Roger Köppel von der schweizer „Weltwoche“:
https://www.youtube.com/watch?v=YuTDZUXIC9E
„Bemerkenswerte Vorgänge. Eine Regierung, die vom örtlichen Parlament in Thüringen, in Erfurt, gewählt wurde mit Stimmen der AfD – es war ein FDPler, der das Amt des Ministerpräsidenten hätte übernehmen sollen -, diese Regierung wurde sozusagen par ordre du mufti aus Berlin abgesägt durch Kanzlerin Merkel, die mit einer Meldung, als sie in Südafrika neben einem anderen Staatsoberhaupt stand, hat sie aus Südafrika heraus diese Regierung zum Einsturz gebracht und das Ganze hat jetzt eine riesige Welle von Verwicklungen und Empörungen ausgelöst.
Aus meiner Sicht muss man den Vorgang folgendermaßen beurteilen: Merkel hat mit diesem Eingriff im Prinzip gleich 4 Säulen der deutschen Demokratie ausgehebelt. 1. Die Eigenständigkeit eines Bundeslandes; 2. den Parlamentarismus, also einen parlamentarischen Entscheid, damit hat sie auch sozusagen die Gewissensfreiheit der Parlamentarier beschädigt, denn Parlamentarier müssen keine Weisungen entgegen nehmen, sie sind ihrem Gewissen verpflichtet, das ist das Gleiche wie in der Schweiz; 3. hat man durch die Parlaments-Aushebelung natürlich auch den Volkswillen ausgehebelt und 4. hat Merkel selber ohne irgend ein Recht und ein Mandat gehandelt, denn die Bundeskanzlerin ist überhaupt nicht weisungsberechtigt gegenüber einem Bundesland. Sie ist auch nicht mehr Parteichefin der CDU, also ist sie auch in keiner Weise parteipolitisch befugt, hier Einfluss zu nehmen.
Sie hat aber aus Südafrika sich wie eine Parteichefin benommen und in der Folge ist jetzt auch die, ja, pro forma-Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer, wenn nicht gleich zurückgetreten, so hat sie jetzt doch auch ihren persönlichen Rücktritt angekündigt. Das ist die Folge dieser ganzen Aktion. Also Frau Merkel tritt faktisch als Parteichefin auf und die reale Parteichefin muss zurücktreten. Das Ganze ist natürlich ein ungeheuerlicher Vorgang: Deutschland als gelenkte Demokratie; wenn man so will unter Missachtung wirklich Bundesländer-mäßiger Eigenständigkeit und Unabhängigkeit. Und was mich persönlich jetzt als jemand, der auch in Deutschland gearbeitet hat, auch frappiert ist, wie unkritisch die Medien diese Vorgänge kommentieren.
Man scheint kollektiv in einem Zustand der dämonischen Gebanntheit vor dieser AfD zu stehen; die wird als Inkarnation oder Wiedergeburt des Nationalsozialismus angeschwärzt, was natürlich völliger Unsinn ist, eine Verharmlosung der Nazis. Und vor allem ist es eben eine intellektuelle Bankrott-Erklärung. Die AfD bzw. die Dämonisierung der AfD ist gleichsam die letzte raison d‘etre des regierenden Partei-Establishments. Man hat eigentlich inhaltlich keine eigenen Positionen mehr anzubieten, das Ganze ist verwässert und jetzt bleibt sozusagen nur noch diese Popanz-AfD, gegen den man sich Hände haltend als letzte Verteidigungs-Bastion der Demokratie und der Zivilisation präsentiert. Dabei allerdings höchst undemokratisch agiert. Also die Gralshüter der Demokraten wirken in Deutschland heute wie undemokratische Despoten, man kann das nicht anders formulieren. Und eben das Erstaunliche bzw. das Erschütternde ist, dass die deutschen Medien da mitmachen und diese ganze Merkel-Propaganda da nachbeten. Und vielleicht noch eine letzte Bemerkung: Hier zeigt sich schon ein sehr, sehr fragwürdiges Demokratie-Verständnis der Kanzlerin, die wirklich nicht davor zurückschreckt, in ein Bundesland, in einen parlamentarischen Entscheid, einzugreifen.“
https://www.youtube.com/watch?v=yDHikXcrewY
„… „aus der FDP ist zu hören, Merkel habe diesen Schritt mit der Drohung erzwungen, ansonsten sämtliche Landesregierungen beenden zu wollen, an denen CDU und Liberale beteiligt seien.“ Ich weiss nicht, ob das stimmt, aber die „Welt“ ist an sich nahe bei der CDU. Das wär‘ natürlich auch happig, wenn die Kanzlerin ihrem Befehl sozusagen Nachdruck verliehen hätte durch die Drohung, alle anderen Regierungen aufkündigen zu wollen mit der FDP, also ein ganz massiver Druck, der hier ausgeübt wurde. Das führt 7.) zu der Feststellung, dass man sich doch aus deutscher Sich etwas Sorgen machen muss über die verfassungsmäßigen Zuständigkeiten und eben das Demokratie-Prinzip in den Augen der Kanzlerin, die sich hier so eigenmächtig darüber hinwegsetzt und 8.), das finde ich auch bemerkenswert, dieser Übergriff der Kanzlerin wird in den deutschen Medien eigentlich unisono beklatscht. Also alle haben sich quasi um diese Merkel herum geschart; da und dort schon etwas leise Kritik an der Art und Weise des Vorgehens. Die FAZ hat sogar davon gesprochen, „man müsse doch die demokratische Form wahren“ - also nur die Form; wer so schreibt, hat sich von der Demokratie bereits verabschiedet; also hier die Merkel-Medien in erstaunlicher, gespenstischer Gleichförmigkeit auf der Seite der Regierung, die doch nachweislich hier die verbrieften Rechte eines Bundeslandes und des dortigen Parlaments einfach missachtet hat ..."
Thüringer Hanswurst: die Wahl zum Ministerpräsidenten
Ulrike Nimz: „Thüringen hat einen neuen Ministerpräsidenten. Er ist entgegen aller Erwartungen nicht Bodo Ramelow von der Linken. Es ist Thomas Kemmerich von der FDP. Nach einem denkwürdigen dritten Wahlgang ist der Mann, dessen Partei bei der Landtagswahl knapp den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde schaffte, zum Regierungschef gewählt. Mit 45 Stimmen - nur einer mehr als Ramelow. Mit ausdrucksloser Miene verliest Landtagspräsidentin Birgit Keller (Linke) das Ergebnis.
Was sich dann abspielt, sind Szenen, die dieser Plenarsaal noch nie gesehen hat. Die AfD-Abgeordneten johlen. In den Reihen der Linken versteinerte Gesichter. Dann steht Thomas Kemmerich auf, streicht sein Jackett glatt und sagt: "Ich nehme die Wahl an."
Es ist in Erfurt ein Szenario eingetreten, das man bestenfalls geraunt hatte in den vergangenen Tagen, seit die AfD einen eigenen, parteilosen Kandidaten aufgestellt hatte. Christoph Kindervater, ehrenamtlicher Bürgermeister der 350-Seelen-Gemeinde Sundhausen, hatte sich am vergangenen Wochenende mit einem Schreiben ins Spiel gebracht, CDU, FDP und AfD um ein Treffen vor dem Landtag gebeten. Am Ende war nur die AfD interessiert, aber kurz darauf verkündete Kemmerich, damals noch Fraktions- und Landeschef der FDP, dass er seinen Hut ebenfalls in den Ring werfen würde. Allerdings nur im dritten Wahlgang und nur, wenn ebenfalls ein AfD-Kandidat antrete. Die CDU erklärte, zunächst keinen Kandidaten aufstellen zu wollen, sich aber gegebenenfalls im entscheidenden Wahlgang mit der FDP abzustimmen. Gemeinsam haben die drei Parteien 48 Sitze im Landtag - und damit die absolute Mehrheit.
Was also, wenn der Kandidat Kindervater nichts als ein Strohmann wäre, die AfD am Ende ebenso wie die CDU den FDP-Kandidaten unterstützte und es nicht für Ramelow reicht? Schließlich genügt im dritten Wahlgang die einfache Mehrheit. So in etwa lauteten die Rechenspiele, von Abgeordneten und Journalisten mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Lächeln durchgespielt, zu unwahrscheinlich das alles, zu unverfroren. Wie könnte die AfD ihren Wählern erklären, dass sie den eigenen Kandidaten zugunsten eines Liberalen fallen lässt? Wie könnte Kemmerich verantworten, Ministerpräsident von Björn Höckes Gnaden zu sein, dem AfD-Landeschef? Wie sollte ein solch abgekartetes Spiel dem hohen Haus gerecht werden?
So in etwa lauteten die Fragen vor diesem historischen Mittwoch. Aber sie werden nicht länger hinter vorgehaltener Hand gestellt, sondern laut, mit Mikrofonen und Kameras, auf den Fluren des Landtags, wo man Menschen weinen sehen kann. Eine junge Abgeordnete der SPD sagt, sie sei völlig geschockt, wisse nicht, ob sie noch ihre Kinder aufwachsen lassen kann, in diesem Thüringen. Eine Etage höher tritt Susanne Hennig-Wellsow, Landes- und Fraktionschefin der Linken, vor die Journalisten. Nach dem dritten Wahlgang hatte sie die Hand auf den Arm Bodo Ramelows gelegt, als die Auszählung der Stimmen ungewöhnlich lange dauerte. Noch mal und noch mal legten die Wahlhelfer die Zettel nebeneinander. Die obligatorische Gratulationsrunde nach der Vereidigung Kemmerichs sah so aus: Hennig-Wellsow ging mit einem Blumenstrauß auf den neuen Ministerpräsident Thüringens zu. Und warf ihn vor dessen Füße.
"Wir haben jetzt einen Fünf-Prozent-Menschen als Ministerpräsident, der sich von der extremen Rechten tragen lässt", sagt sie mit bemerkenswerter Ruhe in die Kameras. "Wir als Partei ,Die Linke' werden nicht aufgeben. Wir werden das Land nicht den Rechten überlassen, wir werden ihnen nicht die Regierung überlassen." Wie es weitergehe, werde man in den nächsten Tagen entscheiden. "Ich für meinen Teil schäme mich für Kemmerich, für Mohring, dass sie das zugelassen haben. Für jeden Einzelnen, der diese Regierung ins Amt gehievt hat." Der demokratische Konsens sei "aus Machtgeilheit" verlassen worden.
Einen Raum weiter wird Mike Mohring umringt. Er spricht leise, und er lächelt. Geschockt, ja wenigstens überrascht, wirkt er nicht. "Wir sind nicht verantwortlich für die Kandidatur anderer Parteien. Wir sind verantwortlich für unsere Positionen", sagt Mohring. Man habe sich entschieden, geschlossen den Kandidaten der Mitte zu stützen. In den letzten Tagen sei mit dem Amt des Ministerpräsidenten nicht gut umgegangen worden. Mohring meint den AfD-Kandidaten Kindervater, der zunächst angekündigt hatte, der Wahl wegen einer Dienstreise fernbleiben zu müssen. Am Mittwoch hat er es dann doch nach Erfurt geschafft und raucht eine nach der anderen im Innenhof des Landtags.
Und dieses Szenario? Hat man das bei der Union vorab nicht in Erwägung gezogen? Mohring nickt. "Ich habe alle gefragt, ob sie mit der Situation umgehen können. Jeder hat Ja gesagt, jeder Einzelne." Und was wird die Bundespartei dazu sagen? Er habe sich in den vergangenen Tagen mit allen abgesprochen, sagt Mohring. "Glauben Sie mir das, ich habe in den letzten Tagen nichts anderes gemacht, als meine Handys leer zu telefonieren." Jetzt erwarte man, dass Thomas Kemmerich für diese Wahlperiode jede Zusammenarbeit mit der AfD ausschließe. Nur unter dieser Voraussetzung werde es Gespräche geben. Und Kemmerich?
Der will nach einer zweistündigen Pause im Landtag seine Antrittsrede halten: "Es geht um Thüringen!" Weiter kommt er nicht. "Scharlatan! Heuchler!", schallt es aus den Reihen der Linken. Die Landtagspräsidentin erteilt den ersten Ordnungsruf. Bodo Ramelow ist nicht gekommen. Draußen vor dem Landtag hat sich eine Demonstration formiert, sie wächst und wächst. "Alle gemeinsam gegen den Faschismus!", skandieren sie. Man hört es bis in den Erfurter Plenarsaal. Die FDP beantragt schließlich die Vertagung der Landtagssitzung, der Antrag wird nach Protest von Linken, Grünen und SPD angenommen - mit einer Stimme Mehrheit.
Kurz darauf tritt Thomas Kemmerich in einem Nebenraum vor die Presse. Man hat Stehtische aufgebaut und ein Sektbuffet. Diesmal lässt man ihn ausreden. Kemmerich dankt Bodo Ramelow, er habe sich für das Land eingesetzt. Man wolle nun ein vielfältiges, sachorientiertes Kabinett bilden. "Ich werde Grüne und SPD bitten, ihre staatspolitische Verantwortung wahrzunehmen." Wie er dazu stehe, dass er nur dank AfD-Stimmen gewählt wurde, wird Kemmerich gefragt. Es habe keine Absprachen gegeben, sagt dieser. Auch eine künftige Zusammenarbeit schließt er aus. "Ich bin Anti-AfD, ich bin Anti-Höcke!" Und die Hände von Thüringens neuem Ministerpräsidenten zittern.“
https://www.sueddeutsche.de/politik/thueringen-kemmerich-cdu-1.4785664
Da die Thüringer CDU und FDP mit ihren jeweiligen Bundesparteispitzen sich vorher ausgiebig beraten haben und alle Szenarien durchgegangen sind, kann mensch getrost davon ausgehen, dass dies ein Versuchsballon war, eine Zusammenarbeit der drei neoliberalen Parteien in den Ländern zu starten. Wg. heftiger Reaktionen geht das dann doch nicht.
Als Hanswurst stehen da: Thomas Kemmerich (FDP), der für einen einzigen Tag Ministerpräsident war und danach zurücktreten musste, Christian Lindner (FDP), der bereits mit dem Satz „lieber nicht regieren als schlecht regieren“ in die Geschichte eingegangen ist – und nach der Wahl von Thomas Kemmerich (ohne Koalitions-Partner) diese zuerst verteidigt hatte. Nicht zuletzt Annegret Kramp-Karrenbauer, die von Kanzlerin Angela Merkel als CDU-Vorsitzende bloßgestellt wurde, dass ihr nichts anderes als der Rücktritt übrig blieb.
CDU und FDP
Beide Parteien geben sich als „Parteien der Mitte“, die nicht mit „Linken“ oder „Rechten“ zusammen arbeiten wollen, da beide böse sind. Im Zweifelsfall geht‘s dann aber immer nach rechts.
Es ist die Politik der Bundes-CDU, die die Thüringer CDU überhaupt in diese missliche Lage gebracht hat.
Jens Berger: „Thomas Kemmerich wird nicht nur als der erste von der AfD ins Amt gewählte Ministerpräsident, sondern auch als der Ministerpräsident mit der kürzesten Amtszeit in die Geschichte eingehen. 25 Stunden nach seiner skandalösen Wahl verkündete er heute seinen Rücktritt. Man wolle den Landtag nun auflösen und Neuwahlen anstreben. Warum das? Wenn es CDU und FDP mit ihrem – von den jeweiligen Bundesparteien angeordneten – Katzenjammer ernst meinten, müssten sie doch jetzt erst recht ein Zeichen setzen und gemeinsam mit Linken, SPD und Grünen gegen die Stimmen der AfD Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten wählen. So heißt der einzige Gewinner dieses skandalösen Tages Björn Höcke. Derweil versucht Christian Lindner, aus dem Totalversagen seiner Partei mit Hilfe der Medien persönlichen Profit zu schlagen. Das ist widerlich.
Welche Rolle Christian Lindner bei der ganzen Sache spielt, ist dabei vollkommen offen. Zunächst berichtete das Springer-Medium „Business Insider“ heute Vormittag exklusiv, Lindner habe bereits im Vorfeld mit seinen Thüringer Parteifreunden erörtert, wie Kemmerich mit einer möglichen Wahl zum Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD umgehen sollte. Wenn das stimmt, war das gesamte Manöver von langer Hand geplant. Dies legt auch ein ebenfalls heute veröffentlichter Brief nahe, in dem Björn Höcke Kemmerich bereits im November anbot, eine FDP-Minderheitsregierung zu unterstützen. Warum sonst hätte Kemmerich auch im dritten Wahlgang als Kandidat als „Überraschungskandidat“ antreten sollen? Dass die FDP und auch die CDU von der AfD „überrumpelt“ wurden, ist doch sehr unwahrscheinlich.
Wahrscheinlich hatte man jedoch nicht mit den harschen Reaktionen gerechnet, die gestern über CDU und FDP hereinbrachen und man wollte mit dem Tabubruch nur schon einmal testen, wie eine offene Zusammenarbeit mit der AfD in der Öffentlichkeit aufgenommen wird. Im schlimmsten Fall könnte man ja immer noch die Reißleine ziehen und öffentlichkeitswirksam seine Landesverbände zurückpfeifen. Sicher, das ist Spekulation. Aber wenn man sich einmal anschaut, wie vor allem Christian Lindner („Ich schäme mich“) die mutmaßlich von ihm zuvor selbst gebilligte Zusammenarbeit mit der AfD nun offensiv inklusive Vertrauensfrage zur eigenen Imagepflege nutzt und sich dafür feiern lässt, seinen Parteifreund Kemmerich zum Rücktritt bewegt zu haben, ist wirklich aalglatt. Gestern noch lässt man seinen Parteifreund von Rechtsextremen ins Amt wählen und heute präsentiert man sich als aufrechter Vertreter der Mitte? Wer´s glaubt, wird selig. Würde die FDP es mit ihrer Ablehnung der AfD auch nur im Ansatz ernst nehmen, hätte Kemmerich gestern die Wahl gar nicht annehmen dürfen. Aber warum sollte er dies tun, wenn die Zusammenarbeit von langer Hand geplant war?
Verlogen wirkt auch die Krisen-PR der CDU. Auch hier ist es unwahrscheinlich, dass der Landesverband das eingetretene Szenario zuvor nicht mit der Parteispitze besprochen hat. Man wollte auf Teufel komm raus keine rot-rot-grüne Minderheitsregierung Ramelow tolerieren, lässt sich selbst aber unter einem FDP-Ministerpräsidenten auf eine schwarz-gelbe Minderheitsregierung unter AfD-Duldung ein. So was entscheidet der Thüringer Landesverband doch nicht alleine. Sämtliche Dementis und Mahnungen der Parteispitze sind daher auch alles andere als überzeugend. Auch Mike Mohring hatte Höckes Angebot auf Unterstützung einer Minderheitsregierung bekommen.
Würden FDP und CDU es mit ihrer „Entfernung des Makels“ (O-Ton Kemmerich) ernst meinen, könnten sie jetzt jederzeit eine Minderheitsregierung des amtierenden Ministerpräsidenten Ramelow dulden und Thüringen hätte schon morgen eine arbeitsfähige Regierung. Das liegt FDP und CDU aber fern. Bereits in seiner Rücktrittserklärung verkündete Kemmerich einmal mehr in grotesker Art und Weise, man lehne jede Zusammenarbeit mit der extremen Rechten und(!) der extremen Linken ab – damit meint er offenbar den gemäßigt linken Bodo Ramelow. Und auch Christian Lindner betonte in seiner heutigen Pressekonferenz zum Vorfall einmal mehr, dass er jede Zusammenarbeit mit „Linksextremen“ kategorisch ausschließe. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Man lässt sich vom „Faschisten“ Björn Höcke ins Amt wählen und zur Wahl mit einem Handschlag gratulieren, lehnt aber jede Zusammenarbeit mit dem eher sozialdemokratisch orientierten Linken-Politiker Bodo Ramelow ab. Hauptsache nicht links! Es ist unglaublich.“
https://www.nachdenkseiten.de/?p=58291
„Gestern noch haben sich Thomas Kemmerich und die FDP von der extremen Rechten wählen lassen, heute nehmen sie wieder davon Abstand. Soziologe Andreas Kemper beobachtet seit Jahren die extreme Rechte, erforscht aber auch neoliberale Politik. Beide Ideologien haben mehr gemeinsam, als auf den ersten Blick ersichtlich.
Zündfunk: Gab es für Dich in letzten Jahren Anhaltspunkte, dass die FDP mal strategisch mit der AfD zusammengeht oder kam das für Dich überraschend?
Andreas Kemper: Überrascht hat mich das nicht. Die AfD ist ja als eine neoliberale Partei entstanden, als eine Partei von Hans-Olaf Henkel, von Bernd Lucke, von diesen neoliberalen Leuten. Das sind quasi radikale FDPler gewesen. Die haben einen Extremismus des Neoliberalismus gepredigt. Von daher haben AfD und FDP tatsächlich Überschneidungen. Wichtig ist da: Es wird immer wieder betont, die FDP sei angetreten, um den Extremismus von links und rechts zu bekämpfen. Dieses Bild finde ich sehr problematisch, weil es den Extremismus der FDP ausblendet. Das geht bis zu einer Demokratiefeindlichkeit. Das findet man bei Leuten, die nicht mehr in der FDP ihre Heimat haben: bei Hans-Olaf Henkel oder dem Mitbegründer der AfD Konrad Adam, der gutgeheißen hat, dass Arbeitslosen das Wahlrecht entzogen wird. Von diesen Leuten gibt es eine ganze Reihe, die die Demokratie in Frage stellen, weil die Demokratie nicht unternehmensnah ist. Auch da gibt es einen Extremismus.
Und wenn wir zu denen zurückgehen, die aktuell in der FDP sind: was haben die aktuelle FDP und die extrem rechte Ideologie gemeinsam? Was sind die größten Gemeinsamkeiten? Es gibt ja auch riesengroße Unterschiede wie Liberalität, das Recht auf Ehe für alle und so weiter.
Gemeinsam ist ihnen vor allem der Antikommunismus. Alles, was irgendwie sozial ist, wird sofort als „Kommunismus“ oder als „Sozialismus“ gebrandmarkt und muss auf jeden Fall verhindert werden. Das war ja auch das Ziel der AfD: "Uns geht es in erster Linie darum, Rot-Rot-Grün abzulösen, den 'Kommunisten' Ramelow abzulösen." Da ist auf jeden Fall eine Überschneidung. Da gibt’s dann natürlich auch vom Menschenbild her sowas, wo dann halt gegen Political Correctness gewettert wird oder gegen die Gutmenschen. Da haben die eine Gemeinsamkeit in der sozialen Kälte.
Warum hat sich deiner Meinung nach überhaupt die FDP von der AfD wählen lassen. Haben die gedacht, die Empörung wäre geringer und es würde irgendwie so durchgehen?
Ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung. Es wird ja auch gesagt, es war ein abgekartetes Spiel, andere sagen, Thomas Kemmerich war überrascht. In beiden Fällen ist es auch nicht wirklich erklärbar. Also wenn es eine Naivität war, frag ich mich: Was haben die im Parlament verloren, wenn die so naiv sind? Und wenn es abgekartet war, ist es ja noch schlimmer."
„Opportunismus und fehlende Prinzipientreue hätten die FDP ins Thüringen-Desaster gestürzt, sagt Politikberater Johannes Hillje. Im Interview mit ntv.de erklärt er, wie weitreichend die Folgen sind und wer aus der Lage Profit schlagen kann.
ntv.de: Wie groß, glauben Sie, ist der Schaden für die FDP?
Johannes Hillje: Das ist noch nicht genau absehbar, aber vermutlich sehr groß. Wir haben heute und gestern eine zutiefst verunsicherte FDP gesehen. Teile der Partei haben völlig ohne demokratischen Kompass agiert. Stattdessen haben sie Opportunismus durchscheinen lassen - sowohl bei der Entscheidung Kemmerichs gestern, die Wahl anzunehmen, als auch bei der Kehrtwende heute wegen des großen öffentlichen Drucks. Das hat nichts mehr mit prinzipientreuer Politik zu tun. FDP-Politiker haben sich als unzuverlässige Demokraten erwiesen.
Aber wäre nicht genau das extrem wichtig gewesen für eine Partei, die in den vergangenen Monaten ohnehin Schwierigkeiten hatte, thematisch durchzudringen, die immer noch mit dem Jamaika-Erbe gekämpft hat?
Ja. Nach den gescheiterten Jamaika-Verhandlungen hatte die FDP schon einen Klotz am Bein. Jetzt ist da noch ein zweiter. Und das hat Folgen für die Partei. Es haben sich ja schon nach den Jamaika-Verhandlungen viele Menschen von der FDP abgewendet, sind teilweise enttäuscht aus der Partei ausgetreten. Jetzt gibt es die zweite große Enttäuschung. Bei Neuwahlen in Thüringen dürfte die FDP chancenlos sein. Und auch auf Bundesebene wird das spürbare Folgen haben. Die FDP muss zu einer klaren Linie zurückfinden.
Das Gegenteil war in den letzten Tagen zu sehen, vor allem was das Verhältnis zur AfD angeht. Einerseits gibt es Politiker wie Konstantin Kuhle, Johannes Vogel oder Alexander Lambsdorff, die eine sehr wertbasierte und glaubhafte Abgrenzung nach rechts vornehmen. Und dann gibt es Menschen wie Christian Lindner, der immer wieder mindestens mit populistischer Stimmungsmache taktiert - bei der Klimapolitik oder der Migrationspolitik etwa - und sich der Kulturalisierung und Polarisierung politischer Fragen bedient. Es gibt derzeit eine wertliberale und wertflexible FDP. Es ist keine klare Linie erkennbar. Und wir wissen, dass Parteien, die schwer einzuschätzen sind, nicht gewählt werden.
Sie haben da jetzt zwei Strömungen genannt in der FDP. Aber eigentlich konnte man der Partei in den vergangenen Monaten zumindest nicht vorhalten, kein geschlossenes Bild abzugeben. Ist auch das jetzt vorbei?
Gestern haben wir unterschiedliche Stimmen gehört. Mehrere Landesverbände, etwa Hamburg oder Nordrhein-Westfalen, haben schnell Kemmerichs Rücktritt gefordert. Einzelne Politiker haben gefordert, dass Kemmerich das durchziehen soll. Denen fehlte der Kompass. Wolfgang Kubicki hat etwa gestern argumentiert, Kemmerich habe richtig gehandelt. Christian Lindner hat sich höchst unklug verhalten. Er hat unterstützt, dass Kemmerich sich zur Wahl stellt, obwohl er wusste, dass es selbst mit den Stimmen von Grünen, SPD und CDU keine Mehrheit für ihn gegeben hätte. Lindner hat auch die Annahme der Wahl gestern nicht infrage gestellt und zunächst keinen Rücktritt Kemmerichs gefordert. Lindner inszeniert sich heute als Feuerwehrmann, dabei war er gestern noch Brandstifter. Sein Ausflug nach Erfurt war daher auch ein PR-Stunt in eigener Sache.
Wird er deswegen die Vertrauensfrage im Vorstand nicht überstehen?
Das wird sicher angesprochen werden. Er bekommt ein blaues Auge. Aber ich vermute nicht, dass ihn das stürzen wird. Noch verfügt er über einen gewissen Rückhalt.
Ist denn die Behauptung glaubwürdig, man habe mit der Unterstützung der AfD nicht rechnen können?
Nein. Die AfD hat es genau auf dieses Szenario angelegt. In einem Strategiepapier der Partei von 2019 wird genau das beschrieben: die Duldung von Minderheitsregierungen von CDU und FDP als machtpolitische Chance für die AfD. Deshalb kann es niemanden überrascht haben, so wie Lindner und Kemmerich es gestern dargestellt haben. Das halte ich für eine plumpe Ausrede. Meines Erachtens hat Lindner ein doppeltes Spiel gespielt und er hat die Stimmen der AfD in Kauf genommen. Dann hat er überrascht getan und inszeniert sich jetzt als Feuerwehrmann für den Brand, den er mit gelegt hat. Im Ergebnis haben Lindner und Kemmerich einen Scherbenhaufen angerichtet.
Kemmerich hat heute keinen Fehler eingestanden. Macht es die Lage besser oder schlimmer?
Das disqualifiziert Kemmerich umso mehr. Ich glaube, es ist in der Politik ganz wichtig, Fehler gegenüber den Bürgern einzugestehen. Es ist eine große Schwäche von vielen Politikern, das nicht zu tun. Kemmerich ist nur unter dem Druck von Lindner zu der Entscheidung gekommen, den Landtag auflösen zu wollen. Und deswegen kann er für sich auch keinen Fehler erkennen, er glaubt, sich der Parteispitze beugen zu müssen. Auch das demonstriert die Prinzipienlosigkeit bei der Abgrenzung nach rechtsaußen. Ich glaube, Kemmerich hat in der FDP keine politische Zukunft.
Wer profitiert von der aktuellen Lage?
Gestern haben alle Parteien verloren, außer der AfD. Wenn es Neuwahlen gibt, haben die Linke, die SPD und die Grünen plötzlich ein starkes Mobilisierungsthema. Alle drei können sagen, dass sie nicht Teil des Desasters von Erfurt waren, dass sie den Damm nach rechts nicht haben brechen lassen und sie können sich als zuverlässige Demokraten darstellen. Das wird das politische Spektrum von Mitte bis Links eher stärken. Das heißt aber auch, dass wir erneut einen extrem polarisierten Wahlkampf sehen werden, weil die AfD und die linke Seite gestärkt sind. Die Parteien in der rechten Mitte, CDU und FDP, sind äußerst geschwächt durch ihr Verhalten. Meiner Meinung nach wäre etwas ganz anderes nötig: Die Republik muss wegkommen von der extremen Polarisierung, die im wesentlichen aus der gegenseitigen Delegitimierung der Pole besteht, hin zu einer Polarisierung zwischen den traditionellen Volksparteien. Von dem Ziel haben wir uns gestern aber weiter entfernt.“
https://www.n-tv.de/politik/Heute-Feuerwehr-gestern-noch-Brandstifter-article21560738.html
Dieter Schnaas: „FDP und CDU haben vor lauter Ressentiment gegen „linksgrüne Gutmenschen“ den Beifall rechtsnationaler Bösmenschen in Kauf genommen. Es ist das logische Ende eines langen Versagens in zwei Parteizentralen …
Tatsächlich ist es doch so: Die CDU hat mit dem permanent bekräftigten Eingeständnis des Kanzleramts, der anonymen Macht von Institutionen und Systemen, der Globalisierung, der EU, den Banken, der Geldpolitik, der Flüchtlingsströme ausgeliefert zu sein („alternativlos“) den Aufstieg der AfD begünstigt und sich ihr mit der eskalierenden Rhetorik ihrer Spitzenpolitiker als kraftnationale Betreuungsorganisation verähnlicht – sowie den expliziten Radikalismus von rechts und das gärende Ressentiment des kleinbürgerlichen Prekariats skandalös unterschätzt …
Zugleich hat die CDU die Linken im Stil der Neunzigerjahre dämonisiert – als handelte es sich bei Ihnen noch um die fünfte Kolonne Moskaus. Zur Erinnerung: Es waren vor allem Annegret Kramp-Karrenbauer und Paul Ziemiak, die sich unmittelbar nach der Landtagswahl im Oktober 2019 jede Annäherung der CDU in Thüringen an Bodo Ramelow und die Linken verbeten haben – weil die Union noch immer den Kolossalblödsinn einer Äquidistanz zu den „politischen Rändern“ predigt und sich eine kommunistische Gefahr herbeihalluziniert.
Es ist höchste Zeit, dass sich die CDU von dieser Lebenslüge verabschiedet. Es gibt keine Äquidistanz der „Parteien der Mitte“ zu den „linken“ und „rechten“ Rändern. Der entscheidende Unterschied zwischen der Linken und der AfD ist: Jene ist in weiten Teilen (heute) eine staatstragende Partei, diese nicht. Jene will integrativ etwas für dieses Land erreichen; diese spielt „das Volk“ gegen es selbst aus. Jene hat sich Jahrzehnte lang als eine Art Kümmer-CSU des Ostens um die Menschen verdient gemacht; diese hetzt sie auf.
Es ist ein schweres Versäumnis der CDU-Parteiführung, dass sie das strategische Problem jahrelang ignoriert hat, das mit den Erfolgen zweier großer Parteien am Rand des Parteienspektrums im Osten verbunden ist – und dass sie den schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Daniel Günther vor anderthalb Jahren kalt abfahren ließ, als er seiner Partei Wege aus der Sackgasse andeutete und mit Blick auf leicht absehbar schwierige Machtverhältnisse in Sachsen, Brandenburg und Thüringen, eine vorsichtige Annäherung an die Linken anmahnte. Eben dazu ist die CDU, Kramp-Karrenbauer und Paul Ziemiak sei Dank, noch heute nicht in der Lage: Eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung unter Bodo Ramelow in vereinzelten Sachfragen, beim Kitausbau, in der Schulpolitik, auf Landesebene zu dulden. Nicht mal verbunden mit einem Ceterem censeo: „Im Übrigen sind wir der Meinung, dass viele Linke noch immer das Unrechtsregime der DDR schönreden und damit seine Opfer verhöhnen!“
Was CDU und FDP eint: Am Ende ihrer symmetrischen Mobilisierung gegen Linksgrüne und Rechtsnationale stehen plötzlich Landtagsabgeordnete der CDU und FDP in Thüringen, die keinen Sinn mehr entwickeln können für das, was konservativ und bürgerlich, liberal und christdemokratisch ist – und die vor lauter Ressentiment gegen klimahysterische „Gutmenschen“ und deren angeblichen Enteignungsfantasien auch den Beifall rechtsradikaler Bösmenschen in Kauf nehmen. Die CDU hat aus Angst vor dem Verlust ihres „konservativen Kerns“ ihr Bewusstsein fürs Konservative verloren. Und die FDP hat aus Angst vor der schieren Übermacht vegetarischer und radfahrender Liberaler keine Ahnung mehr, was sie unter Freiheit verstehen soll.
Das ist der Kern des Problems. Es gibt für die vormals Bürgerlichen kein Zurück zu „konservativen Werten“ und „marktliberalen Wurzeln“ – denn welche wären das und wo würden sie liegen? Eine schwarzgelbe Koalition, die heute der Atomkraft das Wort redete und „Straße vor Schiene“ propagierte, die das Problem des Klimawandels marginalisierte und Schwulen Rechte vorenthielt, die gegen den Mindestlohn wetterte und das Problem niedriger Einkommen und Renten leugnete – diese Koalition hätte nicht mal mehr bei ihren Stammwählern eine Chance.
Insofern markiert „Thüringen“ nicht nur das logische Ende eines langen politischen Versagens in zwei Parteizentralen. Sondern auch einen Tiefpunkt für zwei Geisteshaltungen, für die beide Parteien als politische Organisationsbasis eine Bühne sein wollen: für „das Konservative“ und „das Liberale“. Es spricht Bände, dass allein und ausgerechnet die Markus-Söder-CSU seit einem Jahr erfolgreich ihren Markenkern übermalt und modernen, liberalkonservativen Wählern etwas Bejahbares anzubieten weiß – dass in Bayern ein grünliberaler Konservativismus heranreift, der nicht den „linken Zeitgeist“ verabscheut, sondern aufnimmt, ihn sich anverwandelt, ihn produktiv umdeutet.
CDU und FDP dagegen sind nach dem Debakel in Erfurt von einer entschlossenen, selbstbestimmten Politik, die sich nicht am politischen Gegner orientiert, sondern kraft Programmatik, Gestaltungswillen und Opportunität Lösungswege sucht, um eine Welt, wie sie ist, politisch avanciert zu bewirtschaften, vielleicht weiter entfernt als je zuvor in ihrer Geschichte.“
Was fehlt?
Die Worte von Roger Köppel zu den deutschen Medien sagen das, was von diesen hätte kommen müssen.
Alles Roger!
Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm