unter diese Erfindung einer Tradition, die von Leonardo zu den erfolgreichen Garagentüftlern des digitalen Zeitalters führt. Von da aus war es wiederum nur ein kleiner Schritt zu Leonardo als dem größten Genie der Menschheitsgeschichte. So lautet die Standardtitulierung Leonardos im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert, das damit sich selbst viel mehr verherrlicht als Leonardo, nach dem Muster: Dieser ist groß, weil er uns vorweggenommen hat. Zugleich wird auch das alte Bild von Leonardo als dem Träger geheimen subversiven Wissens maßlos überhöht, etwa in Dan Browns 2003 erschienenem Thriller und Weltbestseller The Da Vinci Code. Welchen Marktwert Leonardo im einundzwanzigsten Jahrhundert besitzt, zeigte die Versteigerung des angeblich von ihm stammenden Bildes „Salvator Mundi“ am 15. November 2017 - sie erzielte 400 Millionen Dollar und damit einen Rekordwert. Dabei ist die Zuschreibung an Leonardo alles andere als sicher. Ernstzunehmende Stimmen gehen allenfalls von einer Beteiligung des Meisters, im Wesentlichen aber von einer Werkstattarbeit aus, zumal keine sicheren Quellen vorliegen und daher auch keine belastbaren Datierungen möglich sind.

Der Spitzenplatz in der menschlichen Kulturgeschichte, der Leonardo damit eingeräumt wird, ergibt im einundzwanzigsten Jahrhundert sogar Sinn. Für eine Gegenwart, die sich ganz überwiegend durch Technologie, nicht selten sogar durch den reinen Besitz technologischer Novitäten definiert, muss der vermeintliche Meistererfinder Leonardo der Größte sein. Damit ist eine eklatante Abwertung der Wortkultur verbunden. Im Zeitalter der Digitalisierung ist die Übermittlung von Botschaften wichtiger geworden als diese selbst. Sprache als Ausdruck von Individualität oder gar moralischer Qualitäten ist abgewertet, ja der Lügenhaftigkeit verdächtig, ausgefeilte Rhetorik als Verschleierung tatsächlicher Sachverhalte denunziert. Im zweiten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts gilt als wahr, was technisch machbar ist - was die tiefe Sehnsucht nach Mysterien jenseits des materiell Beweisbaren nicht ausschließt: Für beides ist Leonardo Quelle und Inspiration zugleich.“

 

 

Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm