Dickens

Charles John Huffam Dickens, (als Pseudonym auch Boz; * 7. Februar 1812 in Landport bei Portsmouth, England; † 9. Juni 1870 auf seinem Landsitz Gads Hill Place in Higham bei Rochester, England) war ein englischer Schriftsteller.

Ihm wird große literaturgeschichtliche Bedeutung beigemessen. 2015 wählten 82 internationale Literaturkritiker und -wissenschaftler vier seiner Romane zu den bedeutendsten britischen Romanen: David Copperfield, Bleak House, Große Erwartungen und Dombey und Sohn. Zu seinen bekanntesten Werken gehören außerdem Oliver Twist, Eine Geschichte aus zwei Städten und A Christmas Carol.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Dickens

Vor 150 Jahren ist Charles Dickens gestorben. Leider gehört er nicht zu den großen Humanisten, hat aber soziale Themen bzw. Ungerechtigkeiten in das kollektive Bewusstsein seiner Leser gebracht wie wohl kein Literat vor ihm und nur wenige nach ihm.

 

Tilman Spengler in „Klassiker der Weltliteratur“:

 

https://www.youtube.com/watch?v=qwmbIp7cX2I

 

 

Markus Gasser: „Extravagant virtuos, ist Charles Dickens noch heute der populärste Romancier Großbritanniens: Wie macht er das nur? Eine Neuübersetzung seines Romans „Große Erwartungen“ offenbart sein Geheimnis.“

 

https://www.youtube.com/watch?v=vBAQ5O-2gmk

 

Petra Lohrmann: „Ein Leitmotiv seiner Romane, die durchgängig auch stark autobiographisch geprägt sind, ist die Figur des kindlichen Räubers und Vagabunden. Der Bekannteste unter ihnen ist Oliver Twist. Die Bitte des kleinen Oliver im Armenhaus um einen Nachschlag bei der Essenszuteilung:

Please, Sir, I want some more“, ist nicht allein die treffende Charakterisierung eines hungrigen Waisenkindes, das gegen sein Schicksal aufbegehrt und versucht, seine Bedürfnisse höflich und doch unmissverständlich zu formulieren.

In seiner Bitte artikuliert sich der verzweifelte Schrei der hungernden englischen Unterschichten, und der Schlag mit dem Kochlöffel auf Olivers Kopf, mit dem seine Bitte quittiert wird, ist Symbol für die menschenverachtende Gewalt der staatlichen Institutionen und ihrer Vertreter. Weil diese Bitte Olivers vom zeitgenössischen Publikum auch als Anklage gegen die Grausamkeit des Staatsapparates und als Appell zur Verwirklichung der Menschenrechte gelesen wurde, ist sie ins kollektive Gedächtnis eingegangen ...

Wie kein anderer Autor im 19. Jahrhundert hat sich Dickens kritisch mit dem Thema Kinder und Kindheit in der Frühzeit des industriellen Kapitalismus in England auseinandergesetzt, und mit seiner Kritik an den menschenunwürdigen, Kinder verachtenden Institutionen wie „workhouses“ oder „ragged schools“ zu den realhistorischen Reformen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beigetragen.

Viele seiner Charaktere wurden Teil der britischen Kultur, manche der skurrilen Namen fanden Eingang in die Alltagssprache, aber auch literaturgeschichtlich sind Dickens´ Romane wegweisend. Ein absolutes literarisches Novum war beispielsweise die Erzählung von Paul Dombeys Tod aus der Perspektive des Kindes.

Bis heute begeistern, rühren und berühren Dickens´ Romane mit ihren unvergesslichen Protagonisten ihre Leserschaft, und sie klären auf – im besten Sinne des Wortes."

https://www.gute-literatur-meine-empfehlung.de/autoren-a-l/dickens-charles/charles-dickens-ein-autorenportr%C3%A4t/

 

https://www.youtube.com/watch?v=uI5YaOy7_Us

 

Oliver Bentz: „Als Charles Dickens am 9. Juni 1870 auf seinem Landsitz Gads Hill Place im Süden Englands an den Folgen zweier Schlaganfälle starb, war er der bedeutendste Romancier seines Landes. Noch heute kommt in der Hierarchie der Literaten Englands Charles Dickens gleich nach William Shakespeare, und in der englischsprachigen Welt wird der Name des Schriftstellers, den manche im deutschsprachigen Sprachraum noch immer bisweilen für einen Kinderbuchautor halten, in einem Atemzug mit James Joyce und Franz Kafka genannt.

Sein Buch "Oliver Twist" machte ihn weltberühmt, seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt und gaben die Vorlage für erfolgreiche Bühnen- und Filmadaptionen. Romanfiguren aus seiner Feder wie David Copperfield, Uriah Heep oder Ebenezer Scrooge gingen in die Weltliteratur ein. Sein russischer Kollege Leo Tolstoi sah in dem Autor von 15 Romanen den größten Schriftsteller des 19. Jahrhunderts.

Am 7. Februar 1812 in Landport bei Portsmouth als zweites von acht Kindern des meist mittellosen Marineschreibers John Dickens und seiner Frau Elizabeth geboren, sprach jedoch zunächst nicht viel für eine spätere literarische Karriere des jungen Charles. Musste ihn doch sein Vater, der ständig bis über beide Ohren verschuldet gewesen und 1823 schließlich mit der gesamten Familie - außer Charles - sogar ins Schuldgefängnis gewandert war, für einige Monate zum Geldverdienen als Hilfsarbeiter in eine Schuhwichsfabrik schicken.

Eine traumatische Erfahrung für den Elfjährigen, die er noch viele Jahre später als großen Schock und tiefe Demütigung beschrieb und die auch in manchem seiner Texte aufscheinen sollte, in denen sich Menschen oft gegen eine übermächtige Fremdbestimmung behaupten müssen. Trotz dieser eher widrigen Voraussetzungen verfasste Dickens schon im Alter von elf Jahren seine ersten literarischen Charakterskizzen, die der genauen Beobachtung seiner Umwelt entsprangen.

Mit fünfzehn Jahren begann Dickens sein Berufsleben als Schreiber in einer Anwaltskanzlei. Daneben arbeitete er regelmäßig als Stenograph von Gerichtsverhandlungen, ab 1829 auch von Parlamentssitzungen. Ab 1831 schrieb er als Reporter für die Zeitung "True Sun" und später für den "Morning Chronicle". Unter dem Pseudonym "Boz" veröffentlichte Dickens seine literarischen Skizzen des Londoner Alltagslebens, die zunächst 1834/35 unter dem Titel "Sketches" in Fortsetzungen und 1836 unter dem Titel "Sketches by Boz" (dt. "Londoner Skizzen") in Buchform erschienen.

Erste Sporen als Schriftsteller verdiente er sich dann mit seinen "Pickwick Papers" ("Die Pickwickier"), einem Fortsetzungsroman, zu dem ihm ein Verlag nach der positiven Aufnahme seines Erstlingsbuches den Auftrag gab und der zunächst zwischen März 1836 und Oktober 1837 in zwanzig Teilen monatlich erschien und danach gleich als Buch herauskam. Der humoristische, in einer gemütlich-heiteren Stimmungslage gehaltene Roman, dessen zentrale Themen Freundschaft und Vergebung sind und der gleichzeitig eine scharfsinnige Karikatur der englischen Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts ist, machte ihn mit 24 Jahren praktisch über Nacht bekannt.

Im Jahr darauf ließ er gleich seinen Roman "Oliver Twist" folgen, der auch in den USA großen Anklang fand, Dickens internationale Berühmtheit verschaffte und ihm fortan eine breite Leserschaft sicherte. Das Buch schildert den Weg des gleichnamigen Romanhelden, der als Findelkind im Armenhaus einer englischen Kleinstadt aufwächst, aus den Fängen seines brutalen Lehrherrn nach London flüchtet und im Moloch der Großstadt an den skrupellosen Hehler Fagin gerät, der ein seltsames Interesse daran zu haben scheint, ihn in die Welt des Verbrechens hineinzuziehen. Wegen seiner präzisen Milieuschilderungen, die mit zum Teil drastischer Darstellung von Kinderarbeit, Verbrechen und Pauperismus zur Zeit der Frühindustrialisierung erhebliches Aufsehen erregten, und seines auf der anderen Seite vorhandenen entwaffnenden Sinns für skurrile Komik zählt "Oliver Twist" bis heute zu den bedeutendsten und beliebtesten Romanen der englischsprachigen Literatur.

Wie seine bisherigen Bücher erschienenen auch die meisten Romane, die Dickens in den folgenden Jahren verfasste, zuerst als Fortsetzungsgeschichten in Zeitschriften - ein nicht unerheblicher Grund dafür, dass er mit seinen Büchern so erfolgreich werden sollte und der literarischen Gattung des Romans in seiner Zeit zu besonderer Stellung verhalf. Denn Dickens war nicht nur ein Schriftsteller von hervorragender literarischer Qualität. Auch die Art, wie er seine Romane veröffentlichte und vertrieb, war in England damals neu und revolutionär und trug ebenfalls zum großen Erfolg dieses Autors bei. Die monatlich gedruckten Folgen kosteten nicht viel Geld, sodass sie sich alle Gesellschaftsschichten bis in die untere Mittelklasse hinein leisten konnten. Monat für Monat wartete somit eine breite Leserschaft gespannt auf die nächste Fortsetzung von Dickens’ Geschichten, der oft an mehreren Büchern gleichzeitig arbeitete und viele seiner großen Romane auf diese Weise in fieberhaftem Tempo schrieb.

Die Stoffe für seine Bücher fand der Autor meist in London, der Hauptstadt seiner Texte. Als Fußgänger, der - im Gegensatz zum sich treiben lassenden Flaneur - schnellen Schritts zur Tag- und vor allem auch zur Nachtzeit die Metropole durchstreifte, sah er die gesellschaftlichen Verwerfungen seiner Zeit. Das ärmliche Leben der Arbeiter im Londoner Hafenviertel und das Milieu der Gauner und Taschendiebe hinterließen dabei ebenso tiefen Eindruck bei Dickens wie die seinerzeit herrschende Ausbeutung durch Kinderarbeit. In seinen Geschichten nahm er diese Themen mit großem Einfühlungsvermögen auf und verfolgte mit ihnen die moralische Absicht, das Gewissen seiner Zeitgenossen für die skandalösen sozialen Probleme des frühindustriellen England zu sensibilisieren.

So gilt Dickens, der mit seinen ungeschminkten Schilderungen von Kinderarbeit, Kriminalität und Ungerechtigkeit die Brutalität einer Gesellschaft gegenüber Armen und Schwachen thematisiert und sich auf deren Seite stellte, als Begründer des sozialen Romans. Viele seiner Werke kreisen um die Frage, was Industrialisierung und kapitalistisches Wirtschaftssystem für den Einzelnen bedeuten. Dabei schafft es Dickens, in seinen Texten Rührseligkeit, Grausamkeit, einen manchmal bis zum Grotesken gesteigerten Humor und eine schier endlose Phantasie auf eine ihm höchst eigene Weise zu verquicken. Durch sein Aufzeigen sozialer Missstände in der mittleren und unteren Gesellschaftsschicht Londons gab er mit seinen literarischen Werken den Anstoß zu einigen Sozialreformen.

Als Dickens versteckte Biografie gilt der 1850 in Buchform erschienene Bildungsroman "David Copperfield", den er selbst als sein Lieblingswerk bezeichnete. Wie der Autor arbeitet sich auch die Romanfigur, ein intelligentes und sensibles Kind, trotz der im lieblosen Elternhaus erlittenen Demütigungen in Kindheit und Jugend vom Anwaltsgehilfen zum Reporter und schließlich zum erfolgreichen Schriftsteller empor. Nach Charlotte Brontës "Jane Eyre" war "David Copperfield" auch der erste Roman, in dem ein Kind erzählte und dabei ernst genommen wurde. Als Dickens reifstes Werk sehen viele Kritiker sein 1861 erschienenes Buch "Great Expectations" ("Große Erwartungen"), in dem er, wie schon in "David Copperfield" und in "Hard Times" ("Schwere Zeiten") (1854), das entbehrungsreiche Leben der englischen Unterschicht im 19. Jahrhundert vor die Augen der zeitgenössischen Leserschaft bringt. In ihm vereinigen sich die Vorzüge seiner frühen Bücher, die ursprüngliche Sicht der Dinge und der ungestüme Stil, mit der reifen Könnerschaft seiner späten Jahre. Das Buch dreht sich, wie so oft bei Dickens, um Kindheit und Erwachsenwerden, um Arm und Reich, um Klug und Dumm, um Gut und Böse. Die Erlebnisse des armen Waisen Pip, der durch einen Wohltäter zu Geld kommt und zum Snob wird, aber später geläutert zu seinen Wurzeln zurückfindet, vermitteln dem Leser, dass es oft nicht die großen Schurkereien sind, die Menschen zu Fall bringen, sondern die kleinen Fehler und Schwächen des menschlichen Herzens, vor denen keiner gefeit ist.

Charles Dickens 1843 erstmals erschienenes Buch "A Christmas Carol" ("Eine Weihnachtsgeschichte"), die in England jedes Kind kennt, ist seit Generationen der Klassiker unter den literarischen Werken rund um das Weihnachtsfest. Der Geist der Weihnacht ist in diesem Buch - das der Autor in nur sechs Wochen niedergeschrieben hat und das manche unter Kitschverdacht stellen - wörtlich zu nehmen, denn er erscheint dem geizigen, verbitterten alten Scrooge und macht aus ihm als wahres Weihnachtswunder in nur drei Nächten einen gütigen, wohltätigen Mann mit einem großen Herzen.

Die 6000 Exemplare der Erstauflage des Buches, das daran erinnert, dass Weihnachten eigentlich für die Liebe steht und dafür, füreinander da zu sein, war schnell vergriffen, und innerhalb eines Jahres gab es fünf weitere Auflagen. Vier weitere Weihnachtsbücher ließ Dickens noch folgen und veröffentlichte zudem jedes Jahr Geschichten zum Fest in Magazinen. "Ich will keine Lücke entstehen lassen", nannte der geschäftstüchtige Autor als Grund für seine dauerhafte literarische Konzentration auf dieses Thema.

Im Jahr 1868 kaufte der gefeierte und wohlhabende Autor Dickens das Anwesen Gads Hill Place bei Rochester, auf dem er ab 1860 lebte. Für die Schauspielerin Nelly Ternan hatte er 1858 seine Frau Catherine verlassen, mit der er seit 1838 verheiratet gewesen war. In seinem gastfreundlichen Haus verkehrte ein großer Freundeskreis, und der schauspielerisch begabte Dickens, der wohl auch ein famoser Vorleser war, veranstaltete dort Lesungen aus seinen Werken.

Als der Autor 1870 im Alter von 58 Jahren starb, war er der hervorragende Romancier Großbritanniens. Karl Marx würdigte ihn und sein Werk mit den Worten: "Er gehört zu jener glänzenden Schule der Romanschriftsteller in England, deren fein gezeichnete und beredte Schilderungen der Welt mehr politische und soziale Wahrheiten enthüllt haben als alle professionellen Politiker, Publizisten und Moralisten zusammengenommen."“

https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/wissen/geschichte/2063022-Charles-Dickens-Auf-der-Seite-der-Schwachen.html

 

https://www.youtube.com/watch?v=npi2UQ2umZc

 

Aus dem Buch „Charles Dickens – der Unnachahmliche“ von Hans-Dieter Gelfert aus dem Jahr 2011

 

Das Ziel des vorliegenden Buches ist es, neues Interesse für einen der größten Prosadichter der englischen Sprache – wenn nicht den größten überhaupt – zu wecken. Wer die Beschwörungskraft von Dickens‘ Sprache, ihre geniale Sprachkomik und ihre von heiterer Skurrilität bis zu makabrem Grausen reichende Ausdrucksskala im Original kennt, wird jeden Übersetzer bedauern, der sich daran versucht. Der volle Genuss dieser Sprache ist nur im Original zu haben, während sich der tiefere Gehalt der Werke auch aus Übersetzungen entnehmen lässt – vorausgesetzt, man ist bereit und willens, über die Ausbrüche von Pathos und Sentimentalität hinwegzusehen, die den heutigen Leser erst einmal abschrecken. Lässt man sich dann aber in die Romane hineinziehen, wird man in ihnen eine in Bilder übersetzte Weltsicht finden, die eher an Kafka als an die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts erinnert. Diese vom viktorianischen Gewand verdeckte Modernität des Dichters harrt in Deutschland noch immer der Entdeckung.“

 

Was sprachliche Komik angeht, gibt es wenige, die an Dickens heranreichen. Er versteht es meisterhaft, seinen Figuren eine eigene Sprache, einen Idiolekt, zu geben, indem er individuelle Sprachmarotten mit Elementen des Londoner Stadtdialekts mischt. Auch wenn er als Erzähler selber spricht, beherrscht er die Kunst, mit überraschenden Formulierungen, Wortspielen und Doppeldeutigkeiten humoristische Wirkung zu erzielen.“

 

Über „Nicholas Nickleby“: „Der Reiz des Romans liegt in seiner typischen Dickensqualität. In dem fantasievollen Bilderbogen skurriler, grotesker und satirisch überzeichneter Figuren, die eingebett sind in ein Wechselbad von aggressiver Sozialkritik und sentimentalem Melodrama. Es ist eine Mischung, die fortan zum Markenzeichen aller Dickensromane wurde.“

 

Anlässlich von Dickens‘ 100. Todestag wurde in der deutschen Presse zwar auf amerikanische Literaturkritiker verwiesen, die für den Viktorianer Modernität reklamierten und ihn in einem Atemzuge mit Kafka und Joyce nannten, doch das vorherrschende Bild blieb hierzulande weiterhin das des sozialkritischen Humoristen, dem die Patina eines Klassikers anhaftete. Es ist zu befürchten, dass der 200. Geburtstag im Zeitalter der Postmoderne noch weniger zu einer Neubewertung führt. 1970 konnte man Dickens noch als engagierten Autor lesen, was dem damaligen Anspruch an moderne Literatur entsprach. Doch heute werden postmodern geprägte Leser in ihm all das vermissen, was seitdem zu literarischen Wertkriterien geworden ist. Selbstreferentielles Changieren zwischen Fiktion und Wirklichkeit, formale Gebrochenheit, Respektlosigkeit gegenüber tradierten Normen und das pluralistische Spiel mit disparaten Lebens- und Weltentwürfen – all diese typischen Merkmale der Postmoderne sucht man bei ihm vergebens.

Dickens brachte das Kunststück fertig, der viktorianischen Gesellschaft ihre Mängel um die Ohren zu hauen und sich gleichzeitig mit ihr vollständig zu identifizieren. Wie kein anderer Autor seiner Zeit unterhielt er ein quasi-symbiotisches Verhältnis zu seinem Publikum. Das heißt nicht, dass er ihm nach dem Munde redete. Gewiss, er vermied es, das Schamgefühl prüder Leser zu verletzen, und er propagierte nur solche Werte, die allgemein anerkannt wurden, doch er tat dies nicht als zynischer Sykophant der breiten Mittelschicht, sondern weil er sich als deren Sprachrohr empfand. Dass er dabei die Heuchelei der Gesellschaft anklagen konnte, ohne selber heucheln zu müssen, lag daran, dass das viktorianische England durchaus nicht der monolithische Block aus Prüderie, Selbstgerechtigkeit, imperialistischem Machtstreben und kulturell verbrämtem Materialismus war, als der es in den Augen der Nachwelt oft erscheint. Das gesellschaftliche Bewusstsein der Epoche war tief gespalten. Es schwankte politisch zwischen Liberalismus und Imperialismus, sozial zwischen Verlangen nach Demokratie und Angst vor dem Pöbel, kulturell zwischen Modernität und Nostalgie, ökonomisch zwischen Industrialisierung und romantischer Gartenkultur und religiös zwischen Aufklärung und christlicher Tradition.

Alle diese Widersprüche kamen in Dickens zusammen. Er hielt sich bis zu seinem Tod für einen Radikalen auf der Seite der Liberalen, und doch stieß er, wie Briefzeugnisse belegen, ins imperialistische Horn, als sein eigener Sohn gegen aufständische Inder kämpfen musste. Er setzte sich unermüdlich für Reformen des Schulsystems, des Gefängniswesens und der Armenfürsorge ein, doch das größte Übel seiner Zeit, die brutale Unterdrückung der Iren durch die englische Herrschaft, ignorierte er nahezu ganz. Selbst als die 1845 ausgebrochene Kartoffelfäule in Irland eine Hungersnot auslöste, der Hunderttausende zum Opfer fielen und die Millionen zur Auswanderung zwang, rief das den großen Sozialreformer nicht auf den Plan. Zu tief war seine Ablehnung der katholischen Kirche verinnerlicht, als dass er sich für das Leid irischer Katholiken hätte erwärmen können. Ähnlich zwiespältig war seine Haltung gegenüber der Reform des Wahlrechts. Er unterstützte zwar die ersten beiden Reformgesetze, die das Wahlrecht der Männer ausweiteten, doch das der Frauen interessierte ihn nicht. Ökonomisch begrüßte er den industriellen Fortschritt, zeigte aber zugleich die Verwüstungen, die die Industrie anrichtete. Er geißelte die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Fabriken, sah aber im Arbeitskampf der Gewerkschaften nur einen anderen Ausdruck des fantasiefeindlichen kapitalistischen Systems.

Als Aufsteiger aus einfachen Verhältnissen blieb er gefühlsmäßig auf der Seite der Unterschicht, doch ein ebenso starkes Gefühl trieb ihn an, sich mit der Gentry zu identifizieren. Bezeichnend dafür ist der Erwerb seines Landsitzes Gad‘s Hill, von dessen Besitz er bereits als Kind geträumt hatte. In seinen letzten Jahren führte er das Leben eines typischen englischen Landedelmannes, während er gleichzeitig seine Nähe zum gemeinen Volk betonte …

Als öffentliche Person vereinte Dickens in sich ein Konzentrat all der Kompromisse, die den ideologischen Kern der viktorianischen Gesellschaft ausmachten und die deren latente Widersprüche im Gleichgewicht hielten. Schaut man aber hinter die Kulisse seines Lebens, findet man keinen Menschen im Gleichgewicht, sondern einen Gehetzten. Dickens war sein Leben lang auf der Flucht vor der traumatischen Erinnerung an den Moment seiner tiefsten Erniedrigung, als er als Kind in der Schuhwichsfabrik arbeiten musste und keine Aussicht auf höhere Bildung mehr zu haben schien. Selbst dann noch, als er Einkünfte erzielte, die den Honoraren heutiger Filmstars vergleichbar sind, äußerte sich bei ihm immer wieder die latente Angst, seinen finanziellen Verpflichtungen nicht mehr gerecht werden zu können …

Dickens‘ Romane enden damit, dass seine Helden sich von einer Fremdbestimmung befreien und sich auf sich selbst zurückziehen. Bei ihm erscheint die gesellschaftliche und politische Sphäre als ein undurchschaubares, labyrinthisches System totaler Entfremdung.

Das ist ganz und gar nicht viktorianisch; denn um ihn herum verlangte das englische Bürgertum das Gegenteil, nämlich Teilhabe an der Macht, weshalb hier der Rückzug ins Biedermeierliche weit weniger stark ausgeprägt war als in Deutschland. Er dagegen zeigt eine Welt, in der sich die kleinen Leute dem gesellschaftlichen System hilflos ausgeliefert sehen. Dies Gefühl der Entfremdung ist seitdem immer mehr zum Lebensgefühl der Moderne geworden. Shakespeares Blick umfasste den sozialen Kosmos vom König bis hinunter zum Totengräber und ebenso den moralischen Kosmos von vernunftgeleitetem Handeln bis hin zu blinder Leidenschaft. Neben ihm erscheint der „Cockney-Shakespeare“ (Dickens), der aus der Perspektive der kleinen Leute spricht und dessen Moralvorstellungen sich in dem engen Spektrum zwischen Selbstsucht und Selbstlosigkeit bewegen, als ein kleineres Licht am literarischen Firmament, doch an Leuchtkraft steht er dem größten Stern der englischen Literatur nicht nach.“

 

Charles Dickens Festival im niederländischen Deventer

 

https://www.youtube.com/watch?v=s2YZbh2aWN0

 

Während des Dickens-Festivals im historischen Stadtzentrum von Deventer erwacht die Welt von Charles Dickens aus dem 19. Jahrhundert vollkommen zum Leben. Hunderte von Figuren aus seinen berühmten Büchern werden dort verkörpert. Von Scrooge, Oliver Twist und Mr. Pickwick über Sänger von Weihnachtsliedern bis hin zu Waisen, Trunkenbolden, Kaufleuten und vornehmen Leuten. Während dieser einzigartigen Veranstaltung wähnen Sie sich in der Weihnachtsstimmung aus dem 19. Jahrhundert von diesem britischen Schriftsteller.

Sie genießen englischen Punsch, geröstete Kastanien, tausende von Weihnachtslichtern und große Weihnachtsbäume. Verschiedene Chöre und Orchester tragen Weihnachtsmusik vor. Nicht nur auf der Straße, sondern auch in Häusern, Geschäften und Galerien lebt die romantische Zeit von Dickens wieder auf.

In und um die Lebuinuskirche („Grote Kerk“) herum finden Sie einen Weihnachtsmarkt mit mehr als 75 verschiedenen Ständen. Sie können dort Weihnachtsschmuck, Spielsachen, Kleidung oder handgefertigte Waren kaufen und zwischendurch werden an verschiedenen Stellen Weihnachtslieder gesungen. Auf der Terrasse der Kirche können Sie köstliche Häppchen und Getränke genießen.“

https://www.holland.com/de/tourist/aktivitaten/veranstaltungen/dickensfestival-6.htm

https://dickensfestijn.nl/deutsch/#page-content

 

 

Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm