Erzherzog aller Demokraten

Wie sieht die Ideologie dieses Staates und seiner großen Parteien aus?

Parlamentarische Demokratie, bei der jeder Erwachsene eine gleichwertige Stimme hat.

Bei anderer Meinung ist die Mehrheits-Meinung zu respektieren.

Rechts-Sicherheit.

Soziale Gerechtigkeit.

Sowohl national als auch international.

Anti-Kommunismus.

Ein großer Redner im Parlament, zutiefst redlicher Mensch, leidenschaftlich für die Belange aller Menschen sich einsetzend, Kosmopolit und Anti-Kommunist – solch einen Menschen gibt es: Ludwig Simon, der vor 200 Jahren geboren wurde.

Wie kein zweiter verkörpert er das, was aus dem heutigen Deutschland geworden ist, hat dafür gekämpft, ist dafür ins Exil gegangen. Der Dank: kaum einer interessiert sich heute noch für ihn.

 

Revolution von 1848/49

 

Ludwig Simon spielte eine herausragende Rolle in der Revolution von 1848/49. Bevor der Wurm auf diese Rolle näher eingeht, möchte er auf Gründe und Verlauf der Revolution eingehen bzw. den Link zum brauchbaren Artikel von „Wikipedia“ nennen https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Revolution_1848/1849 und aus dem Buch „Wir Untertanen – Ein deutsches Anti-Geschichtsbuch“ von Bernt Engelmann zitieren.

 

Befreiungskriege und gemachte Versprechen

 

„Es gab nur noch eine Chance für das preußische Königtum und die bevorrechtigte Kaste der Junker. Sie bestand darin, eilig ein Bündnis mit dem zaristischen Rußland zu schließen, sich selbst mit an die Spitze der Volksbewegung zu stellen und Napoleon vernichtend zu schlagen und zu entmachten. Für diese sicherlich gewaltigen Anstrengungen konnte man dem Volk so viel wie nötig versprechen, um später, wenn keine äußere Gefahr mehr bestand, die alte Ordnung wiederherzustellen.

Und so geschah es. Nach dem heimlichen Bündnis Yorks mit den Russen, der sogenannten „Konvention von Tauroggen“, rief der bis dahin jeder Volksbewaffnung zutiefst abgeneigte General, zusammen mit dem aus Rußland eilig herbeigereisten, ihm höchst verdächtigen Freiherrn vom Stein, die Bürger und Bauern Ostpreußens zum bewaffneten Kampf gegen Napoleon auf. Dann wurde der Freiherr vom Stein damit beauftragt, den von der Gefährlichkeit des Spiels entsetzten König Friedrich Wilhelm III. „vor der Angst fast um den Verstand zu bringen“, wie es ein englischer Geschichtsforscher treffend beschrieben hat. Er malte dem König in grellsten Farben den Untergang Preußens aus, der nicht aufzuhalten wäre, hätte der „Landesvater“ nicht den Mut, sich selbst an die Spitze der Bewegung zu stellen. Dennoch dauerte es lange Wochen, bis der buchstäblich vor Angst um seinen Thron schlotternde Preußenkönig Ende Februar 1813, zwei volle Monate nach der Konvention von Tauroggen, endlich in das Bündnis mit dem Zaren einwilligte, und weitere siebzehn Tage verstrichen, bis Friedrich Wilhelm III., fast gewaltsam dazu gezwungen, schreckensbleich und zitternd einen Aufruf „An Mein Volk“ unterschrieb, den klügere Köpfe für ihn aufgesetzt hatten.

Dieser berühmte Aufruf, ergänzt durch die von Feldmarschall Kutusow, dem neuen gemeinsamen Oberbefehlshaber aller russischen und preußischen Truppen, fast gleichzeitig herausgegebene Proklamation von Kalisch, verklärte den Krieg gegen Napoleon zu einem Freiheitskampf mit nationaldeutschem Ziel. Es war die Rede von einer „Gestaltung des ganzen Deutschen Reiches nach den Wünschen der deutschen Nation“, von der „Stunde der großen Abrechnung“ und von „schimpflicher Absetzung“ aller deutschen Fürsten, die immer noch bei Napol6on als dessen Verbündete ausharrten.

Diese Proklamationen, die während der nächsten hundertdreißig Jahre als eine patriotische Tat des Preußenkönigs sondergleichen gepriesen wurden und von gläubigen Bürgern zunächst auch als solche empfunden worden waren, hatten nichts anderes zum Ziel, als die schamlose Ausnutzung der Begeisterung und Opferbereitschaft des Volkes. Zumindest der König selbst und seine engsten Ratgeber handelten in durchaus betrügerischer Absicht, und es läßt sich zu ihrer Entschuldigung allenfalls anführen, daß sie sich dies alles nicht selbst ausgedacht hatten, sondern daß sie gegen ihren Willen mitgerissen worden waren und nun zusehen mußten, wie sich ihre wahren Absichten am besten vertuschen ließen.“

 

Zurück zum alten Zopf: gebrochene Versprechen

 

„… während ein dicker Bourbone, Ludwig XVIII., ein Bruder des während der Französischen Revolution hingerichteten Königs, aus dem Exil zurückkehrte, mit der ganzen Überheblichkeit eines „angestammten Herrschers“ den Thron von Frankreich einnahm und daranging, die alte Feudalherrschaft von Adel und Geistlichkeit wiederaufzurichten.

Diese „Rückkehr zur Rechtmäßigkeit“, die die Siegermächte dem am Boden liegenden Frankreich bescherten, war ein böses Vorzeichen für Deutschland. Und eigentlich war damit alles, was dann auf dem Wiener Friedenskongreß, der im Juni 1815 endete, von den Staatsmännern ausgehandelt und beschlossen wurde, bereits deutlich vorgezeichnet: Es sollte, soweit wie irgend möglich, alles wieder so werden, wie es vor 1789 gewesen war, ehe „unbotmäßiger Pöbel“ die „Alte Ordnung“ über den Haufen geworfen hatte.

Allerdings trieb man die „Rückkehr zur Rechtmäßigkeit“ nicht so weit, daß man die eben noch samt und sonders mit dem gestürzten Franzosenkaiser verbündeten und verschwägerten Herrscherhäuser nun auch aufgefordert hätte, die enteigneten Kirchengüter, die Schätze ausgeplünderter Abteien oder gar die Landeshoheit über die ehemals geistlichen Gebiete wieder herauszurücken. Man begnügte sich vielmehr damit, daß man versprach, den Kirchen Gelegenheit zu geben, sich wieder kräftig zu bereichern - auf wessen Kosten, das bedurfte keiner Erläuterung. Auch die zahllosen adligen Familien, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Zwergstaaten-Alleinherrscher „von Gottes Gnaden“ gewesen waren, bekamen nur in Ausnahmefällen ihre Landesherrlichkeit zurück, beispielsweise die Oldenburger, weil sie mit dem Zaren von Rußland eng verwandt waren. Anderen beließ man die Souveränität ebenfalls nur aus solchen Gründen …

Von einem deutschen Reich, einem einheitlichen Nationalstaat nach den Wünschen des Volkes und von allen anderen großen Versprechungen, die man den Deutschen zu Beginn der „Befreiungskriege“ gemacht hatte, erst recht von den Hoffnungen einiger Idealisten auf eine freiheitliche, moderne Verfassung für ganz Deutschland, war überhaupt nicht mehr die Rede. Die Parole lautete: Rückkehr zur „guten alten Zeit“ des Absolutismus, zur feudalen Unterdrückung und Ausbeutung, zur Unmündigkeit des Volkes und zu dem „von Gott verordneten“ Gehorsam gegenüber jedweder Obrigkeit.

Und die Deutschen nahmen es hin, manche ein wenig murrend, andere glücklich darüber, daß die „Unordnung“, die die Französische Revolution verursacht hatte, nun vorüber war, die meisten mit stummer Ergebenheit in das offenbar unabänderliche Schicksal.“

 

Deutscher Bund: nicht viel mehr als ein Etikett

 

„… Auch erfüllte (der Preußenkönig) Friedrich Wilhelm III. keine der schwärmerischen Hoffnungen, die viele Deutsche an den siegreichen Ausgang der „Befreiungskriege“ geknüpft hatten. Noch bevor Napoleon, der im März 1815 überraschend von Elba nach Frankreich zurückgekehrt war und sich wieder an die Spitze der Armee gestellt hatte, nach nur hunderttägiger Herrschaft am 18. Juni 1815 bei Waterloo erneut und diesmal endgültig besiegt worden war, hatte der Preußenkönig auf dem Wiener Kongreß seinen Beitritt zu dem - vom Freiherrn vom Stein und anderen Fortschrittlichen heftig umkämpften - „Deutschen Bund“ erklärt.

In dessen Gründungsurkunde war vom deutschen Volk und seinen Wünschen so gut wie gar nicht mehr die Rede. Lediglich der Artikel 13 hatte in Aussicht gestellt: „In allen Bundesstaaten wird eine landesständische Verfassung stattfinden.“ Friedrich Wilhelm III. meinte dazu, es sei damit dem Volk zwar eine Art Verfassung versprochen, aber nicht gesagt, für wann. Und während des nächsten Vierteljahrhunderts, bis zu des Königs Tod im Jahre 1840, sah Seine Majestät sich nicht veranlaßt, das vage Versprechen zu erfüllen.

Ebenfalls nicht interessiert war Friedrich Wilhelm III. an der nationalen Einigung der Deutschen, und darin stimmte er überein mit allen anderen Fürsten. Infolgedessen war der „Deutsche Bund“ alles andere als ein Einigungswerk. Das seltsame Gebilde bestand - wie schon kurz erwähnt - aus sechs Kaiser- und Königreichen, wovon zwei, Preußen und Österreich, nur zum Teil dazugehörten, ferner 31 Kurfürsten-, Großherzog-, Herzog- und Fürstentümern, von denen drei durch auswärtige Souveräne, nämlich die Könige von Großbritannien, den Niederlanden und Dänemark, vertreten waren, sowie einer Landgrafschaft und vier „freien“, das heißt: unter eigener Regierung stehenden Städten. Das bunte Durcheinander von unterschiedlichsten Zoll-, Münz-, Maß-, Post- und Rechtssystemen lähmte Handel und Verkehr der Bundesstaaten untereinander. Von den etwas über 22 Millionen Einwohnern der zum „Deutschen Bund“ gehörenden Gebiete waren mehr als ein Viertel keine Deutschen, sondern Tschechen, Slowaken, Kroaten, Italiener, Ladiner, Furlaner, Wallonen, Franzosen und Angehörige kleinerer Minderheiten. Nicht nur jeder der über vierzig selbständigen Bundesstaaten hatte Zollgrenzen und eigene Währung; auch innerhalb der einzelnen Länder und Ländchen gab es für die Provinzen und Städte oft besondere Zollregelungen sowie Dutzende von gesetzlichen Zahlungsmitteln. So wurden allein innerhalb von Mecklenburg an 83 verschiedenen Stellen Zölle erhoben, und zwar nach völlig unterschiedlichen Systemen. In den preußischen Provinzen östlich der Elbe waren 67 stark voneinander abweichende Zolltarife in Kraft, wobei der eine oft verbot, was der andere erlaubte. Zwischen den durch das Königreich Hannover getrennten West- und Ostprovinzen Preußens bestanden nahezu keine wirtschaftlichen Beziehungen. Und in den preußischen Rheinlanden waren 71 fremde Münzsorten als gültige Zahlungsmittel anerkannt und im Umlauf.

Dieser „Deutsche (Fürsten-)Bund“ wurde ergänzt durch die „Heilige Allianz“ nahezu aller Fürsten Europas unter Führung der Herrscher von Rußland, Österreich und Preußen. Und die Hauptaufgabe dieser beiden, sich in Deutschland überschneidenden Bündnissysteme war es, alle freiheitlichen und fortschrittlichen Bestrebungen möglichst schon im Keim zu ersticken, alle Neuerungen, die die Französische Revolution und das Napoleonische Zeitalter gebracht hatten, soweit wie irgend möglich rückgängig zu machen und die Völker mit Hilfe der Polizei, des Militärs und der Geistlichkeit in strenger Zucht zu halten.

Österreich führte den Vorsitz im „Deutschen Bund“, und das gab dem Wiener Staatskanzler, Klemens Fürst von Metternich, zusätzlichen Einfluß auf die innerdeutschen Verhältnisse und eine zentrale Stellung bei der Verfolgung aller freiheitlich gesinnten Deutschen, die von den Regierungen damals schlicht als „Demagogen“, will heißen: Volksverführer und -aufwiegler, bezeichnet wurden.

Innerhalb der „Heiligen Allianz“ gab der Zar Alexander I. von Rußland den Ton an und gefiel sich in der Rolle des „Gendarmen Europas“. Durch seine zahlreichen Agenten übte er besonders in den deutschen Kleinstaaten eine zusätzliche Kontrolle aus. Gesinnungsschnüffelei und laufend verstärkte Polizeimaßnahmen waren die Folge.“

 

Emil von Krausewitz

 

Bernt Engelmann verdeutlicht die Verhältnisse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, indem er sie in die Gegenwart „übersetzt“ und verwendet dazu die Figur des fiktiven, aber typischen Emil von Krausewitz:

„… Nur im Rheinland hatten sich die Verhältnisse unter der Herrschaft der Franzosen so grundlegend verändert, daß es dem Adel dort nicht mehr möglich war, die alten Zustände wiederherzustellen; vor allem im Linksrheinischen blieben die aufgeteilten Klöster- und Adelsgüter Eigentum der Bauern. Dagegen wurden in den Königreichen Hannover, Sachsen und Bayern sowie in Hessen und Baden die Leibeigenschaft, die Frondienste und die anderen Feudallasten ebenfalls wiedereingeführt und bestanden bis 1830/31 fort.

Insgesamt bewirkten die verschiedenen Maßnahmen, die zur Beseitigung aller Auswirkungen der Französischen Revolution ergriffen wurden, eine wesentliche Stärkung des Adels, insbesondere der Rittergutsbesitzer im Königreich Preußen.

Nun muß man sich vergegenwärtigen, daß damals die rund 10,5 Millionen Einwohner Preußens noch zu ziemlich genau drei Vierteln auf dem Lande und damit in unmittelbarer Abhängigkeit von diesen Junkern lebten. Man muß weiter berücksichtigen, daß deren jüngere Brüder, Söhne und Vettern die Mehrheit des preußischen Offizierskorps bildeten und daß auch die meisten mittleren und fast alle hohen Beamten und Richter dem Landadel entstammten, der damit das beherrschende Element des preußischen Staates war.

Preußen aber hatte, zusammen mit dem erzreaktionären Österreich der Habsburger und ihres Kanzlers Metternich, die Vormachtstellung im „Deutschen Bund“. Seltsamerweise sahen auch freiheitlich gesinnte und gebildete deutsche Patrioten in allen Teilen Deutschlands damals noch im Königreich Preußen den Wegbereiter der von ihnen heiß ersehnten nationalen Einigung aller Deutschen. Und wirklich spielte in den folgenden Jahrzehnten dieses so rückschrittlich regierte, durch und durch militaristische und von den Junkern beherrschte Preußen die Hauptrolle in der Geschichte Deutschlands.

Deshalb wollen wir den preußischen Junkern, die durch ihren entscheidenden Einfluß in Preußen die Geschicke ganz Deutschlands nach ihrem Willen gestalteten, noch etwas mehr Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. Doch um die Rechte, Anschauungen und Praktiken eines preußischen Junkers des frühen 19. Jahrhunderts voll zu begreifen, wollen wir sie auf einen bundesdeutschen Industriellen unserer Tage übertragen, denn erst dann werden sie in ihrem ganzen Ausmaß deutlich. Dabei müssen wir uns allerdings die heutige Bundesrepublik nicht als einen Staat mit parlamentarischer Demokratie und einem hohen Maß an bürgerlichen Freiheiten vorstellen, sondern als eine stramme Diktatur, im Vergleich zu der eine mittelamerikanische, von der Junta diktatorisch regierte Bananenrepublik als sehr liberal und fortschrittlich gelten könnte. In dieser Diktatur haben Unternehmer wie derjenige, den wir als erdachtes Beispiel nehmen und Emil von Krausewitz nennen wollen, etwa folgende Rechte:

Nicht nur der große Betrieb in der Nähe von, sagen wir: Frankfurt am Main, vielmehr die ganze Trabantenstadt, in der die Arbeiter und Angestellten des Unternehmens leben, ist persönliches Eigentum des jeweiligen Familienoberhaupts derer von Krausewitz. Die Läden, Supermärkte, Tankstellen, Werkstätten und kleinen Handwerksbetriebe in dieser von den Krausewitz-Werken beherrschten Trabantenstadt gehören ebenfalls der reichen Unternehmerfamilie, sind aber meist verpachtet, wobei es selbstverständlich ist, daß Angehörige der Familie von Krausewitz nicht nur bevorzugt bedient werden müssen, sondern daß sie Anspruch auf Gratis-Dienstleistungen aller Art haben. Kommt etwa der Krausewitzsche Fahrer lange nach Feierabend in die Reparaturwerkstatt, weil er für die Limousine des Chefs einen Satz neuer Zündkerzen braucht, so muß der Meister aus dem Bett, und er erhält keine Bezahlung für seine Arbeit, auch nicht für die gelieferten Ersatzteile. Solche nicht genau festgelegten Abgaben und Frondienste stehen der Familie von Krausewitz zu. Der Werkstattpächter muß froh sein, daß ihn der „gnädige Herr“ - so nennt man Herrn Emil von Krausewitz in Krausewitzstadt - nicht davonjagt und den kleinen Betrieb samt Wohnhaus und Garten dem Sohn seines Werkschutzleiters, der sich darum sehr bemüht, zur Weiterführung überläßt.

Alles in der Trabantenstadt gehört der Familie von Krausewitz - auch die Schule, der Kindergarten, das Altersheim, das Krankenhaus und die Kirche. Lehrer, Pfarrer, Kindergärtnerin, Ärzte und Krankenschwestern und sogar die Beamten der Stadtverwaltung unterstehen der Dienstaufsicht des Herrn von Krausewitz, denn er ist auch die oberste staatliche Behörde im Landkreis. Deshalb ist in der Kirche, der Schule, dem Kindergarten sowie in den Krausewitz-Werken ein tägliches Gebet vorgeschrieben, worin es heißt: „Gott schütze unsere Diktatur und segne besonders unsere gnädigen Herrschaften, denen wir Treue und Gehorsam geloben ...“

Die Dienstaufsicht über alle Anstalten hat für Emil von Krausewitz auch als Unternehmer praktische Bedeutung: Wenn in seinen Werken, was sehr häufig vorkommt, eilige Aufträge auszuführen sind und - trotz noch so vielen unbezahlten Überstunden der Belegschaft - ein starker Mangel an Arbeitskräften herrscht, dann läßt Herr von Krausewitz einfach den Schulunterricht ein paar Wochen lang ausfallen, die Schulkinder sowie alle Arbeitsfähigen aus dem Altersheim und dem Krankenhaus in seiner Fabrik mitarbeiten, und das kostet ihn nicht einmal Lohn. Denn diese Hilfskräfte bekommen nur täglich einen Teller Suppe und einen Kanten Brot. (Daß die Schulkinder dadurch weniger lernen, schadet nichts; Bildung ist nach Herrn von Krausewitzens Überzeugung ohnehin nichts für die unteren Stände.)

Auch die Frauen und älteren Töchter der Fabrikarbeiter sind, neben ihrer sonstigen Beschäftigung, zu unentgeltlichen Arbeiten für die gnädigen Herrschaften verpflichtet. Sie putzen in der Villa des Chefs, jäten Unkraut im Park, reinigen nach Feierabend die Fabrik- und Büroräume, waschen die Wäsche der Familie von Krausewitz und helfen in der Werksküche Gemüse putzen und Kartoffeln schälen. Es macht nichts, daß sie dabei um Freizeit und Schlaf kommen, denn - so meint Emil von Krausewitz -Muße bringt die Leute nur auf dumme Gedanken.

Die Arbeiter selbst haben täglich, außer sonntags, vierzehn Stunden lang im Betrieb zu arbeiten, wenn es nötig ist, auch noch länger. Emil von Krausewitz, der selbst Rittmeister der Reserve ist, hält auf strenge militärische Zucht und soldatische Umgangsformen, auch und gerade in seiner Fabrik. Wenn ein Arbeiter von einem Vorgesetzten angesprochen wird, hat er strammzustehen und mit „Jawoll“ oder „zu Befehl“ zu antworten. Ein Kündigungsrecht gibt es für die Arbeiter und Angestellten nicht, auch keinen Tarif. Urlaub bekommen die Leute nur in Ausnahmefällen, bei besonderem Wohlverhalten und nur bis zu zwei Tagen im Jahr. Die Entlohnung der Arbeiter geht bargeldlos vonstatten: Sie bekommen einmal wöchentlich ein paar Gutscheine, die zum Einkauf in den Geschäften berechtigen, sowie eine Flasche Schnaps aus der von Krausewitzschen Kornbrennerei. Da die Preise in den Läden hoch und die Gutscheine sehr knapp bemessen sind, leben die Beschäftigten der Krausewitz-Werke am Rande des Existenzminimums. Diebstähle aus Hunger kommen leider häufig vor.

Sie werden wie alle anderen kleinen Vergehen - Zuspätkommen, Faulheit, unsoldatische Haltung oder leichte Beschädigung von Werkseigentum - auf unbürokratische Weise durch körperliche Züchtigung geahndet, je nach der Schwere des Falls mit ein paar Ohrfeigen vom Meister oder vom Abteilungsleiter, bei Lehrlingen mit dem Rohrstock, bei Wiederholungstätern wohl auch durch „Sonderbehandlung“ im Hinterzimmer des Werkschutz-Wachlokals. Schwere Vergehen wie Befehlsverweigerung, Eigentumsdelikte, die nicht als Mundraub zu entschuldigen sind, grobe Verstöße gegen die Sittlichkeit oder aufwieglerische Reden werden von Emil von Krausewitz selbst in seiner Eigenschaft als Gerichtsherr des Fabrik- und Stadtbezirks bestraft. Dabei hält er sich nicht allzu streng an die Gesetze, sondern verfährt nach eigenem Gutdünken: Er würde zum Beispiel einen Meister, der sich wiederholt an kleinen Mädchen aus dem Kindergarten vergangen hat, deshalb nicht einsperren, denn dann fehlte ihm der ansonsten tüchtige Mann ja im Betrieb; vielmehr würde er den Missetäter mit einer empfindlichen Geldstrafe davonkommen lassen und ihm diese in Raten vom Lohn abziehen. Ein besonders fleißiges, außerdem hübsches und adrettes Mädchen, das als Stenotypistin im Versand arbeitet, bekäme, wenn es etwa zu heiraten versucht hätte, ohne die dafür gesetzlich vorgeschriebene Genehmigung der Personalabteilung einzuholen, nur ein paar Hiebe mit der Reitpeitsche auf das entblößte Gesäß - eine Strafe, die Emil von Krausewitz gern selbst vollzieht. „Der Kerl“ dieses Mädchens, ein arbeitsscheuer Aufwiegler, der den Arbeitern einzureden versucht hat, erwachsene Menschen brauchten keine Heiratserlaubnis, und die Leute sollten sich nicht so anstrengen, das Wohlgefallen des gnädigen Herrn zu finden, der ein übler Schinder sei - für „diesen Kerl“ gibt es bei Emil von Krausewitz keine Gnade!

Er ließe den Burschen erst mal von seinem Werkschutz zusammenschlagen, dann von zwei Polizisten, die ihm als Kreisbehörde unterstehen, gefesselt zum Gericht der Bezirkshauptstadt bringen. Und dort verurteilte ihn dann der Bruder von Frau von Krausewitz, Herr Oberrat von Knorr, wie zuvor im Familienkreis bei einer guten Flasche Wein abgesprochen, zu einer langen Zuchthausstrafe. Das wäre dann des Burschen Ende, denn es ist üblich, alle „groben“ und insbesondere politischen Verbrecher aus Abschreckungs- und Sicherheitsgründen einer befreundeten Macht zur Verschickung in besonders ferne und unwirtliche Gegenden zu übergeben, „um dort zu den härtesten Arbeiten in den Bergwerken gebraucht zu werden, ohne daß ihnen einige Hoffnung bliebe, jemals wieder in Freiheit zu kommen“.

(Unter König Friedrich Wilhelm III. wurden tatsächlich preußische Abgeurteilte an die Polizei des Zaren von Rußland übergeben und - entsprechend der oben auszugsweise zitierten Anordnung - zu lebenslänglicher Zwangsarbeit nach Sibirien deportiert.)

Indessen brauchen so strenge Maßnahmen nur verhältnismäßig selten ergriffen zu werden. Im allgemeinen „parieren“ die Leute, wie Emil von Krausewitz befriedigt feststellen kann. Sie sind von Kindesbeinen an zu Kadavergehorsam und Unterwürfigkeit erzogen - im Elternhaus, im Kindergarten, in der Schule, im Konfirmandenunterricht und beim Gottesdienst, in der Lehrzeit und beim Militär, und an allen diesen Erziehungsstätten mit Hilfe des Stocks. Unterernährung von Jugend an und ein so geringes Maß an Bildung, daß man sie größtenteils zu den Analphabeten rechnen muß, haben sie weitgehend willenlos gemacht, und die tägliche harte und lange Arbeit hat ein übriges getan. Zudem achten Emil von Krausewitzens Werkschutzleute, Polizisten und sonstigen Aufpasser äußerst streng auf die kleinsten Anzeichen von dem, was sie „Unbotmäßigkeit“ nennen. Und wenn auch die Arbeiter und Angestellten hundertmal zahlreicher und zusammen auch weit stärker sind als die „Ordnungskräfte“, die Emil von Krausewitz unmittelbar zur Verfügung stehen, so hat die in der Person des Chefs verkörperte Obrigkeit doch die beste Rückendeckung, die es gibt: das schwerbewaffnete und gut gedrillte Militär.

Hundertfünfzig Soldaten, unter dem Befehl von vier Offizieren und einem Fähnrich, die sämtlich mit Emil von Krausewitz verwandt oder eng befreundet sind, können innerhalb kürzester Zeit zur Stelle sein, und die Arbeiter wissen, was ihnen dann droht: Die Soldaten sind kräftige Bauernjungen aus weit entfernten Gegenden, die kaum Deutsch verstehen. Sie sind so einexerziert, daß sie auf Befehl ihrer Offiziere ohne Zögern in eine wehrlose Menge schießen und Männer, Frauen und Kinder mit dem Gewehrkolben erschlagen.

Alle fürchten die Soldaten - und hassen sie heimlich -, und das, obwohl fast jeder Arbeiter selbst mehrere Jahre lang beim Militär hat dienen müssen oder in Kürze zum Wehrdienst eingezogen werden wird. Das Regiment, das für sie „zuständig“ ist, wird übrigens befehligt von Oberst Otto von Krausewitz, dem Bruder ihres Chefs, und zwischen der Personalabteilung der Krausewitz-Werke und dem Regimentsstab bestehen sehr enge und freundschaftliche Beziehungen.

Polizei, Militär, Gericht, Verwaltungsbehörde, Pfarramt, Schule, Krankenhaus und Betrieb - alles ist miteinander verkettet und untersteht, unmittelbar oder auf vertrackte mittelbare Weise, dem „gnädigen Herrn“. Es gibt für den kleinen Mann keine Möglichkeit, sich dem von Emil von Krausewitz und seinesgleichen beherrschten Apparat zu entziehen. Und da alles - bis zu der Frage, ob man während der Arbeitszeit rasch seine Notdurft verrichten darf, wie lange und mit welchem bedruckten Blatt als Klosettpapier - streng reglementiert ist, gibt es nur die Wahl, entweder zu gehorchen, jede Demütigung zu schlucken und sich bis zur vollständigen Erschöpfung ausbeuten zu lassen oder dagegen aufzubegehren und dann brutal vernichtet zu werden.

Herr von Krausewitz meint übrigens, daß „seine Leute“ noch viel zu wenig leisten und allzu sanft behandelt werden. Er träumt von früheren Zeiten, als man sie noch foltern, rädern und aufhängen lassen konnte. Man sollte sie, so findet er, weit geringer entlohnen und höhere Akkordleistungen erbringen lassen. Man müßte ihnen jegliche Schulbildung vorenthalten und sie mit Kartoffelschalen und Rübenabfällen beköstigen. Dann kämen sie bestimmt nicht wieder - wie vor ein paar Jahren unter ausländischem Einfluß - auf dumme Gedanken und „faselten“ von Gleichheit und Brüderlichkeit, ja sogar von Freiheit und Demokratie!

Denn „selbstverständlich“ haben weder die Arbeiter und Angestellten noch die Meister und Abteilungsleiter, auch nicht die Ingenieure, Ärzte, Pfarrer und anderen Akademiker, irgendwelche politischen Mitsprache- oder gar Mitentscheidungsrechte. Und Frauen sind nicht einmal privatrechtlich mündig, sondern unterstehen dem Befehl des Ehemanns oder des Vaters. Der ganze Staat beruht auf dem Grundsatz, daß von oben her befohlen und von unten her gehorcht wird. Alle Untertanen, ausgenommen die von Krausewitz und ihresgleichen, sind bloße Werkzeuge, die nicht einmal selbst entscheiden dürfen, ob eine - und gegebenenfalls welche - Zeitungslektüre ihnen frommt. Für die Demütigungen und Tritte, die sie von oben erhalten, dürfen sie sich nur dadurch rächen, daß sie sie verstärkt nach unten hin weitergeben. Und wenn sie selbst die Untersten sind - und nicht einmal ein Kind haben, das sie schlagen können -, dann müssen sie sich damit abfinden oder versuchen, durch eifriges Katzbuckeln und Anschwärzen von Kollegen ein Stückchen höher zu kommen.

Aber staatsbürgerlich unmündig und bloße Befehlsempfänger der Obrigkeit sind sie alle, selbst der Sohn des Gastwirts, der Rechtswissenschaft studiert hat; der Eigentümer des Supermarkt-Konzerns in der Hauptstadt, der fünfmal mehr an Steuern an den Staat entrichtet als Emil von Krausewitz zu zahlen hätte, wäre er nicht als Adliger von allen Abgaben befreit; der Frankfurter Bankier, bei dem Herr von Krausewitz neulich einen Kredit aufnehmen mußte, weil er den Betriebsgewinn eines ganzen Jahres in einer Nacht beim Kartenspiel mit „Standesgenossen“ verloren hat, und auch der Chefingenieur der Krausewitz-Werke, der von der Leitung des Unternehmens mehr versteht als alle Mitglieder der vierunddreißigköpfigen Sippe derer von Krausewitz zusammen. Ihnen allen, auch den Universitätsprofessoren, bürgerlichen Konzernherren, Großkaufleuten und Finanzmagnaten, billigt der von den Krausewitzen und ihresgleichen geformte Obrigkeitsstaat keinerlei staatsbürgerliche Rechte zu. „Es ziemt dem Untertanen, seinem Könige und Landesherren schuldigen Gehorsam zu leisten und sich bei der Befolgung der an ihn ergehenden Befehle mit der Verantwortlichkeit zu beruhigen, welche die von Gott eingesetzte Obrigkeit dafür übernimmt; aber es ziemt dem Untertanen nicht, die Handlungen des Staatsoberhauptes an den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen und sich in dünkelhaftem Übermute ein öffentliches Urteil über die Rechtmäßigkeit derselben anzumaßen.“ (Zitat aus einem Schreiben des königlich preußischen Ministers des Innern und der Polizei von Rochow vom 15. Januar 1838, Beschwerden über die Entlassung von sieben Göttinger Universitätsprofessoren betreffend, die gegen die willkürliche Aufhebung der Verfassung im Königreich Hannover protestiert hatten.)

Bei einer solchen Lage der Dinge wäre es heutzutage äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich, die Wirtschaft in Gang zu halten, nicht einmal mit den brutalsten Mitteln der Unterdrückung. Gerade die wirtschaftlich Stärksten, die Konzernherren und Finanzgewaltigen, aber auch die akademisch gebildete technisch-wissenschaftliche Führungsschicht, würden sich nicht völlig entmündigen lassen und sich zumindest ihren eigenen, privaten Freiheitsraum zu schaffen versuchen und außerdem ein Mitspracherecht bei allen die Wirtschaft betreffenden Entscheidungen fordern.

Und so war es auch schon im frühen 19. Jahrhundert: Das begüterte Bürgertum, die Kaufherren, Fabrikanten und Bankiers, die Universitätsprofessoren und ihre bürgerlichen Studenten, viele Ärzte, Schriftsteller und Gelehrte - sie alle begehrten jetzt auf, forderten den zumindest wirtschaftlichen Zusammenschluß der deutschen Kleinstaaten sowie Verfassungen, die ihnen gewisse staatsbürgerliche Mitspracherechte garantieren sollten. Sie schlossen sich zu gemeinsamem Vorgehen zusammen und überschütteten die Regierungen und den Bundesrat mit Denk- und Bittschriften, in denen immer schärfere Töne angeschlagen wurden.

Die Interessen der wohlhabenden und gebildeten Bürger waren in wesentlichen Punkten denen des Adels und der Fürsten genau entgegengesetzt: Lag beispielsweise den Feudalherren an der Aufrechterhaltung der Kleinstaaterei und des jede bürgerliche Mitsprache ausschließenden Absolutismus, an hohen Zöllen auf Inlandsgüter und an einer Knebelung der Industrie, die der Landwirtschaft der adligen Güter die spottbilligen Arbeitskräfte zu entziehen drohte, so setzten sich die Fabrikanten und Handelsherren für ein wirtschaftlich - und möglichst auch politisch - geeintes Deutschland, für einen zollfreien Binnenmarkt und für Schutzzölle gegen ruinöse Einfuhren aus dem Ausland sowie für die Freizügigkeit der Landbevölkerung ein. Vor allem aber wollten sie über gewählte Parlamente mitwirken an der Gesetzgebung, an der Festsetzung der Steuern und an der Kontrolle der Staatsausgaben.

Die Studentenschaft bürgerlicher Herkunft forderte darüber hinaus die „Einheit und Freiheit des deutschen Vaterlandes“, in ihren radikaleren Teilen sogar „eine große deutsche Republik“ und „die gewaltsame Beseitigung der Tyrannen“.“

 

Wirtschaftliche Entwicklung

 

„Doch sosehr man auch, in Preußen wie in den meisten übrigen deutschen Staaten, jeden freiheitlichen Gedanken zu unterdrücken und jede Lockerung der Zensur zu verhindern verstand; sosehr man bemüht war, die Zeit aufzuhalten, die Verhältnisse des 17. und 18. Jahrhunderts wiederherzustellen und vor allem von den Vorrechten des Adels und der Souveränität der kleinen Landesherren nichts preiszugeben - ein Fortschritt ließ sich zwar behindern, aber nicht wirklich aufhalten: Es war der Fortschritt der Technik und mit ihm der des Transportwesens, des Verkehrs und vor allem der Industrie.

1816 war erstmals ein Dampfschiff auf deutschen Flüssen eingesetzt worden; 1830 fuhren schon zwölf Dampfer auf dem Rhein. 1835 verkehrte zwischen Nürnberg und Fürth die erste deutsche Eisenbahn mit Dampfantrieb; sie benötigte für die sechs Kilometer lange Strecke knapp zehn Minuten. In den folgenden Jahren kamen immer neue Eisenbahnen hinzu, auch über längere Strecken, so zum Beispiel die etwa hundert Kilometer lange Bahnverbindung zwischen Leipzig und Dresden.

Die ersten Lokomotiven hatte man aus England einführen müssen. Erst 1841 machte das erste in Deutschland gebaute Dampfroß, ein Erzeugnis der Fabrik des gelernten Zimmermanns August Borsig in Berlin, seine Probefahrt. Auch in der Industrie hatte die Verwendung der Dampfkraft Fortschritte gemacht: 1830 gab es im Königreich Preußen bereits 245 Dampfmaschinen mit zusammen 4.485 PS Leistung, davon 815 PS in der Schiffahrt, 2.382 PS im Bergbau und Hüttenwesen; der Rest diente zur Energieerzeugung in Getreide- und Papiermühlen sowie in der Textilindustrie.

Wie rückständig die deutsche Industrie dennoch war, zeigen Vergleiche mit dem Stand in den westeuropäischen Ländern: Noch für 1837 wird etwa die durchschnittliche Jahresleistung eines westfälischen Holzkohle-Hochofens mit 9.410 Zentnern Eisen angegeben; zur gleichen Zeit produzierten die belgischen Koks-Hochöfen rund 90.000 Zentner im Jahr, also fast das Zehnfache, ganz abgesehen davon, daß die Herstellungskosten bei der Verwendung von Koks unvergleichlich niedriger waren. Und während in England die Kohlenförderung zwischen 1820 und 1840 von 12,5 auf 30 Millionen Tonnen im Jahr anstieg, konnte sie in den deutschen Staaten nur von 1,5 auf 3,4 Millionen Tonnen gesteigert werden. Im gleichen Zeitraum entwickelte sich die Roheisenerzeugung folgendermaßen: 1820 produzierte England etwa 370.000 Tonnen; zwanzig Jahre später waren es dort bereits 1.390.000 Tonnen. In Deutschland dagegen stieg die Produktion von Roheisen von 90.000 Tonnen im Jahre 1820 auf nur 190.000 Tonnen im Jahre 1840.

So winzig uns diese Mengen heute vorkommen mögen, so gering sie auch im Vergleich mit den damaligen industriellen Leistungen der westlichen Nachbarn waren und so geradezu rührend bescheiden uns die mit Dampf erzeugten Energiemengen und Streckenrekorde der ersten deutschen Eisenbahnen heute erscheinen: Sie waren der Beginn einer industriellen Revolution; und dessen waren sich die Menschen damals auch bereits bewußt.

Einige der deutschen Fürsten wehrten sich mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln gegen die anbrechende Neuzeit. Kurfürst Friedrich Wilhelm I. von Hessen-Kassel setzte noch im Jahre 1850 gegen alle Vorstellungen seiner Ratgeber ein Verbot durch, in seinem Ländchen Eisenbahnen, Fabriken und sonstigen „neumodischen Unfug“ zu betreiben. Und König Ernst August von Hannover, ein besonders engstirniger Landesherr, erklärte zornig: „Ich will keine Eisenbahn in meinem Land. Ich will nicht, daß jeder Schuster und Schneider so rasch reisen kann wie ich!“

Aber alles Zetern half nichts. Die Industrialisierung nahm, besonders im Westen Deutschlands, einen kräftigen, bald geradezu stürmischen Aufschwung; die Eisenbahnstrecken dehnten sich, nach zaghaften Anfängen, rasch über das ganze Land aus, und ihr „stählernes Band“, wie man es nannte, dem entlang seit 1844 auch schon Telegrafendrähte liefen, trug ganz wesentlich dazu bei, daß die Menschen in den deutschen Klein- und Kleinststaaten einander näher kamen als je zuvor. In der Neujahrsnacht 1834 waren zudem unter dem Jubel des Volkes die Zollschranken gefallen, zwar nicht überall im „Deutschen Bund“, aber doch zwischen einigen der wichtigsten Mitgliedstaaten. Zunächst hatten sich Preußen, Hessen, Bayern und Württemberg sowie eine Reihe von mitteldeutschen Zwergstaaten zum Deutschen Zollverein zusammengeschlossen, dem bald auch Baden, Nassau und Frankfurt beitraten. Allerdings blieben Hannover, Oldenburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg und die Hansestädte dem Zollverein fern; Österreich war erst gar nicht zum Beitritt aufgefordert worden, und innerhalb des Zusammenschlusses blieb es bei dem alten Durcheinander von Währungen, Maßen und Gewichten. Aber es war doch ein großer Fortschritt, vor allem für die Großhändler und Fabrikanten, die nun endlich einen großen, etwa 23 Millionen Menschen umfassenden Inlandsmarkt erhielten. Doch ehe am 1. Januar 1834 viele - wenngleich längst nicht alle - Schlagbäume fielen und am 7. Dezember 1835 die erste deutsche Dampfeisenbahn von Nürnberg aus ihre Fahrt antreten konnte, war innerhalb des „Deutschen Bundes“ einiges andere in Bewegung gekommen.“

 

1830/31: Revolten und Zugeständnisse an Bürgertum

 

„… Indessen darf die Tatsache, daß nun weniger Menschen an Unterernährung starben, die Gesamtbevölkerung daher sprunghaft zunahm (und das Hauptanbaugebiet der Kartoffeln, das Königreich Preußen, davon am meisten profitierte), nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Masse der Bevölkerung in Deutschland dennoch am Rande des Existenzminimums lebte. Mehr als 70 von 100 Deutschen wohnten noch immer auf dem Lande; die überwiegende Mehrheit von ihnen litt unter der verschärften Ausbeutung durch die adligen Großgrundbesitzer, mußte in so primitiven Verhältnissen dahinvegetieren, wie man es heute nur noch in den dürftigst entwickelten Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas kennt, und beneidete nicht selten das Vieh um dessen schonendere Behandlung, gepflegtere Unterkunft und regelmäßige, ausreichende Nahrung.

Aber auch die breite Unterschicht der Bevölkerung in den Städten lebte in bitterer Armut. Ihre Lage hatte sich ständig verschlechtert. Die Steuern, die auf Brot, Salz, Fleisch, Bier und anderen Lebens- und Genußmitteln lagen, wurden laufend erhöht - mancherorts stiegen sie von 1820 bis 1830 auf das Doppelte, ohne daß die Löhne ebenfalls angehoben worden wären. Im Gegenteil, bei erheblich verlängerter Arbeitszeit, steigendem Akkord und gleichbleibender Entlohnung sanken die tatsächlichen Löhne, und da die Preise infolge der wachsenden Besteuerung gleichzeitig stiegen, nahm die Verelendung der Lohnabhängigen in besorgniserregender Weise zu.

Die politische Rechtlosigkeit, der Hochmut der Herrschenden, ihre dauernden Schikanen und die Brutalität ihrer Polizei, die strenge Zensur und die unerfüllte Sehnsucht nach staatlicher Einheit der ganzen Nation sorgten dafür, daß auch die wirtschaftlich Bessergestellten immer unzufriedener wurden, und machten vor allem das gebildete Bürgertum zu einem erbitterten Gegner des rückschrittlichen Regimes der großen und kleinen Landesherren.

Doch der Haß auf die Fürsten und der Unmut, den ihre Willkürherrschaft in allen Volksschichten hervorrief, wagten nicht, sich Luft zu machen, bis im Hochsommer 1830, wieder von Frankreich her, Nachrichten von revolutionären Ereignissen kamen, die die Menschen in Deutschland, ja im ganzen von der „Heiligen Allianz“ unterdrückten Europa aufhorchen ließen: Ende Juli 1830 war in Paris nach dreitägigen, sehr heftigen Kämpfen der letzte Bourbonenkönig, Karl X., vom Volk gestürzt und aus dem Land gejagt worden; an seine Stelle war ein gemäßigt liberaler „Bürgerkönig“ getreten, der Parlamentswahlen ausgeschrieben hatte und den Forderungen nach Aufhebung der Zensur und erweiterten bürgerlichen Rechten und Freiheiten sofort nachgekommen war (womit zugleich denen, die mehr, nämlich die Republik und die Änderung der Besitzverhältnisse durchzusetzen versucht hatten, der Wind aus den Segeln genommen worden war - ganz wie es das begüterte Bürgertum gewünscht hatte).

Die revolutionäre Bewegung griff binnen weniger Wochen von Frankreich über Belgien auf die preußischen Rheinlande über, wo in Aachen, Jülich und Elberfeld Arbeiter die strengen Versammlungsverbote durchbrachen und in Massen gegen Lohnkürzungen demonstrierten. Aber die Polizei, die rechtzeitig alarmiert und verstärkt worden war, stellte „Ruhe und Ordnung“ rasch wieder her …

Im Großherzogtum Hessen-Darmstadt kam es Ende September 1830 zu einer Erhebung der Bauern, die in bewaffneten, mehrere tausend Mann starken Haufen gegen die Hauptstadt vorrückten und die Abschaffung von Fronen und Adelsvorrechten forderten. Durch Einsatz aller verfügbaren Truppen wurde der Aufstand jedoch rasch niedergeschlagen, wobei sich das liberale Bürgertum auf die Seite der Regierung stellte und das Land zum „Gehorsam gegen die Obrigkeit“ aufrief.

Dagegen erhob sich im Herzogtum Braunschweig im September 1830 nahezu die gesamte Bevölkerung gegen den allen verhaßten Herzog Carl. Als sich sogar die Offiziere der Wache weigerten, den Landesherrn gegen die anrückende Volksmenge zu schützen, ergriff der Herzog die Flucht. Sein Schloß wurde niedergebrannt, er selbst für abgesetzt erklärt. Aber damit war die Revolution auch schon zu Ende, denn nun übernahmen bewaffnete Bürgerwehren, unterstützt vom Militär und von Teilen des Adels, die Wiederherstellung von „Ruhe und Ordnung“. Der jüngere Bruder des abgesetzten Herzogs wurde dessen Nachfolger, und als das enttäuschte Volk noch einmal aufbegehren wollte, unterdrückten die Bürgerwehren den Aufruhr schon im Keim.

Auch im Königreich Hannover, vor allem in Göttingen, kam es im Herbst 1830 zu Unruhen, die, obwohl sie scheiterten, eine erhebliche Liberalisierung der Verhältnisse bewirkten. In Bayern, Württemberg und Baden, wo es bereits Verfassungen gab, hatten die Ereignisse in Norddeutschland zur Folge, daß die Regierungen von sich aus die Zensur lockerten, Pressefreiheit gewährten und Steuererleichterungen bewilligten, ohne daß die Bürgerschaft Kampfmaßnahmen zu ergreifen brauchte.

Alles in allem verschafften die von der französischen Juli-Revolution ausgelösten Unruhen der Bürgerschaft zahlreicher deutscher Kleinstaaten etwas mehr Freiheit und einige politische Rechte; für die breite Unterschicht in Stadt und Land, zumal für die abhängigen Bauern, änderte sich so gut wie nichts. Es hatte sich gezeigt, daß das Besitzbürgertum, sobald seine eigenen Forderungen einigermaßen befriedigt waren, lieber ein Bündnis mit den ihm verhaßten alten Gewalten einging, um gemeinsam das Volk niederzuhalten, als daß es tiefgreifende Veränderungen zu riskieren bereit gewesen wäre, die auch eine Infragestellung der eigenen Besitzverhältnisse hätten bewirken können.

Für die Herrschenden in den deutschen Staaten waren die Ereignisse des Herbstes 1830 ein schwerer Schock, und sie sahen auch keinen Trost darin, daß sich die Besitzbürger als entscheidender Ordnungsfaktor erwiesen hatten, war doch die Hilfe der verachteten Bürger mit - vom Standpunkt der Feudalherren aus - viel zu großen Zugeständnissen erkauft worden. Und die Landesherren samt dem reaktionären Adel hätten zweifellos, kaum daß sich die Unruhen wieder gelegt hatten, die ihnen abgepreßten Liberalisierungen rückgängig zu machen versucht, wäre nicht ihr Plan vereitelt worden durch ein - wiederum außerhalb Deutschlands sich abspielendes - revolutionäres Ereignis: die Erhebung des polnischen Volks gegen die zaristische Unterdrückung im Spätherbst 1830.

Der Aufstand der Polen, der, für die Russen völlig überraschend, am 29. November ausbrach, vereitelte die Absicht des Zaren, in Mittel- und Westeuropa militärisch einzugreifen und alle revolutionären Bewegungen zu vernichten. Die „Heilige Allianz“, in deren Rahmen die russische Intervention mit den Höfen von Wien und Berlin bereits abgesprochen war, wurde durch den Polenaufstand für anderthalb Jahre aktionsunfähig.“

 

Es gärt

 

1832 kam es zum „Hambacher Fest“ und der Wurm verweist gerne auf frühere Beiträge, die sich mit dieser Zeit beschäftigten:

Georg Büchner und der „Hessische Landbote“ (1834): http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/39-leben-im-elfenbeinturm.html

Die „Heilige Allianz“: http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/187-heilige-allianz.html

Situation der Arbeiterschaft und Schlesischer Weberaufstand von 1844: http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/59-preussisches-regulativ.html

Karl Marx, Friedrich Engels und das „Kommunistische Manifest“ von 1848: http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/272-ziemlich-beste-freunde.html und http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/329-der-erloeser.html

Weiter mit Bernt Engelmann:

„… Danach starb in Deutschland jede öffentliche oppositionelle Bewegung aus, bis im Sommer 1837 der König Ernst August von Hannover die vier Jahre zuvor dem Land gewährte Verfassung kurzerhand außer Kraft setzte und sieben Göttinger Professoren, unter ihnen die Brüder Grimm, aus ihren Ämtern jagte, weil sie gegen sein Vorgehen protestiert hatten. Drei der Professoren, der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann, der Literaturhistoriker Georg Gottfried Gervinus und der Germanist Jacob Grimm, wurden sogar des Landes verwiesen. „Professoren, Huren und Ballettänzerinnen kann man überall für Geld haben“, bemerkte dazu König Ernst August, als ihm einige berühmte Gelehrte, unter ihnen Alexander von Humboldt, klarzumachen versuchten, daß er mit der Vertreibung der Wissenschaftler seinem Lande und damit sich selber schade.

Tatsächlich wurde Ernst August zu einer Symbolfigur der verhaßten Reaktion, während man die mutigen Professoren, die „Göttinger Sieben“, als Volkshelden feierte. Die scharfen Maßnahmen der Herrschenden, die diese neuerlichen oppositionellen Regungen sofort zu unterdrücken versuchten, bewirkten indessen nur, daß die erlahmte liberale Bewegung wieder zu erstarken begann. Ihr wichtigstes Sprachrohr wurden die Halleschen Jahrbücher, die Arnold Ruge, zusammen mit Ernst Theodor Echtermeyer, von Anfang 1838 an herausbrachte. Ruge, der bis dahin schon zweimal längere Festungsstrafen hatte verbüßen müssen, erkannte bereits klar die Zeichen der Zeit: den sich verschärfenden Gegensatz zwischen den Bürgern, vor allem den wirtschaftlich erstarkten Fabrikanten, auf der einen und dem „halbfeudalen, halbbürokratischen monarchischen Regime“ - wie der Fabrikant Friedrich Engels es formulierte - auf der anderen Seite. Weniger klar als Engels, der sich da keine Illusionen machte, sah Ruge den zweiten, sich noch schneller verschärfenden Gegensatz zwischen den Besitzenden, gleich ob adlig oder bürgerlich, und der Masse der Besitzlosen.“

 

Die Lage spitzt sich zu: Johann Jacoby und die Folgen

 

„Am 7. Juni 1840 starb König Friedrich Wilhelm III. von Preußen, der Mitbegründer der „Heiligen Allianz“ von 1815. In seinen Nachfolger, Friedrich Wilhelm IV., hatte ein Teil des liberalen Bürgertums große Hoffnungen gesetzt. Allgemein erwartete man vom neuen König einige der überfälligen Reformen, eine Lockerung der Zensur und vor allem die seit langem den Bürgern versprochene Verfassung. Doch Friedrich Wilhelm IV. erfüllte keine der in ihn gesetzten Erwartungen. Er erwies sich als ebenso engstirnig und fortschrittsfeindlich wie seine Vorgänger, und das rief bei der liberalen Opposition große Erbitterung hervor.

In dieser gespannten Lage erschien eine Schrift mit dem Titel Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen. Ihr Verfasser, Johann Jacoby, war ein sehr angesehener jüdischer Arzt aus Königsberg. Was er schrieb, erregte in ganz Preußen, ja in ganz Deutschland großes Aufsehen. Es war vor allem die feste, selbstbewußte Sprache Jacobys, die die Menschen aufhorchen ließ. Er erklärte, man solle nicht die Teilnahme des Volkes an den Staatsangelegenheiten als eine „gnädig“ zu gewährende Gunst „untertänigst“ erbitten, sie vielmehr als erwiesenes Recht in Anspruch nehmen. Ein solches Recht ergebe sich aus der Mündigkeit des Volkes, die im Verfassungsversprechen von 1815 ja auch vom Königshaus anerkannt worden wäre. Nun müsse das Volk selbst dafür sorgen, daß es zu seinem Recht käme.

Das waren unerhörte Forderungen, wie sie öffentlich zu äußern bis dahin noch niemand im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts den Mut gehabt hatte! Zugleich war es Jacoby gelungen, in einer klaren, jedermann verständlichen Sprache die von Immanuel Kant gelieferte Definition der Aufklärung als den „Ausgang der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit“ den praktischen Erfordernissen des Tages anzupassen.

Noch ehe die Behörden zugreifen konnten, war Jacobys Schrift in großer Auflage gedruckt und im ganzen Königreich verteilt. Überall begannen Unterschriftensammlungen, bei denen sich die Bürger mit dem Königsberger Arzt solidarisch erklärten. Jacoby wurde wegen „Hochverrat, Majestätsbeleidigung und frechen, unehrerbietigen Tadels der Landesgesetze“ der Prozeß gemacht, der mit seiner Verurteilung zu zweieinhalb Jahren Festung endete. Schon zuvor war seine Flugschrift, auf Antrag Preußens, in allen deutschen Staaten verboten und - soweit man ihrer noch habhaft werden konnte - beschlagnahmt worden.

Beides, Verbot und Verurteilung, machten Johann Jacoby nur noch populärer, seine heimlich nachgedruckte und in ganz Deutschland zirkulierende Flugschrift zur begehrtesten Lektüre der Bürger. Außerdem hob die höchste Instanz des Königreichs das Urteil gegen Jacoby wieder auf, sprach ihn in allen Anklagepunkten frei und bescheinigte ihm überdies, ehrenhaft, mutig und - richtig gehandelt zu haben! Der Chefpräsident des Kammergerichts, Wilhelm Heinrich v. Grolmann, vom König deshalb mit Vorwürfen überschüttet, erbat und erhielt daraufhin seine Entlassung aus dem höchsten Richteramt Preußens. Er setzte damit ein Signal, das die bis dahin eher behutsame höhere Beamten- und Richterschaft des rückständigen Königreichs ermunterte, mehr Kritik am reaktionären Kurs zu wagen. Auch befürchteten nun die regierungstreuen Kreise, der König und sein junkerlicher Anhang könnten den Bogen überspannen und damit den radikalen Demokraten in die Hände spielen.“

 

Es geht los: Anstoß von außen

 

„Was aber dann in ganz Deutschland, wo es schon seit dem Winter 1846/47 zu immer häufigeren örtlichen Hungerrevolten, Erstürmungen von Bäckerläden und ähnlichen Unruhen gekommen war, im März 1848 eine allgemeine Volkserhebung auslöste, waren nicht Parteiprogramme und Manifeste. Der Anstoß kam wieder einmal von außen, und zwar - auf dem Umweg über Ereignisse in der Schweiz und in Italien - von Frankreich her.

In der Schweiz hatten liberale Bürger, radikale Handwerksgesellen und Kleinbauern die ihnen verhaßte, 1815 vom Wiener Kongreß festgelegte Souveränität der 22 Kantone beseitigt, einen Bundesstaat gebildet, den bevorrechtigten Sonderbund der sieben stockkonservativen, katholischen Kantone aufgelöst und die Jesuiten verjagt. Das unerschrockene Vorgehen der Schweizer hatte erhebliche Auswirkungen und wurde von der Bevölkerung Süddeutschlands ebenso lebhaft begrüßt wie von den Italienern, deren nördliche Provinzen unter österreichischer Fremdherrschaft standen. In Mittel- und Süditalien, vor allem in dem besonders rückschrittlichen, morschen und völlig korrupten Kirchenstaat und im Königreich beider Sizilien, hatte das Volk schon in den Monaten zuvor den Kampf um die nationale Einigung, Unabhängigkeit und Freiheit begonnen und bedeutende Teilerfolge errungen.

Angesichts dieser für den Feudalismus in Europa so bedrohlichen Entwicklung ließ der österreichische Staatskanzler Fürst Metternich in Oberitalien große Truppenverbände zusammenziehen und drohte im Verein mit den Regierungen Rußlands, Preußens und auch Frankreichs den Schweizern mit militärischer Intervention, falls sie nicht ihre Reformen rückgängig machten.

Doch noch während die Vertreter der seit mehr als drei Jahrzehnten jede freiheitliche Regung in Europa unterdrückenden „Heiligen Allianz“ mit den Abgesandten des französischen Bürgerkönigtums darüber berieten, wie man am wirksamsten gegen die liberalen Strömungen vorgehen könnte und gerade den Papst auffordern wollten, an die Völker Europas zu appellieren und alle revolutionären Bestrebungen zu verdammen, da machte in Frankreich ein Aufstand des Volks von Paris der völlig korrupten Monarchie ein Ende.

Am 25. Februar 1848, nach nur dreitägigen Kämpfen, konnte der „Bürgerkönig“ Louis Philippe zur Abdankung gezwungen, die Republik ausgerufen und eine liberale „Regierung der Reformen“ eingesetzt werden, in die auch zwei Vertreter der radikalen Arbeiterschaft der Pariser Vororte aufgenommen werden mußten. „Die Ereignisse in Frankreich“, erklärte Fürst Metternich am 1. März seinen Mitarbeitern, „haben meine Berechnungen zunichte gemacht.“

Und wirklich, wie es Metternich, das Haupt der europäischen Reaktion, befürchtet hatte, sprang der revolutionäre Funke sofort von Frankreich nach Deutschland über. Doch er fiel nicht in ein Pulverfaß, sondern - infolge der Zersplitterung der deutschen Nation in Dutzende von Staaten und des Fehlens einer zentralen Hauptstadt, wo in wenigen Stunden ein Sieg für das ganze Land hätte errungen werden können - in mehr als vierzig kleine und kleinste Pulverfäßchen. Das erste stand dicht an der französischen Grenze, im Großherzogtum Baden; es explodierte nicht, aber es brannte knisternd etwa zur Hälfte aus. Führende Liberale der gemäßigten Richtung konnten die Ministerien übernehmen und zumindest einen Teil der vom Volk geforderten Reformen einleiten. Die Bauern rotteten sich zusammen und machten mit den sie bedrückenden Feudallasten selbst ein Ende, ohne weiter auf Widerstand zu stoßen.

Auch in den übrigen deutschen Kleinstaaten ging diese erste Etappe der Revolution erfolgreich und unblutig vonstatten. In Bayern richtete sich die Volkswut vor allem gegen die Tänzerin Lola Montez, die Geliebte Königs Ludwigs I. Die verhaßte Mätresse wurde des Landes verwiesen, der König bald darauf zur Abdankung gezwungen; an seine Stelle trat sein Sohn, Maximilian II., der liberale Minister in sein Kabinett aufnahm und einige der dringendsten Reformen einleiten ließ.

In Württemberg mußte der König am 9. März 1848 vor den Liberalen kapitulieren und ihnen die Regierungsgeschäfte anvertrauen. In einem Brief an den österreichischen Staatskanzler Fürst Metternich vom 11. März gestand er, daß er nicht mehr imstande wäre, die Entwicklung aufzuhalten und „in allem nachgeben“ müßte, um sich und seine Familie zu retten. Er flehte Metternich um Hilfe an, aber der konnte, als der Brief ihn erreichte, niemandem mehr helfen.

Am 13. März stand schon ganz Wien in Aufruhr. „Freiheit! Verfassung! Nieder mit Metternich!“ hallte es durch die Straßen. Das von der Regierung in Bereitschaft gehaltene Militär erwies sich als machtlos. Noch am Abend mußte Fürst Metternich, der Mann, der fast vier Jahrzehnte lang das Rad der Geschichte zurückzudrehen versucht und ganz Europa in Schrecken gehalten hatte, seinen Rücktritt erklären und ins Ausland fliehen. Sein Sturz wurde im ganzen Habsburger Vielvölkerstaat mit Jubel aufgenommen; Mailand und Venedig verjagten die österreichischen Truppen; auch in Prag, Agram und Budapest übernahmen, wie schon zuvor in Wien, Bürgerausschüsse die Herrschaft. Das Militär wurde überall zurückgezogen; bewaffnete Studenten und Bürgerwehren beherrschten die Straßen, und am 15. März verlas ein kaiserlicher Herold vor der Wiener Hofburg einen Erlaß über die Neuordnung des politischen Lebens, worin die Zensur für abgeschafft erklärt, eine Verfassung sowie die Einrichtung einer Nationalgarde versprochen wurde.

In den Tagen zuvor waren in ganz Süddeutschland, wie schon zuvor in Baden, die Bauern gegen ihre Unterdrücker vorgegangen. „Der Bauernkrieg ist förmlich wieder entbrannt“, meldete die Deutsche Zeitung, das in Heidelberg erscheinende Organ der Liberalen, am 14. März, „das schreckliche Losungswort: Krieg den Schlössern! ist bereits durch die Einäscherung einer Zahl derselben durch bewaffnete Banden von Bauern zur greuelhaften Wirklichkeit geworden. Der Aufstand ist da entbrannt, wo auch der Druck der Feudallasten am unerträglichsten war, in den Besitzungen der Fürsten von Hohenlohe ...“

Auch in Bayern, vor allem in Franken, kam es zu Bauernaufständen, die sich besonders gegen die Freiherren von und zu Guttenberg richteten. Im Südschwarzwald wurden die Fürsten zu Fürstenberg, im Odenwaldgebiet die Fürsten zu Leiningen und in Mainfranken die Fürsten zu Löwenstein gezwungen, auf alle feudalen Rechte zu verzichten.

Auch in Hannover, Braunschweig und in den thüringischen Zwergstaaten hatten die Bauern einen starken Anteil an der Volkserhebung und erreichten, neben Reformversprechen und der Einsetzung liberaler Regierungen, beträchtliche Zugeständnisse hinsichtlich der Fronen und Abgaben. In Sachsen zwang die Volkserhebung, vor allem die energische Haltung der Leipziger unter Führung des aus Köln stammenden Schriftstellers Robert Blum, den zögernden König, sein reaktionäres Kabinett am 13. März zu entlassen und eine liberale Regierung zu berufen, die die vom Volk geforderten Reformen verwirklichen sollte.“

 

Revolution in Preußen / Bürgertum verbündet sich mit Adel

 

„Überall wehten schwarz-rot-goldene, als Freiheitsfahnen stürmisch begrüßte Fahnen. Ein blutiger Kampf entbrannte mit dem anrückenden Militär, vor allem in der Gegend um den Alexanderplatz, „wo sich drei Barrikaden von kolossaler Bauart erhoben hatten“. Den ganzen Abend und die Nacht hindurch tobte der Kampf, wobei sich zeigte, daß das in Straßenschlachten ungeübte Militär der Lage nicht gewachsen war. „Zehn, zwölf junge Leute, entschlossen und todbereit, haben die Barrikaden mit wohlgezielten Schüssen, hinter den Barrikaden hervor, aus den Fenstern der Häuser, mit Steinhagel von den Dächern herab, siegreich verteidigt gegen Kanonen, Reiter und Fußvolk; ganze Regimenter mußten weichen“, schrieb der in Berlin lebende Schriftsteller Karl Varnhagen von Ense am 19. März 1848 in sein Tagebuch. „Die eigentlichen Kämpfer waren wenig zahlreich, die Gehilfen aber willig und die Masse günstig; so konnte es geschehen, daß zwanzigtausend Mann Truppen nichts ausrichteten.“

Am Abend des 19. März wurde klar, daß mit militärischer Macht nichts mehr zu erreichen war, ja, daß sich die Soldaten, die sich hie und da schon mit dem Volk zu verbrüdern begannen, bald allen Schießbefehlen widersetzen würden. Ein Versuch des Königs, durch eine Proklamation Zwietracht zwischen die aktiven Kämpfer und die übrige Bevölkerung zu säen, indem er die ersten als „fremde Bösewichter“, die zweiten als seine „treuen und lieben Berliner“ bezeichnete und die Truppen abzuziehen versprach, sobald alle Barrikaden beseitigt und die gewohnte Ordnung wiederhergestellt wären, scheiterte kläglich. Der König wurde vielmehr gezwungen, die 150 Gefallenen auf seiten des Volkes, deren Leichen man ihm blumengeschmückt vor die Fenster des Schlosses getragen hatte, ehrerbietig zu grüßen, vor den toten Barrikadenkämpfern seinen Hut zu ziehen und sich zu verneigen. Außerdem mußte er seinem Heer den Befehl zum Rückzug aus der Stadt geben. Der Dichter Ferdinand Freiligrath hat diese Demütigung des Hohenzollernkönigs durch das Volk von Berlin in seinem Gedicht „Die Toten an die Lebenden“ eindrucksvoll beschrieben.

In diesem Gedicht, das im Juli 1848 entstanden ist, hat Freiligrath aber auch schon erkannt, wie rasch und gründlich dieser triumphale Sieg des Volkes über den Machtapparat des verhaßten Junkerstaates vertan wurde: „Weh euch, wir haben uns getäuscht! Vier Monden erst vergangen, und alles feig durch euch verscherzt, was trotzig wir errangen!“

Der zweite Versuch einer großen, allgemeinen deutschen Revolution zur endlichen Beseitigung der feudalistischen Ausbeutung und der Zwergstaaterei, der nach mehr als drei Jahrhunderten, seit der Erhebung der Bauern und Handwerker von 1524/25 unternommen wurde, war nämlich bereits verraten und damit gescheitert, während das Volk noch seinen so rasch errungenen Sieg bejubelte und die Feudalherren nebst ihrem Anhang zitternd und jammernd das große Strafgericht erwarteten.

Die gemäßigten Liberalen, die nun überall in Deutschland an der Macht waren, dachten nur an ihre eigenen großbürgerlichen Interessen, und diesen entsprach keineswegs, was sich die Masse der Bevölkerung erträumt und wofür die Männer auf den Barrikaden gekämpft hatten: gleiche politische Rechte für alle, freie Wahlen, Volksbewaffnung, Beseitigung der Fürstenthrone und Schaffung einer großen, alle Deutschen vereinenden Republik, in der es keine Ausbeutung und Unterdrückung mehr geben sollte. Im Gegenteil, das Großbürgertum, dessen Vertreter jetzt in allen deutschen Hauptstädten die Regierungsgeschäfte übernommen hatten, wollte keine grundlegende Veränderung der Besitz- und Machtverhältnisse, vor allem keine gewaltsame. Schon Mitte März begannen die liberalen Regierungen in den süddeutschen Staaten mit der Besetzung der Dörfer, in denen die Bauern sich erhoben hatten, durch das aus den Städten abgezogene Militär. Überall ließen sie „Ruhe und Ordnung“ mit Waffengewalt wiederherstellen, jede „Ungesetzlichkeit“ der Bauern streng bestrafen. In den größeren Städten Süddeutschlands, aber auch in den übrigen Staaten, vor allem in Preußen und sogar in Berlin, wurden eilig „Bürgerwehren“ aufgestellt.

Dieser Truppe konnte - wie schon bei den Unruhen von 1830/31 - nur beitreten, wer volles Bürgerrecht hatte, in erster Linie Haus- und Grundbesitzer, selbständige Handwerksmeister, Kaufleute und Fabrikanten, nicht dagegen Gesellen, Dienstboten, Arbeiter und Bürogehilfen.

„Die Bewaffnung der Bürger wird mit Eifer und in großer Ausdehnung betrieben“, schrieb am 20. März 1848 der Liberale Otto Camphausen aus Berlin an seinen Bruder Ludolf, Bankier in Köln, der bald darauf preußischer Ministerpräsident wurde, „gebe Gott, daß sie vollendet sei, bevor die Masse das Gelüste ergreift, sich ebenfalls Waffen auszubitten!“

Noch vor Ende März baten denn auch die Hauptleute sämtlicher Bürgerwehrbezirke von Berlin um die „Rückführung der Truppen in die Hauptstadt“ zwecks „Befestigung der erschütterten Grundlagen der Autorität“, und schon am nächsten Tage rückte das vom Volk geschlagene Militär wieder ein. Gleichzeitig erklärte die gerade eingesetzte Regierung Camphausen, daß des Königs Wille weiterhin oberstes Gesetz sei; daß „der Rechtstitel des Volkes, die Revolution, nicht existiere“ und daß sie sich für die vom König gnädigst in Aussicht gestellten Reformen einsetze, jeden „Krawall“ hingegen scharf verurteile und künftig zu verhindern wissen werde.

Damit war der Bund zwischen dem an die Macht gelangten Großbürgertum und den alten Gewalten geschlossen. Nur zum Schein hielten sich das Junkertum, das Militär und die reaktionäre hohe Beamtenschaft für eine Weile im Hintergrund. Der als besonders brutal, engstirnig und rückschrittlich bekannte und beim Volk verhaßte Bruder des Königs, Prinz Wilhelm von Preußen, erhielt von Friedrich Wilhelm IV. auf Betreiben der liberalen Regierung hin den dringenden Rat, sich in aller Stille eine Zeitlang außer Landes, am besten nach England, zu begeben, was der Prinz auch bereitwillig tat. Der König selbst gab sich als Freund, zwar nicht des gemeinen Volkes, aber doch des bislang von ihm verachteten Bürgertums, zeigte sich besonders leutselig gegenüber der „Bürgerwehr“, die vor seinem Schloß Wache hielt, und wagte sogar, geschmückt mit Schärpen und Bändern in den - bislang verbotenen und verfolgten - Farben Schwarz-Rot-Gold, einen von den Berlinern argwöhnisch beobachteten „Umritt“ durch die Straßen der wieder ruhigen Hauptstadt. Insgeheim aber traf er sich in Potsdam mit den Anführern der Reaktion, Feudalherren und hohen Militärs, um mit ihnen die Möglichkeiten eines Gegenschlags zu beraten und alle Vorbereitungen dafür zu treffen.

Bei dieser Weichenstellung war der weitere Verlauf dessen, was so hoffnungsvoll begonnen hatte und die vom ganzen Volk so heiß ersehnte Befreiung und Einigung hätte bringen können, schon deutlich vorgezeichnet. Und es schien nur noch so, als wäre der Umsturz noch im vollen Gange: In den preußischen Gebieten am Rhein hatte der Regierungsapparat sehr weitgehende Zugeständnisse machen müssen; in den Provinzen, die sich Preußen bei den Teilungen Polens ein halbes Jahrhundert zuvor angeeignet hatte, waren Bauern und Kleinadel in Aufruhr, hatten bereits ein starkes polnisches Heer aufgestellt und standen in Verhandlungen mit Friedrich Wilhelm IV., von dem sie die Gewährung voller nationaler Unabhängigkeit forderten. Überall in Deutschland herrschte eine sehr lebhafte politische Aktivität; in Klubs und Vereinen wurden Programme für eine freiheitliche und gerechte Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse entworfen und diskutiert; es liefen Vorbereitungen für allgemeine Wahlen zu einem gemeinsamen Parlament aller Deutschen von Schleswig bis Südtirol, das in Bälde in Frankfurt am Main zusammentreten, eine Reichsregierung ernennen und eine demokratische Verfassung ausarbeiten sollte; im Elsaß und in der Schweiz sammelten sich Tausende von gutbewaffneten Handwerksburschen und politischen Flüchtlingen, bereit zum Einmarsch nach Deutschland und zum Kampf für die Freiheit. Und in den ersten Apriltagen begann im badischen Bodenseegebiet eine Aktion radikaler Republikaner mit dem Ziel, auf einem Marsch durch Deutschland einen Fürsten nach dem anderen zu entthronen, um auf diese Weise einen geeinten deutschen Freistaat zu schaffen.

Dieser republikanische Putschversuch scheiterte. Die neue liberale Regierung setzte nicht nur die großherzoglich badische Armee gegen die tapfer kämpfenden Republikaner ein, sondern rief auch noch württembergische, bayerische und hessische Truppen zu Hilfe. Diese militärische Übermacht reichte aus, die Aktion schon in ihren Anfängen zu vereiteln. Eine Freischar unter Führung des Dichters Georg Herwegh, die den badischen Republikanern vom Elsaß aus zu Hilfe kommen wollte, wurde von einem württembergischen Regiment umzingelt und vernichtend geschlagen.“

 

Frankfurter Nationalversammlung

 

„Auch bei den Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung zeigte sich die Bereitschaft der in allen deutschen Staaten durch die Märzereignisse an die Macht gelangten gemäßigt liberalen Großbürger, mit den alten Mächten gemeinsame Sache zu machen und das Volk so weit wie irgend möglich von den politischen Entscheidungen fernzuhalten. Anstatt allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlen durchzuführen, wie sie das Volk einhellig forderte und die vorbereitenden Ausschüsse empfohlen hatten, führten fast alle deutschen Staaten Wahlen durch, bei denen die Handwerksburschen, Tagelöhner, Dienstboten und viele weitere Angehörige der untersten Volksschichten von der Möglichkeit der Stimmabgabe ausgeschlossen blieben. Außerdem wurde fast überall indirekt gewählt, das heißt, die Wahlberechtigten jedes Bezirkes wählten sogenannte „Wahlmänner“, die dann ihrerseits einen Abgeordneten zu bestimmen hatten. Auf diese Weise gelang es, die wahre Volksmeinung umzufälschen und die Anzahl entschieden freiheitlich gesinnter Volksvertreter sehr gering zu halten.

Die so gewählte Nationalversammlung, die am 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche erstmals zusammentrat, stellte weder ein Spiegelbild der sozialen Zusammensetzung des deutschen Volks dar, noch entsprach sie in ihren Mehrheitsverhältnissen den wahren Gegebenheiten. Man hat diese erste deutsche Nationalversammlung später häufig, mal in abwertendem, mal in lobendem Sinn als „Professoren-Parlament“ bezeichnet, doch in Wahrheit bildeten ganz andere Gruppen die starke Mehrheit in allen Fraktionen. (Da es noch keine Parteien gab, bildeten sich erst allmählich Fraktionen loser Art, die sich nach den Orten ihrer Zusammenkünfte nannten, zum Beispiel „Deutscher Hof“ oder „Casino“.

Nicht weniger als 152 der insgesamt 812 Abgeordneten (Dabei sind alle mitgezählt, die zu irgendeinem Zeitpunkt Mitglied der Nationalversammlung waren, also auch die bei Tod oder Rücktritt eines Abgeordneten nachgerückten Ersatzmänner) waren Beamte, darunter zahlreiche Regierungs- und Oberpräsidenten, also Spitzenfunktionäre der alten, den Fürsten treu ergebenen Bürokratie. Die zweitgrößte Gruppe war die der Richter und Staatsanwälte, die 110 Abgeordnete umfaßte, darunter Gerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte, die ebenso wenig tiefgreifende oder gar gewaltsame Veränderungen wollte wie die hohen Beamten. Die drittgrößte Gruppe war die der Rechtsanwälte und Notare, die in der Paulskirche mit 106 Abgeordneten vertreten war, von denen die meisten als gemäßigte bis entschiedene Liberale gelten konnten, wobei sie fast ausnahmslos die Interessen des Besitzbürgertums vertraten. Erst an vierter Stelle standen die 94 Professoren, die damit weniger als ein Achtel der Abgeordneten stellten; auch sie waren beinahe sämtlich radikalen Lösungen abhold.

Von den übrigen rund 250 Paulskirchen-Parlamentariern waren 39 Geistliche, unter ihnen der Erzbischof und spätere Kardinal von Köln, Paulus Melchers, sowie mehrere Bischöfe; 18 Offiziere, zumeist im Generalsrang; 46 fast durchweg adlige Gutsbesitzer; 11 fürstliche Diplomaten, zumeist aus dem hohen Adel; 14 Fabrikanten, 35 Großkaufleute und Reeder, 21 Bürgermeister und 44 sogenannte „Privatiers“, wie man wohlhabende Bürger nannte, die von den Zinserträgen ihrer Vermögen lebten, ohne einen Beruf auszuüben.

Sieben Schriftsteller, drei Bibliothekare, vier Handwerksmeister sowie ein paar Dutzend Ärzte, Lehrer und andere Intellektuelle vervollständigten die Palette, an der das auffallendste war, daß es unter den mehr als achthundert Abgeordneten keinen einzigen gab, der aus dem Arbeiter-, Bauern- oder Gesellenstande kam. Die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes, nämlich mindestens 85 Prozent, hatte in der ersten Nationalversammlung überhaupt keinen Repräsentanten; für sie traten nur einige entschiedene Linke ein, zumeist freiberufliche Intellektuelle - so der aus einfachen Verhältnissen stammende Publizist Robert Blum, der Trierer Rechtsanwalt Ludwig Simon, der Dichter und Professor Ludwig Uhland, der Schriftsteller Julius Fröbel, der deutsch-jüdische Dichter Moritz Hartmann aus Böhmen, von Mai 1849 an auch der Mitunterzeichner des „Kommunistischen Manifests“, Wilhelm Wolff, und der unerschrockene Königsberger Arzt Dr. Johann Jacoby, der den Abgeordneten klarzumachen versuchte, daß sie sich nur im Namen der Volkssouveränität energisch gegen die Fürsten zu wenden brauchten, um alle aufrichtigen Demokraten und damit die überwältigende Mehrheit aller Deutschen hinter sich zu haben. „Wer Deutschlands Einheit will“, erklärte er von der Rednertribüne der Paulskirche aus, „der muß die Macht, die Kraft des Volksparlaments fordern. Wer dieser Macht entgegentritt, wer sie hemmt oder schwächt, ist ein Feind des Vaterlandes!“

Doch die Mehrheit der Nationalversammlung steuerte einen Kurs, der dem des Volkes und seiner wenigen linken Repräsentanten entgegengesetzt war. Zunächst übertrug sie die oberste Gewalt in Deutschland nicht - wie der Abgeordnete Ludwig Simon beantragt hatte und wie es im Sinne der Neugestaltung nötig gewesen wäre - einem Vollziehungsausschuß, der die Beschlüsse des Parlaments energisch in die Tat umzusetzen gehabt hätte, sondern einem Vertreter des alten Regimes und Angehörigen des Hauses Habsburg, dem Erzherzog Johann von Österreich. Alsdann beschloß sie, diesen „Reichsverweser“ - so lautete der Titel dieses vorläufigen Staatsoberhaupts aller Deutschen - nicht an die Beschlüsse des Parlaments zu binden oder ihn auch nur gegenüber der Nationalversammlung verantwortlich zu machen. Dieser entscheidende Fehler wurde mit 277 gegen 261 Stimmen beschlossen. Erzherzog Johann nahm die Wahl aber erst an, nachdem sich die deutschen Landesfürsten durch ihre Botschafter in Frankfurt mit diesen Entscheidungen der Nationalversammlung einverstanden erklärt hatten. Danach ernannte er im Einvernehmen mit der Parlamentsmehrheit seine Kabinettsminister, die erste Regierung eines erst noch zu schaffenden Deutschen Reiches.

Reichsministerpräsident wurde - es schien wie blanker Hohn, doch die gemäßigte liberale Mehrheit der Paulskirche kam sich dabei sehr schlau vor und erhoffte sich von ihrem Vorschlag ein gutes Einvernehmen mit den Landesfürsten und der Hocharistokratie sowie mit dem Königshaus von England, dessen Verwandter der Erwählte war - ausgerechnet Fürst Carl zu Leiningen, einer der großen Feudalherren, dem seine Bauern erst ein paar Wochen zuvor mit Gewalt die Abschaffung der mittelalterlichen Fronen abgepreßt hatten.

Die übrigen Sitze im Reichskabinett erhielten: ein liberaler Österreicher von Uradel; ein reaktionärer preußischer Generalmajor, ein hanseatischer Großkaufmann, ein rheinischer Industrieller und ein süddeutscher Professor. Aber das war noch nicht einmal das Wesentliche. Entscheidend war vielmehr, daß diese vom Volk in Ehrfurcht bestaunte erste deutsche Zentralregierung ein Kopf ohne Körper war: Das „Reichskabinett“ hatte keine Beamten, keine Polizei, keine Armee. Wenn diese Regierung ihre Beschlüsse verwirklichen wollte, war sie auf den guten Willen der deutschen Landesfürsten angewiesen. Deren Bürokratie war aber nur bereit, die fortschrittshemmenden Beschlüsse von Parlament und Reichsregierung zu verwirklichen; jede echte Neuerung wurde hingegen von den reaktionären Beamten einfach nicht zur Kenntnis genommen. Und was fast noch schlimmer war: Die Reichsregierung wurde von keiner auswärtigen Macht diplomatisch anerkannt - ausgenommen von der ungarischen Revolutionsregierung, die ihrerseits von keiner ausländischen Regierung anerkannt worden war -; damit war das „Reichskabinett“ nach außen so machtlos wie nach innen und völlig abhängig von den Regierungen der deutschen Einzelstaaten. Je stärker die gegenrevolutionären Kräfte in den Einzelstaaten wurden und je mehr das Paulskirchen-Parlament und „seine“ Reichsregierung das Vertrauen des Volkes verloren, desto nachteiliger wirkte sich diese Abhängigkeit von den Kabinetten der Fürsten aus.

Die große Mehrheit der Nationalversammlung merkte indessen gar nicht oder erst viel zu spät, daß sich die mit so großen Erwartungen gewählte und zusammengetretene erste deutsche Volksvertretung selbst gleich zu Anbeginn durch den Verzicht auf einen eigenen Vollziehungsausschuß jeder Möglichkeit beraubt hatte, auch nur die bescheidensten ihrer Forderungen und Beschlüsse wirklich durchzusetzen.

Mit einem Seufzer der Erleichterung darüber, nun von den Mühen der praktischen Durchführung ihrer Entscheidungen durch den prinzlichen „Reichsverweser“ und sein Kabinett entlastet zu sein, machte sich das Paulskirchen-Parlament sogleich an das, was es für seine eigentliche Aufgabe hielt, nämlich an die Ausarbeitung einer Reichsverfassung. Glänzende Reden wurden gehalten; die Diskussion wurde auf einem Niveau geführt, wie es in der späteren deutschen Parlamentsgeschichte nie mehr erreicht worden ist. Die Präsidenten, Heinrich von Gagern und Eduard Simson, leiteten die Debatten mit Fairneß und Würde, erfolgreich bemüht, dieser ersten Einübung parlamentarischer Demokratie in Deutschland Ansehen und Respekt zu verschaffen.

Auch die Reichsverfassung, die die Nationalversammlung mit großem Fleiß und redlichem Bemühen ausarbeitete, konnte sich sehen lassen. Sie garantierte die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, volle Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit, Abschaffung des Adels als Stand und aller Adelsvorrechte, Beseitigung der Gutsherren-Gerichtsbarkeit und -Polizeigewalt sowie der Zensur, die Aufhebung aller Feudallasten, wenngleich nur gegen „angemessene“ Entschädigung der Feudalherren, einheitliche Maße, Münzen und Gewichte in ganz Deutschland, ein deutsches Reichsbürgerrecht sowie eine Volksvertretung, den Reichstag. Die Einzelstaaten.sollten indessen fortbestehen, künftig aber mit einheitlicher Außenpolitik und gemeinsamer Armee, und an der Spitze dieses als Staatenbund, gedachten Reichs war ein Kaiser vorgesehen.

Obwohl diese Verfassung die Forderung der Volksmassen nach einem Einheitsstaat nur unzulänglich befriedigte, wäre sie dennoch ein bedeutender Fortschritt gewesen, wenn man sie hätte in Kraft setzen können. Doch gerade dies vermochte die Nationalversammlung nicht.“

 

Gegenrevolution

 

„Wie es ihr die Neue Rheinische Zeitung schon einige Tage zuvor prophezeit hatte, entschloß sich die Nationalversammlung am 16. September 1848, die preußischen Abmachungen mit Dänemark, die sie selbst noch elf Tage vorher als schändlich, unannehmbar und landesverräterisch bezeichnet hatte, nachträglich zu billigen. Die Furcht der bürgerlichen Mehrheit vor dem Volkskrieg und der „roten Republik“ war größer als ihre Angst vor der offenkundigen Blamage.

Um so größer war der Zorn des Volks. Am 17. September forderte eine Massenversammlung von Arbeitern und Handwerksgesellen aus Frankfurt und Umgebung, zusammen mehr als zwanzigtausend Männer, den Austritt der Linken aus der „verräterischen“ Nationalversammlung und die Organisation eines Volkskrieges. Dies bot den alten Mächten einen willkommenen Anlaß, Frankfurt durch preußische, österreichische und andere „Bundes“-Truppen militärisch besetzen zu lassen. Am 19. September kam es zum offenen Kampf, aber trotz tapferster Gegenwehr der Arbeiterschaft erwies sich das Militär als stärker. „Die Artillerie scheint den Kampf in den breiteren Straßen entschieden und dem Militär einen Weg in den Rücken der Barrikadenkämpfer eröffnet zu haben“, berichtete die Neue Rheinische Zeitung am 21. September aus Frankfurt. „Der Eifer, womit die Frankfurter Spießbürgerschaft ihre Häuser öffnete und den Soldaten damit alle Vorteile des Straßenkampfes in die Hände gab, die Übermacht der mit den Eisenbahnen rasch hineingezogenen Truppen gegenüber den langsamen, zu Fuß ankommenden Zuzügen der Bauern tat das übrige.“

Die preußische Reaktion nutzte die Selbsterniedrigung des Paulskirchen-Parlaments und den militärischen Sieg über die revolutionäre Arbeiterschaft zu einer weiteren Demonstration ihres Willens, die „alte Ordnung“ wiederherzustellen. Die großbürgerlich-liberale Regierung wurde abgelöst; ein preußischer General wurde Ministerpräsident und Kriegsminister; den an der dänischen Front nicht mehr benötigten Oberbefehlshaber von Wrangel ernannte der König zum Militärgouverneur mit besonderen Vollmachten „in den beiden Marken“, was auch die Hauptstadt Berlin einschloß, und den 219 liberalen und demokratischen Abgeordneten des im Mai erstmals gewählten preußischen Landtags, die eine Entschließung des Parlaments gegen die zunehmenden Dreistigkeiten und Brutalitäten des Militärs durchgesetzt hatten, ließ man bedeuten, der König werde ihren Stimmen die doppelte Anzahl Kanonen entgegensetzen.

Die Lage in Berlin hatte sich also gefährlich zugespitzt. Arnold Ruge, der dort das Organ der Demokraten, Reform, herausgab, meinte dazu: „Der Augenblick, in dem wir leben, zeigt uns eine solche Spannung der feindlichen Gegensätze ..., daß wir nichts Geringeres zu erwarten haben als einen neuen allgemeinen Ausbruch der europäischen Revolution. Diese zweite Revolution wird in Deutschland die reelle Demokratie, in Frankreich die soziale Republik hervorbringen.“

Doch in Wahrheit stand nicht die zweite Revolution bevor, sondern die Konterrevolution, die brutale Vernichtung der März-Errungenschaften durch die militärische Übermacht der nach Rache für ihre Niederlagen und Demütigungen dürstenden Fürsten, Generale und Junker. Und in Berlin war nur die Ouvertüre dazu gespielt worden; der erste Akt des grausigen Stücks wurde in Wien aufgeführt.“

 

Wien

 

„Dort hatte, genau wie in allen anderen deutschen Großstädten, das Bürgertum mit den alten Mächten paktiert und aus Furcht vor einer weiteren Radikalisierung alle Schlüsselstellungen dem reaktionären Adel überlassen. Aber in Wien war die Arbeiter-, erst recht die Studentenschaft weit besser organisiert und bewaffnet als anderswo. Mehrmals konnten diese revolutionären Kräfte eine Preisgabe der Märzerrungenschaften durch das gemäßigt liberale Bürgertum dadurch verhindern, daß sie zu Tausenden vor die Hofburg zogen, Waffen verteilten und Barrikaden errichteten. Deshalb hatte es der kaiserliche Hof vorgezogen, sich nach Innsbruck abzusetzen; bei den „frommen und gut-kaisertreuen“ Tirolern fühlte man sich sicherer als in Wien. Die bürgerlichen Geschäftsleute und Handwerksmeister sahen durch den Wegzug des Hofes ihre Einnahmen in Gefahr; das Besitzbürgertum vergaß darüber alle liberalen Ideale und schlug sich eilig wieder auf die Seite der Reaktion. Ende September fühlte diese sich stark genug, die Politik des Zurückweichens und der zähneknirschenden Duldung aufzugeben und offen zum Gegenangriff überzugehen, sowohl gegen die Revolutionäre in Wien wie gegen die in Ungarn unter Lajos Kossuth. Dadurch sollten die Freiheitsbewegungen innerhalb der Donaumonarchie ihrer wichtigsten Stützen beraubt werden.

Als starke deutsche und italienische Truppenverbände gegen Ungarn in Marsch gesetzt wurden, kam es in Wien zum Volksaufstand. Die Studenten und Arbeiter eroberten einen Teil der zum Kampf gegen die Ungarn bestimmten Geschütze; viele Soldaten faßten daraufhin den Mut, zum Volk überzulaufen. Im Triumph zogen die siegreichen Revolutionäre in die Wiener Innenstadt, stürmten das Regierungsgebäude und hängten den für die Mobilmachung gegen die Ungarn verantwortlichen Kriegsminister als Verräter kurzerhand an einem Laternenpfahl auf. Der aus Innsbruck erst kurz zuvor nach Wien zurückgekehrte kaiserliche Hof ergriff sogleich wieder die Flucht, diesmal nach Olmütz in Mähren, wo bald alle führenden Reaktionäre versammelt waren. Am 16. Oktober 1848 traf auch Feldmarschall Fürst Windischgrätz dort ein. Er wurde mit dem Oberbefehl über eine hunderttausend Mann starke, mit zahlreichen Geschützen ausgestattete konterrevolutionäre Armee beauftragt, die man in aller Heimlichkeit zusammengezogen hatte und die fast ausschließlich aus Kroaten und Panduren bestand. Windischgrätz erhielt den Befehl, die Hauptstadt zu erobern, der Revolution, „koste es, was es wolle“, den Garaus zu machen und sodann die Ungarn anzugreifen.

Die Nachricht von dem bevorstehenden Großangriff auf Wien ging wie ein Lauffeuer durch Deutschland. Alles hielt den Atem an, denn in Kürze mußte sich das Schicksal der Revolution entscheiden. Der Dichter Ferdinand Freiligrath faßte die Stimmung in den Versen zusammen: „Wenn wir noch knien könnten, wir lägen auf den Knien, wenn wir noch beten könnten, wir beteten für Wien ...“

Die Frankfurter Nationalversammlung, die immer noch in der Paulskirche tagte und eine liberale Verfassung diskutierte, nahm von der Bedrohung Wiens kaum Notiz. Sie hatte am 12. Oktober zwei Männer des rechten Flügels als „Reichskommissare“ nach Wien entsandt mit dem sehr vagen Auftrag, „alle zur Beendigung des Bürgerkrieges, zur Herstellung des Ansehens der Gesetze und des öffentlichen Friedens erforderlichen Vorkehrungen zu treffen“. Doch die Herren Reichskommissare zogen es vor, sich nicht ins bedrohte Wien, sondern nach Olmütz zu begeben, um sich dort, wie es Friedrich Engels treffend formulierte, „von Windischgrätz anschnauzen, von dem idiotischen Kaiser“ - Ferdinand I. war tatsächlich schwachsinnig - „anglotzen und von dem Minister Stadion aufs unverschämteste foppen zu lassen“. Daher sah sich der linke Flügel der Paulskirche veranlaßt, seinerseits die beiden Abgeordneten Robert Blum und Julius Fröbel nach Wien zu entsenden. Sie sollten der bedrohten Stadt die zumindest moralische Unterstützung ihres unmittelbar bevorstehenden Kampfes durch alle fortschrittlichen Kräfte in Deutschland vermitteln.

Am 17. Oktober trafen Blum und Fröbel in Wien ein. Vier Tage später stand die Vorhut des Marschalls Windischgrätz bereits an der Stadtgrenze. Am 23. Oktober war die Hauptstadt von den konterrevolutionären Truppen eingeschlossen, und ein mörderischer Kampf begann. Die bürgerliche Mehrheit im Reichstag und im Stadtparlament hatte alle Maßnahmen, die die Einschließung Wiens hätten verhindern können, hintertrieben, einen Ausfall der Studenten und Arbeiter als „ungesetzlich“ verboten und die Hilfe, die die ungarischen Revolutionäre der Stadt anboten, höflich abgewiesen. So war es fast ein Wunder, daß die militärisch ungeübten, schlecht bewaffneten und auch zahlenmäßig weit unterlegenen Verteidiger Wiens dem mörderischen Artilleriefeuer und den pausenlosen Attacken der Panduren und Kroaten viele Tage lang standhielten, auch nachdem am 28. Oktober kaiserliche Truppen in die Stadt einzudringen vermochten, nachdem am 29. Oktober Reichstag, Gemeinderat und die Führung der „Bürgerwehren“ zur Unterwerfung rieten und selbst nachdem die verspätet zur Hilfe anrückenden Ungarn am 30. Oktober von den Kaiserlichen zurückgeschlagen worden waren. Bis zum Morgen des 1. November leisteten Arbeiter- und Studentenbataillone in der Wiener Innenstadt verzweifelten Widerstand. Dann, nach nochmaligem schwerem Geschützfeuer, erstürmten die konterrevolutionären Streitkräfte des Marschalls Windischgrätz die letzten Barrikaden und hielten fürchterliche Rache. Mordend, brennend und plündernd fielen die Panduren und Kroaten über die Stadt und ihre Bewohner her. Robert Blum, der bis zuletzt am Barrikadenkampf teilgenommen hatte und gefangengenommen worden war, wurde zusammen mit seinem Kollegen Julius Fröbel und vielen anderen von den Standgerichten zum Tode verurteilt. Und während Fürst Windischgrätz Fröbel begnadigte, weil dieser in Frankfurt für Wien als Mittelpunkt des künftigen Reiches eingetreten war, ließ er Robert Blum am 9. November 1848 hinrichten. Blums Hinweis, als gewählter Abgeordneter der deutschen verfassunggebenden Nationalversammlung sei er unverletzlich, wurde von dem das Erschießungskommando befehligenden Offizier mit der höhnischen Bemerkung abgetan, das werde man ja gleich sehen: dann gab er den Feuerbefehl.

Robert Blum wurde erschossen, nicht obwohl, sondern gerade weil er die Männer der Paulskirche in Wien vertrat. Es war die Kampfansage der Habsburger Reaktion an die deutsche Nationalversammlung, die höhnische Enthüllung der Ohnmacht des Parlaments und der tiefen Verachtung, die ihm darob von den alten Gewalten gezollt wurde.

Die den Menschen zunächst kaum faßliche Nachricht von der Ermordung des Abgeordneten Blum wurde in ganz Deutschland mit großer Erbitterung aufgenommen. Man hoffte auf ein Signal aus Frankfurt, Rache für die Untaten von Wien zu nehmen. Doch die gemäßigt liberale Mehrheit der Nationalversammlung raffte sich nur zu einer lahmen Entschließung auf, die - wie Friedrich Engels dazu bitter bemerkte - „durch den sanften Ton und die diplomatische Zurückhaltung ihrer Sprache eher eine Verunglimpfung ... des ermordeten Märtyrers war als ein Verdammungsurteil über Österreich“.“

 

Reaktion in Preußen

 

„Der Sieg der Konterrevolution in Wien ermunterte die alten Mächte in ganz Deutschland, besonders aber in Preußen, jetzt zum offenen Gegenangriff überzugehen. Man wußte nun, daß das bislang tonangebende Großbürgertum nichts so sehr fürchtete wie die demokratische Revolution; daß die kleinbürgerlichen Demokraten unentschlossen und uneinig waren und daß auch sie Angst hatten vor den Arbeiter- und Bauernmassen. So wagte es König Friedrich Wilhelm IV., am 8. November einen neuen Ministerpräsidenten einzusetzen: den Generalleutnant Graf Friedrich Wilhelm von Brandenburg, einen „natürlichen“ Sohn Friedrich Wilhelms II., der „der Bastard von Preußen“ genannt wurde und als Anführer des erzreaktionären preußischen Junkertums und Anbeter des Prinzips von „Zucht und Ordnung“ bekannt war. Gleichzeitig mit dieser Ernennung verfügte der König die Verlegung der Sitzungen des preußischen Landtags von Berlin in die Provinzstadt Brandenburg.

Der Landtag weigerte sich, diesem Befehl zu folgen; die Berliner Arbeiterschaft war kampfentschlossen und erklärte sich dem Parlament gegenüber „bereit und gerüstet, Eurem Rufe Folge zu leisten, wenn man es wagen sollte, die Rechte des Volkes in seinen Vertretern zu verletzen; sie bieten Euch ihren Arm und ihr Herzblut gegen jeden Feind, der Hochverrat üben wollte an Euch und an den Freiheiten des Volkes“.

Aber die gemäßigt liberale Landtagsmehrheit wollte keine Unterstützung durch bewaffnete Arbeiter. „Wir kämpfen morgen einen entscheidenden Kampf“, schrieb der Abgeordnete Schulze-Delitzsch am 8. November an seine Eltern, „jedoch mit dem festen Entschluß, nur parlamentarische Waffen und nicht die gefährlichen Chancen eines Straßenkampfes zu brauchen. Wir werden das Volk besonders zu Ruhe ermahnen, für unsere Person aber nur der Gewalt der Bajonette weichen ...“

Und so geschah es. Am 10. November rückte General von Wrangel mit den Garderegimentern in Berlin ein. Am selben Tage verkündete das Kommando der Bürgerwehren, der 40.000 Mann starken Militärmacht solle kein gewaltsamer Widerstand entgegengesetzt werden, denn - so lautete die seltsame Begründung - „dieser friedliche Widerstand gegen eine nicht berechtigte Übermacht wird sicher der Sache der Freiheit zum endlichen und gewissen Siege verhelfen“. In den folgenden Tagen wurde die Bürgerwehr aufgelöst und entwaffnet, der Belagerungszustand über Berlin verhängt, der Landtag von Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett auseinandergejagt. Unmittelbar vor der Sprengung des Parlaments beschlossen die Abgeordneten noch den Steuerstreik, womit sie einem Vorschlag von Dr. Karl Marx in Köln folgten, der in seiner Neuen Rheinischen Zeitung geschrieben hatte: „Das Königtum, es trotzt dem Bürgertum. Besiegt es also auf bürgerliche Weise? Indem man es aushungert. Und wie hungert man es aus? Indem man die Steuern verweigert. Bedenkt es wohl! Alle Prinzen von Preußen, alle Brandenburgs und Wrangels produzieren kein Kommißbrot, Ihr, ihr selbst produziert das Kommißbrot!“

Auch die Nationalversammlung in Frankfurt stimmte dem Vorschlag zu. Sie stellte - diesmal einstimmig - fest, daß Graf Brandenburg sich des Hochverrats schuldig gemacht habe, wodurch jede Steuerverpflichtung gegenüber der preußischen Staatsstreich-Regierung von selbst aufhöre.

Doch nicht mal zu einer so gewaltlosen und angenehmen Form des Widerstands, wie es die Nichtzahlung fälliger Steuern ist, konnte sich das Besitzbürgertum aufraffen. Es wurde zudem von der Regierung mit einer vom König „erlassenen“ Verfassung besänftigt. Danach sollte jeder mindestens 30 Jahre alte Mann wählen dürfen, sofern er erheblichen Grundbesitz oder ein stattliches jährliches Einkommen nachweisen konnte. Damit war die Masse des Volks, in der es noch immer gärte, von jeder politischen Willensbildung ausgeschlossen, was dem Besitzbürgertum sehr recht war. Der Liberale Dr. Ladenburg notierte sich Anfang Dezember 1848 in seinem Tagebuch: „Berlin ist ruhig, die Kurse steigen. Die Verfassung ist so freisinnig, als man sie nur wünschen kann. Ich bezweifle nicht, daß sie überall guten Eindruck machen wird.“

Beim Volk, bei den Bauern, Land- und Industriearbeitern, Gesellen und Tagelöhnern sowie bei den fortschrittlichen Teilen der Intelligenz, machte das Vorgehen der preußischen Reaktion alles andere als einen guten Eindruck. Überall im Land kam es zu Revolten und bewaffneten Aufständen, die aber samt und sonders von den rücksichtslos eingesetzten Truppen unterdrückt werden konnten, wobei es viele Tote und Verletzte gab. Dem Widerstand gegen die Reaktion fehlte auch jede zentrale Führung und überörtliche Organisation. Nach Lage der Dinge hätte diese nur bei der Frankfurter Nationalversammlung liegen können. Diese hätte, so sollte man meinen, ja endlich aus ihren Träumen erwacht sein müssen, und die Tatsache ihres Protestes gegen das hochverräterische „Regime des Grafen Brandenburg“ könnte uns in solcher Annahme bestärken.“

 

Die Wurstbrezel

 

„Die Nationalversammlung, zumindest ihre breite, gemäßigt liberale bis konservative Mehrheit, dachte jedoch auch jetzt genausowenig an eine Mobilisierung der Massen wie zuvor. Sie hatte ganz andere, man muß schon sagen: erstaunlich andere Sorgen und Pläne. Im Vordergrund stand, nachdem der Entwurf einer Reichsverfassung schon weit gediehen war, die Frage der deutschen Einheit. Heinrich von Gagern, der als Nachfolger des zurückgetretenen Fürsten zu Leiningen und einem kurzen Zwischenspiel des Ritters von Schmerling „Reichsministerpräsident“ geworden war, sprach sich für die Schaffung eines deutschen Bundesstaates aus, dem jedoch Österreich nicht angehören sollte. Sein Antrag wurde mit 261 gegen 224 Stimmen angenommen. Dagegen hatten nicht nur die Österreicher sowie die gesamte Linke gestimmt, sondern auch alle, die eine Vormachtstellung Preußens befürchteten. Sodann befaßte sich die Nationalversammlung eingehend mit der Frage, wer das Oberhaupt dieses kleindeutschen Bundesstaats werden sollte. Mit 258 gegen die 211 Stimmen der Linken entschied man sich für einen der regierenden Fürsten, und als nächstes sprach sich die Mehrheit gegen eine Wahl des künftigen Staatsoberhaupts und für das Erbkaisertum aus, wiederum gegen den heftigen Widerstand der Linken und besonders Ludwig Uhlands. Am 28. März kam es zur Schlußabstimmung. Der sehr gemäßigt liberale Entwurf einer Verfassung für einen kleindeutschen Staatenbund, der nur für die Außenpolitik und das Heerwesen eine zentrale Leitung vorsah, wurde mit großer Mehrheit angenommen, ebenso der Antrag, die erbliche deutsche Kaiserwürde ausgerechnet dem Mann anzutragen, der die Führung der Konterrevolution in Deutschland übernommen und die Rechte des Volks wie des Parlaments mit Füßen getreten hatte: dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV.!

Indessen hatte die Paulskirchen-Mehrheit ihre Rechnung ohne den Wirt, in diesem Fall: ohne den Kandidaten gemacht. Friedrich Wilhelm IV., der schon zuvor erklärt hatte, er wolle keine Kaiserkrone, die „mit dem Ludergeruch der Revolution“ behaftet sei, keine „Schweinekrone“, keine „Wurstbrezel, die nicht von Gottes Gnaden, sondern von Meister Bäcker oder Meister Metzger“ käme, kein „Halsband aus ungegerbtem Leder, womit man den König von Preußen an die Revolution binden will“, kurz, der aus seiner Verachtung für die Nationalversammlung wahrlich zu keiner Zeit ein Hehl gemacht hatte, ließ die Herren Abgeordneten, die nach Berlin gereist waren, ihn um gnädige Annahme der Kaiserkrone zu bitten, unverrichteter Dinge wieder abziehen. Er erklärte ihnen unverblümt, die Wahl eines Kaisers und die Gewährung einer Verfassung sei alleinige Sache der Fürsten, und nur wenn die Fürsten ihn dazu aufforderten, sei er bereit, die Führung in einem deutschen Staatenbund zu übernehmen.

Damit war das große Unternehmen, Deutschland auf demokratischem, parlamentarischem Wege zu vereinigen, aufs kläglichste gescheitert. Die große Mehrheit der Abgeordneten jener noch heute von liberalen Geschichtsschreibern und Politikern als vorbildlich gepriesenen ersten deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, auch die meisten der Linken, erwiesen sich als ängstliche, nur die eigenen groß- und kleinbürgerlichen Interessen verfolgende Spießer. Aus Furcht vor den Volksmassen gaben sie nicht nur die revolutionären Errungenschaften preis, sondern schließlich auch noch ihre eigenen Grundsätze.“

 

Empörung und Widerstand im Volk und Ende

 

„Die Empörung und Erbitterung über das Versagen der Nationalversammlung und ihre demütigende Behandlung durch den Preußenkönig war im April 1849 überall in Deutschland spürbar. Anfang Mai begannen bewaffnete Aufstände in Sachsen, in der preußischen Rheinprovinz, in der bayerischen Rheinpfalz und im Großherzogtum Baden. Auch in Breslau, in Thüringen, in Kurhessen, Hannover und Braunschweig flackerte es noch einmal auf.

Besonders heftig waren die Kämpfe in Dresden, wo der König auf die Feste Königstein fliehen mußte und preußische Truppen zur Hilfe rief, die nach tagelangen, verlustreichen Straßenkämpfen den Aufstand schließlich niederschlugen. An diesen Kämpfen beteiligte sich auch Richard Wagner, der anschließend nach Zürich floh. Im Rheinland und in Westfalen, vor allem in Düsseldorf, Elberfeld, Solingen und Iserlohn, aber auch in Neuß und in Prüm, kam es zu Aufständen der Industriearbeiterschaft. Zwanzigtausend Mann preußische Infanterie, zwei Regimenter Ulanen und mehrere hundert Geschütze mußten eingesetzt werden, um die vom Bürgertum ersehnte „Ruhe und Ordnung“ wiederherzustellen. Als wirksamstes Mittel gegen die revolutionären Massen erwiesen sich Artilleriegeschosse, sogenannte Kartätschen, die mit gehacktem Blei gefüllt waren. Der rücksichtslose Einsatz dieser Geschosse, auch gegen unbewaffnete Menschenansammlungen, trug dem Oberbefehlshaber der Preußen, dem Prinzen Wilhelm, den Schimpfnamen „Kartätschenprinz“ ein.

Nachdem die preußischen Regimenter an Rhein und Ruhr über das Volk gesiegt hatten, setzte eine große „Reinigung“ ein. Tausende wurden verhaftet oder ausgewiesen, wobei auch Dr. Karl Marx das Rheinland verlassen mußte. Die Neue Rheinische Zeitung wurde verboten. Ihre letzte Ausgabe, datiert vom Samstag, dem 19. Mai 1849, auf rotem Papier gedruckt, enthielt ein Abschiedswort in Versen von Ferdinand Freiligrath worin es hieß: „Wenn die letzte Krone wie Glas zerbricht / in des Kampfes Wettern und Flammen, / wenn das Volk sein letztes ‚Schuldig!‘ spricht, / dann stehn wir wieder zusammen!“ sowie einen Aufruf an die Arbeiter Kölns, sich nicht zu erheben: „Wir warnen Euch ... Nach der militärischen Lage Kölns wäret Ihr rettungslos verloren. Ihr habt in Elberfeld gesehen, wie die Bourgeoisie die Arbeiter ins Feuer schickt und sie hinterher aufs Niederträchtigste verrät ...“

Marx ging von Köln nach Paris, um dort Hilfe für die noch im vollen Aufstand befindliche Pfalz zu organisieren, während Friedrich Engels, der sich zuvor schon an den Barrikadenkämpfen in Elberfeld beteiligt hatte, ein Kommando in der pfälzischen Revolutionsarmee übernahm.

In der Pfalz und auch in Baden war unterdessen eine neue, für die Fürsten sehr gefährliche und für die Revolution hoffnungsvolle Lage entstanden: Die badischen und pfälzischen Truppen hatten ihren Offizieren den Gehorsam verweigert und waren großenteils zu den Aufständischen übergegangen!

Das war bis dahin ohne Beispiel in der deutschen Geschichte, denn mit unmenschlichem Drill, barbarischen Strafen sowie mit geschickter Auswahl von Knechtsnaturen für die Unterführerstellen war es den adligen Offizieren bislang noch immer gelungen, mit den aus dem Volk stammenden Soldaten gegen deren rebellierende Brüder erfolgreich zu kämpfen. Jetzt aber gab es für die Reaktion, zumindest in Baden und in der Rheinpfalz, kein eigenes Machtinstrument mehr.

Noch wenige Wochen zuvor hatte der Großherzog von Mecklenburg dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. ein vom Hofdichter Merkel verfaßtes „Werk“ übersandt und dazu bemerkt, daß nach seiner Ansicht „Goethe nie Besseres“ gelungen sei: „Also heulen durch das Land / die unsaubern Geister, / bis das Kreuz mit fester Hand / drüber schlägt der Meister. / Bei dem ersten Trommelklang / fahren sie davon mit Stank! / Gegen Demokraten / helfen nur Soldaten!“

Aber nun stand die Pfalz in Aufruhr, war der Großherzog von Baden mit seinem Hof ins Elsaß geflüchtet, und es gab keine pfälzischen oder badischen Soldaten mehr, die gegen Demokraten mit Kartätschen hätten helfen können. Im Gegenteil, der Großteil der Truppen war bereit, für die Revolution zu kämpfen und bot sich der Nationalversammlung in Frankfurt als deren bewaffnete Streitmacht an. Aber die Abgeordneten, auch viele der Linken, lehnten diese letzte Chance, die beschlossene Verfassung durchzusetzen, entrüstet ab. Sie wollten keine „Meuterer“, nicht einmal zum eigenen Schutz, obwohl ein preußisches Heer unter dem Kommando des „Kartätschenprinzen“ Wilhelm bereits auf dem Marsch nach Frankfurt war.

Die Anzahl der Abgeordneten in der Paulskirche war mächtig zusammengeschrumpft; die meisten der Rechten waren abgereist, so daß die Linke nun sogar die Mehrheit hatte. Als aber am 7. Mai einige entschiedene Republikaner den Antrag stellten, die Volkserhebungen für die Reichsverfassung zu unterstützen, „sämtliche deutsche Truppen unter den Befehl eines von der Zentralgewalt“ sprich: Nationalversammlung „zu ernennenden Feldherrn zu stellen und sie auf die Verfassung zu vereidigen“, da zuckten die bürgerlichen Abgeordneten vor „soviel Tollheit“, wie sie es nannten, erschrocken zurück; einige legten ihr Mandat nieder. Und als am 10. Mai endlich mit 188 gegen 147 Stimmen beschlossen wurde, daß „dem schweren Bruche des Reichsfriedens, welchen die preußische Regierung durch unbefugtes Einschreiten im Königreiche Sachsen sich hat zuschulden kommen lassen, durch alle zu Gebote stehenden Mittel entgegenzutreten“ sei, schieden weitere liberale Abgeordnete aus dem Parlament aus. Am Ende blieb nur noch die entschieden demokratische Linke übrig, und diese hätte immer noch etwas bewirken und die Aufständischen führen können, wenn sie Wilhelm Wolff gefolgt wäre, der vor der Versammlung erklärte: „Wenn Sie irgend und überhaupt noch einen Einfluß auf das Volk haben wollen, müssen Sie nicht zum Volk in der Weise, wie es ... geschieht, sprechen. Sie dürfen da nicht von Gesetzlichkeit, von gesetzlichem Boden und dergleichen sprechen, sondern von Ungesetzlichkeiten, in derselben Weise wie die Regierungen ...“ Aber diese Sprache mochten die Herren Abgeordneten nicht hören; der Präsident entzog Wolff das Wort, und dann fuhren wieder ein paar gemäßigt linke Abgeordnete nach Hause.

Am 30. Mai 1849 zählte die Nationalversammlung nur noch 130 Mitglieder, und diese beschlossen, ihre Tagungen von Frankfurt nach Stuttgart zu verlegen, denn die Mainmetropole war von rund sechzigtausend Mann preußischen Truppen umzingelt, die jeden Augenblick einmarschieren konnten, während in der württembergischen Hauptstadt noch eine gemäßigt liberale Regierung amtierte, die dem „Rumpfparlament“ Schutz vor den Preußen, aber auch vor dem empörten Volk gewähren konnte. In Stuttgart wurden dann noch viele schöne und lange Reden gehalten, am Ende auch der „Reichsverweser“, Erzherzog Johann von Österreich, für abgesetzt erklärt, woraufhin dieser, gemeinsam mit dem preußischen Bevollmächtigten, bei der württembergischen Regierung vorstellig wurde, sie möge „dem demokratischen Possenspiel ein Ende“ machen. Und so geschah es: Am 18. Juni wurde das „Rumpfparlament“ von württembergischen Soldaten auseinandergejagt, das Mobiliar des Sitzungssaals befehlsgemäß in Trümmer geschlagen, die Abgeordneten samt den Zuhörern mit Lanzen und Säbeln angegriffen und durch die Straßen gehetzt. Der erste Versuch, in Deutschland parlamentarische Demokratie zu üben, wurde von einer bürgerlich-liberalen Regierung auf Betreiben preußischer Junker und österreichischer Aristokraten auf eine geradezu jämmerliche Weise beendet.

Währenddessen entschied sich das Schicksal der Revolution in der Pfalz und in Baden. Die Bürgerlichen, die - in Baden mit einer provisorischen Regierung unter Führung des Rechtsanwalts Lorenz Brentano - im Bunde mit der alten Beamtenschaft bemüht waren, schnellstens wieder „Ruhe und Ordnung“ herzustellen, versuchten der Revolution dadurch Herr zu werden, daß sie den Truppen und Freikorps Sold, Verpflegung, Waffen und Munition verweigerten. Trotz dieser schweren Hemmnisse und des Mangels an erfahrener Führung schlugen sich die Streitkräfte der Revolution mit großer Tapferkeit und anfangs auch erfolgreich mit den an Zahl und Bewaffnung weit überlegenen preußischen Truppen im Raum Mannheim-Heidelberg sowie zwischen Worms und Kaiserslautern. Am 13. Juni 1849 konnte das pfälzische Freikorps Willich, in dem Friedrich Engels als Adjutant mitkämpfte, gegen beinahe zehnfache Übermacht einen Sieg erringen und ein preußisches Regiment in die Flucht schlagen. In dem kriegserfahrenen polnischen General Mieroslawski, der in Baden Mitte Juni den Oberbefehl übernahm, und in Johann Philipp Becker, den Engels „den einzigen deutschen Revolutionsgeneral“ nannte, weil er es verstanden hatte, aus Arbeitern und Handwerksgesellen diszipliniert kämpfende „Volkswehren“ zu bilden, fand die Revolutionsarmee, wenn auch entschieden zu spät, tüchtige Führer. Sie brachten den preußischen Vormarsch Mitte Juni zum Stehen, obwohl der Feind in erdrückender Überzahl war. Vom 20. bis 22. Juni tobte die Schlacht bei Waghäusel, in der Prinz Wilhelm von Preußen vergeblich versuchte, die badisch-pfälzische Volksarmee einzukreisen. Die Revolutionäre zogen sich geordnet auf die Murglinie zurück, von Volkswehr-Abteilungen so geschickt und erfolgreich gedeckt, daß selbst die hochmütigen preußischen Kommandanten dieser militärischen Leistung Respekt zollen mußten.

Die Murglinie mit der starken Festung Rastatt im Mittelpunkt bildete Ende Juni 1849 das letzte Bollwerk der deutschen Revolution; nirgendwo sonst wurde noch gekämpft, und auch in Ungarn, auf das die pfälzisch-badischen Aufständischen große Hoffnungen gesetzt hatten, war Kirchhofsruhe eingekehrt, nachdem den dort gegen die Heere des Fürsten Windischgrätz erfolgreich kämpfenden Revolutionären ein starkes russisches Hilfskorps in den Rücken gefallen war.

„Alle Nachrichten stimmen darin überein“, schrieb die Neue Deutsche Zeitung vom 1. Juli 1849, daß das Volksheer und namentlich die badischen Soldaten desselben bis zum letzten Atemzug kämpfen würden. Die Artillerie ist vortrefflich und besonders entschlossen. Der Prinz von Preußen schätzt die Widerstandsfähigkeit und Widerstandslust augenscheinlich sehr hoch und bleibt deshalb ruhig in Karlsruhe, bis das bereits abgegangene Belagerungsgeschütz von Koblenz und Verstärkung von Truppen aus Sachsen eingetroffen ist.“

An der Murglinie standen etwa 14.000 Verteidiger. Sie schlugen zwei preußische Armeekorps in einer Gesamtstärke von mehr als 40.000 Mann zurück und wären sicher nun zum erfolgreichen Gegenangriff übergegangen, hätte die liberale württembergische Regierung nicht die von ihr erklärte Neutralität gebrochen und mit einem Heer von 20.000 Mann einen Überraschungsangriff in die Flanke der Volksarmee führen lassen.

Das Revolutionsheer brach auseinander. Etwa 8.000 Mann konnten, gedeckt von Freikorps und Volkswehren, über den südlichen Schwarzwald entweichen und in der Schweiz Rettung finden; etwa 5.600 Revolutionäre wurden in der Festung Rastatt eingeschlossen, ohne Aussicht, gegen die mehr als zehnfache Übermacht der Belagerer noch etwas ausrichten zu können. Dennoch lehnten sie alle Aufforderungen des „Kartätschenprinzen“, sich zu ergeben, mit Entschiedenheit ab. Doch nach dreiwöchiger Belagerung mit schwerem Geschütz, dazu ständig bedrängt von der verängstigten Rastatter Bürgerschaft, mußten die Verteidiger am 23. Juli 1849 aufgeben und bedingungslos kapitulieren.

Die preußischen Sieger kannten keine Großmut; ihre Rache war fürchterlich. In der eroberten Festung, wie schon zuvor in der Pfalz und in Nordbaden, wüteten die Standgerichte. Viele hundert Revolutionäre starben unter den Salven der Erschießungskommandos oder in den feuchten Kasematten, wo man sie an Hunger und Typhus zugrunde gehen ließ. Von den Überlebenden wurden die meisten zu langen Zuchthausstrafen verurteilt oder preußischen Strafkompanien zugeteilt.“

 

Gedenken

 

„Friedrich Engels, der mit seinem Bataillon in die Schweiz hatte entkommen können, schrieb: „Das deutsche Volk ... wird die großen Herren nicht vergessen, die diese Infamien befohlen haben, aber auch nicht die Verräter, die sie durch ihre Feigheit verschuldeten: die Brentanos von Karlsruhe und Frankfurt ...“ Doch er irrte sich: Das offizielle Deutschland, vom Bismarck-Reich bis zur heutigen Bundesrepublik, bewahrte den Männern der Paulskirche in Reden und Schulbuchtexten ein ehrenvolles Andenken; die Helden des pfälzisch-badischen Volkskampfes aber sind nahezu vergessen. Und der infamste und brutalste der großen Herren, der „Kartätschen-Prinz“ Wilhelm von Preußen, der zudem ein ungebildeter und engstirniger Gamaschenkopf war, wurde nicht nur Deutschlands erstes Staatsoberhaupt und vielbejubelter „Heldenkaiser“; er reitet noch heute, in Bronze gegossen, auf vielen hundert Denkmälern, die seine Untertanen ihm errichtet haben, und es gibt kaum eine westdeutsche Stadt, in der nicht ein Straßenname an ihn, den „Kartätschenprinzen“ Wilhelm, erinnert.“

 

Wiedererstarken der reaktionären Kräfte

 

„Das Scheitern der Revolution von 1848/49 hatte in ganz Europa, besonders aber in Preußen und im österreichischen Vielvölkerstaat, ein Wiedererstarken aller reaktionären Kräfte zur Folge. Es gelang diesen, wie Marx es formuliert hat, die politische Entwicklung „in eine frühere Zeit zurückzuwerfen - nicht hinter 1848, nicht hinter 1815, sondern sogar hinter 1807 zurück“, das heißt in die Zeit des absolutistischen Königtums und der feudalistischen Adelsherrschaft vor den Stein-Hardenbergschen Reformversuchen.

Im Königreich Preußen gab es zwar die von Friedrich Wilhelm IV. „gewährte“ Verfassung, die einen aus zwei Kammern bestehenden, gewählten Landtag vorsah. Aber - wie es der führende preußische, stockkonservative Verfassungsrechtler Julius Stahl offen aussprach - man konnte sagen, die preußische Verfassung „ist in vieler Hinsicht nur dadurch eine Möglichkeit, daß sie keine Wirklichkeit ist“.

Was die preußische Verfassung so unwirklich machte, war vor allem das Wahlrecht, das eine Einteilung der Urwähler - das waren alle unbescholtenen, fest ansässigen männlichen Steuerzahler über 24 Jahre - in Steuerklassen vorsah. Diejenigen, die in einem Bezirk die meisten Steuern zahlten - und das war oft nur ein einzelner Gutsbesitzer, Fabrikant oder Bankier -‚ bildeten die erste Klasse; die übrigen Wohlhabenden, meist auch nur ganz wenige Personen, wählten als zweite Klasse, und der große Rest, die Masse der Kleinbauern, Lohnempfänger und die untersten Schichten des Mittelstands, stellte die dritte Klasse. Jede dieser drei Klassen wählte in nicht geheimer, öffentlicher Wahl ein Drittel der Wahlmänner eines Bezirks, und diese bestimmten dann den Abgeordneten.

Dazu kam eine die Städte stark benachteiligende Einteilung der Wahlkreise, die dort, wo man Opposition vermutete, geradezu groteske Formen annahm. So mußten etwa die Bürger von Trier ihre Stimme in einem vier Wegstunden entfernten Dorf abgeben, was zur Folge hatte, daß die Wahlbeteiligung in der dritten Klasse auf 12,5 Prozent sank und die Wahlstimmen der städtischen Unterschicht das Ergebnis kaum noch beeinflussen konnten. Außerdem wurde überall, auf dem Lande wie in den Städten, Druck auf die Wähler ausgeübt: Freiheitlich gesinnten kleinen Ladenbesitzern und anderen Gewerbetreibenden drohte der Landrat offen mit Konzessionsentzug für den Fall einer nicht regierungstreuen Stimmabgabe; Staatsbedienstete mußten - die Wahl war ja öffentlich! - mit Schikanen und sogar mit Entlassung rechnen, falls sie oppositionell wählten, und auf den Gütern ließ der Inspektor die Wahlberechtigten in Reih' und Glied antreten und geschlossen für den Gutsherrn als ihren Wahlmann stimmen. In den so gewählten Landtagen, in denen die preußische Regierung nur noch einen „Mechanismus zum Geldmachen“, das heißt: zur Steuerbewilligung, sah, war die Opposition natürlich stets in der Minderheit. Zudem hatte das Parlament ja ohnehin nur wenige Rechte gegenüber Regierung und König; es konnte kein Gesetz beschließen, das dem König mißfiel, erst recht keinen Minister stürzen. Und schließlich waren Beschlüsse der von allen drei Steuerklassen gewählten Zweiten Kammer nur gültig, wenn sie die Zustimmung der Ersten Kammer fanden, die allein von den Höchstbesteuerten gewählt wurde. (Von 1854 an wurde die Erste Kammer gar nicht mehr gewählt, sondern als sogenanntes „Herrenhaus“ von Vertretern des Hochadels gebildet, deren Sitze in den jeweiligen Familien vererbt wurden; hinzu kamen noch etliche vom König ernannte Mitglieder des Herrenhauses, einige Oberbürgermeister und Universitätsrektoren sowie alle männlichen Erwachsenen der in Preußen regierenden Familie Hohenzollern. Bei diesem „parlamentarischen“ System - dem vom König beherrschten Herrenhaus als Erster Kammer und dem nach völlig undemokratischen Grundsätzen und dem Drei-Klassen-Wahlrecht zusammengestellten übrigen Landtag - blieb es im Königreich Preußen bis 1918!)“

 

Ludwig Simon

 

Außer einem Straßennamen erinnert derzeit in Trier nicht mehr viel an Ludwig Simon, 1848er Revolutionär und Abgeordneter im ersten frei gewählten deutschen Parlament. Sein 200. Geburtstag kann im nächsten Jahr gefeiert werden. Rechtzeitig ist nun eine Biographie erschienen, die erste gedruckte Buchveröffentlichung über sein Leben und seine Politik. Autor Jens Fachbach stellt in einem Gastbeitrag seine Publikation vor.

Ein merkwürdiges Schauspiel konnte man auf dem Trierer Hauptmarkt Anfang 1851 beobachten: Unter Trommelschlag heftete der Scharfrichter das Todesurteil gegen Ludwig Simon an einen hölzernen Schandpfahl, vor den Augen einer großen Menschenmenge, die später im Schutz der Nacht den Pranger heimlich mit Rosen schmückte. Immerhin: Der Verurteilte war rechtzeitig ins Schweizer Exil gegangen und in Sicherheit. Es war das traurige Ende einer steilen politischen Laufbahn im Zeichen der Revolution von 1848, als Trier „der schlimmste Punkt in der Provinz" gewesen war, wie ein preußischer Beamter bemerkte.

Ludwig Simon wurde 1819 in Saarlouis geboren, wuchs aber seit seinem dritten Lebensjahr in Trier auf, wo sein Vater Thomas Simon als Lehrer am Gymnasium tätig war. Nach dem Abitur an dieser Schule (ein Jahr nach Karl Marx, den sein Vater unterrichtet hatte) und einem Studium in Bonn kam Ludwig wieder nach Trier zurück, um am Landgericht seine berufliche Ausbildung fortzusetzen.

Nachdem er Anfang 1848 die Anwaltsprüfung abgelegt hatte, engagierte er sich offen politisch und wurde schließlich als Abgeordneter in das Parlament in der Frankfurter Paulskirche gewählt. Dort gehörte der begnadete Redner, den selbst seine Gegner bewunderten, der äußersten Linken an. Er war ein radikaler Demokrat, für den der Volkswille über allem stand. Daher ging Simon auch auf Distanz zu den „Socialdictatoren" Karl Marx und Friedrich Engels, die seiner Meinung nach auch nur die Herrschaft einer Klasse über die andere anstrebten, ebenso undemokratisch wie die Monarchie.

Simon blieb sich im Exil treu. Anders als andere Beteiligte der Revolution von 1848 konnte er sich nie überwinden, an die Gnade des preußischen Königs zu appellieren und starb, nachdem er lange als Bankier in Paris gearbeitet hatte, 1872 in Montreux.“

https://m.trier.de/rathaus-buerger-in/aktuelles/rathaus-zeitung/fast-vergessener-demokrat/

Die folgenden Zitate stammen aus dem erwähnten Buch von Jens Fachbach „Ludwig Simon von Trier (1819-1872). - 48er, Exilant, Europäer. - Ein Lebensbild.“

 

Trierer Märzfreunde 1848

 

„Neben solcher offensichtlicher Zurückhaltung beim Herrscherempfang waren Eingaben an den Provinziallandtag eine der wenigen Möglichkeiten der politischen Meinungsäußerung und zumindest des Versuchs einer Einflussnahme. Da der Provinziallandtag keine gesetzgeberische Funktion hatte, sondern nur Empfehlungen an die Berliner Regierung abgeben konnte, waren sie freilich kaum erfolgversprechend. Trotzdem kursierten Anfang 1845 drei solcher Eingaben, die von kleineren Gruppen ausgearbeitet, dann in eigentlich verbotenen Versammlungen einem größeren Publikum vorgestellt und gemeinsam beraten worden waren. Gefordert wurden darin Presse- und Versammlungsfreiheit, die Beibehaltung des „Rheinischen Rechts", für eine Erweiterung der städtischen Verfassung und für die Abschaffung der vor allem für ärmere Bevölkerungsteile besonders drückenden Mahl- und Schlachtsteuer. Rund ein Fünftel der erwachsenen Männer Triers unterzeichnete schließlich diese letztlich aber wirkungslos bleibenden Petitionen.

Keineswegs ein Ersatz für echte politische Teilhabe war auch der Erlass einer rheinischen Gemeindeordnung 1845, aufgrund derer 1846 die ersten Wahlen der Stadt- und Gemeinderäte durchgeführt wurde: Nur männliche Einwohner mit einem Jahreseinkommen von über 300 Talern durften überhaupt an der Wahl teilnehmen, in der verarmten Stadt waren das lediglich 17 % der erwachsenen Männer. Und da man die Wahlberechtigten wiederum nach ihrem Einkommen in drei Klassen einteilte, von denen jede ein Drittel der Stadträte wählte (unabhängig von der Anzahl der in sie eingeordneten Wähler), hatten die wenigen Reichen und Wohlhabenden Triers aus den beiden ersten Klassen zwei Drittel des Stadtrates bestimmen können.

Es war eine Mischung aus existenzieller Not, lange aufgestautem Unmut und dem Gefühl weiter Teile der Bevölkerung, von der Obrigkeit schlichtweg nicht wahrgenommen zu werden, die sich schließlich 1848 als explosiv erweisen sollte - in Trier heftiger und blutiger als in anderen Städten der Rheinprovinz. Äußerer Anlass waren die Nachrichten aus Frankreich, die Trier am 27. Februar erreichten: In Paris hatten Aufstände zur Flucht des Königs Louis Philippe I. und zur Einsetzung einer provisorischen Regierung geführt. Die Stimmung der Trierer Bevölkerung heizte sich immer mehr auf, so dass schließlich der Stadtrat eine Adresse an Friedrich Wilhelm IV. richtete, in der er die sofortige Gewährung von Presse- und Versammlungsfreiheit, das Recht zur Einreichung von Petitionen, die Schaffung eines gesamtdeutschen Parlaments, eines gesamtdeutschen Nationalstaats und schließlich die Einlösung des bereits 1815 gegebenen Versprechens auf eine Verfassung forderte. Damit hatten auch die Trierer diese als Märzforderungen bekannten Forderungen geäußert, die in vielen Städten und Provinzen erhoben wurden.

Breitere Bevölkerungskreise nahmen nun an politischen Versammlungen teil, die zwar verboten waren, aber zunächst noch geduldet wurden, etwa am 12. März im Saal des Gasthauses Helfer im Vorort St. Barbara. Rund 1.000 Menschen, angeblich war dies jedoch nur ein Drittel der Erschienenen, fand Platz im Lokal und debattierte über eine Adresse an den König. Dabei zeichneten sich zwei Probleme ab, die später im Hinblick auf Ludwig Simons Eintritt in die Politik wichtig werden sollten: Einerseits waren die Organisatoren mit der Veranstaltung und der großen Teilnehmerzahl überfordert, andererseits konnten viele einfachere Leute die von Bildungsbürgern (darunter Friedrich Lintz, der Bruder von Ludwig Simons Corpsbruder Eduard Lintz) formulierten Reden und Petitionen nicht recht verstehen.

Eine weitere Versammlung, am nächsten Tag abgehalten, fand dagegen in einem eher einfachen Lokal statt und richtete sich ausdrücklich an Arbeiter, Handwerker, Schiffer, aber auch an Schüler und Reservisten des Militärs. Hier tauchten nun erstmals Kokarden in den Farben Schwarz-Rot-Gold auf, die von der Menge begeistert entgegengenommen und angesteckt wurden. Nach reichlichem Biergenuss sang man rheinische Volkslieder, nur vereinzelt erklang die Marseillaise. Den preußischen Regierungsbeamten kam freilich beides verdächtig vor: Rheinisches Liedgut roch nach Separatismus, die Marseilleise nach Revolution und Königsmord. An die Versammlung schloss sich ein abendlicher Demonstrationszug an, bei dem gerufene Parolen nicht nur eine Republik forderten, sondern auch betonten, man wolle Preuße bleiben, aber Deutscher sein.“

 

Bürgerwehr

 

„… Interessant ist dieser Fall auch deshalb, weil hier die nach den Protesten im März zugestandene und sogleich eingerichtete Bürgerwehr auftrat - sie hatte am 28. März ihre Führer gewählt: An der Spitze standen Josef Recking (1811-1865), Besitzer eines Gasthauses, Stellvertreter war Buchhändler Friedrich Lintz (1813-1889, Bruder von Ludwig Simons Corpsbruder Dr. Eduard Lintz) und Adjutant Ludwig Simon.

Die Bürgerwehr erreichte schließlich eine Stärke von knapp 600 Mann, die in 4 Kompanien eingeteilt waren und war hauptsächlich dafür zuständig, Sicherheit und Ordnung zu wahren. Einerseits war sie ein Instrument der Bürger, sich im Ernstfall gegen die Obrigkeit zur Wehr zu setzen, andererseits sollte sie verhindern, dass sich im Schatten des revolutionären Geschehens auch schlichtweg auf Bereicherung und Diebstahl ausgerichtete Übergriffe ereignen konnten. So schützte sie beispielsweise den Trierer Stadtwald, als nach (zuvor geforderter) Freilassung der wegen unerlaubten Holzsammelns für den eigenen Heizbedarf verhafteten Bauern plötzlich die allgemeine Meinung aufkam, jeder könne sich im Wald nun frei bedienen und eine unkontrollierte Plünderung einsetzte …

Aber auch abgesehen von der Beteiligung an der Bürgerwehr (deren verschiedene Aufrufe an die Bevölkerung vielleicht von ihm verfasst wurden) begann Ludwig Simons politische Tätigkeit nun öffentlich sichtbar zu werden …“

 

Großer Redner in Trier

 

„… Wie bereits gesagt, dürfte ihn zwar seine berufliche Ausbildung bis zum Februar 1848 an sichtbarer politischer Betätigung gehindert haben, aber andererseits lassen seine journalistische Arbeit und die Tatsache, dass er durch seine juristischen Kollegen gewiss mit oppositionellem Gedankengut in Verbindung gekommen war, annehmen, dass er sich zumindest theoretisch mit Politik beschäftigte und den Austausch mit Gleichgesinnten pflegte. Seine spätere Karriere kann kaum vom Himmel gefallen sein und lässt sich mit einer angeblichen politischen Ahnungslosigkeit und Unkenntnis der Ziele des späteren Demokratischen Vereins bis zum 10. April 1848 nicht recht vereinbaren.

Seiner Aussage nach erklärte Simon Schily, „wenn ihre Tendenz über die Leitung der Wahlen im demokratischen Sinne hinausginge, ich mich ihnen nicht anschließen könne, worauf die anwesenden Mitglieder … erklärten, daß dies nicht der Fall sei“. Ludwig Simon wollte also keinen undemokratischen, sozialistischen oder Gewalt legitimierenden Gedanken in der Politik verfolgt sehen. Als man ihm außerdem das Gerücht zutrug, unter seinen Parteifreunden gäbe es pro-französisch orientierte, die von dort ihre Anweisungen erhielten, stellte er sie zur Rede und erhielt die Antwort, das sei gewiss nicht zutreffend. Diese Frage war durchaus nicht unwichtig, denn auch wenn Frankreich ein Vorbild für die Revolution war und antipreußische Ressentiments einen wichtigen Antrieb für die Trierer Revolutionäre darstellten, so konnte es sich offensichtlich keine politische Gruppierung leisten, eine mögliche Rückkehr zu Frankreich zu fordern.

Schon in jener Versammlung, in der er von Schily zur Mitarbeit aufgefordert wurde, trat Ludwig Simon vor und verlas eine Protestadresse an den König, in der vehement die freie Wahl der Abgeordneten gefordert wurde: „Wenn der Vereinigte Landtag sich nicht den allgemeinen, direkten Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung anschließt, werden die Trierer wählen, wie Frankfurt es will".

Dabei war der spätere Demokratische Verein, als dessen Mitglied Ludwig Simon nun auftrat, wie erwähnt, offenbar bereits bestens auf den Wahlkampf vorbereitet, denn die übrigen, sich langsam herausbildenden politischen Gruppen, die Konstitutionellen und die Katholiken, traten erst später mit brauchbaren politischen Programmen auf. Außerdem bildeten sich die Grenzen zwischen den einzelnen Gruppen langsam immer deutlicher heraus. Positiv gesehen konnten die Wähler nun erkennen, welche Partei ihnen zusagte, negativ gesehen begann die Einheit der Revolution zu zerbrechen: „Nun setzte auch in Trier der Wahlkampf mit der dazugehörigen Propaganda ein, die Biertischpolitik trieb Blüten."

Dass es Ludwig Simon in diesem Prozess gelang, große Wählermengen für sich und den Demokratischen Verein zu gewinnen, dürfte insbesondere dadurch erklärbar sein, dass er ein begnadeter Redner war. Die Aufgabe vor einer großen, nicht nur aus Bildungsbürgern bestehenden Menschenmenge ein politisches Programm treffend und verständlich, aber dennoch mit Niveau vorzutragen, gelang ihm offenbar besser als den „alten Kämpen des rheinischen Radikalismus“ …“

 

Großer Redner in Frankfurt

 

„… Und schließlich sei noch ein weiterer Abgeordneter zitiert, der Ludwig Simon vermutlich bereits aus gemeinsamen Studientagen in Bonn kannte, Carl Schorn: „In der äußersten Linken waren die hervorragendsten Persönlichkeiten der wohlbeleibte radicale Professor Carl Vogt und der ebenso radicale, aber ideal angelegte Advocat Louis Simon aus Trier, einer der hinreißendsten Redner und feuriger Vertheidiger einer freien Republik. Louis Simon, eine mittelgroße, noch jugendliche Figur, mit schwarzem Haar und dunklen, feurigen Augen, war ein Bezauberer der Tribünen, wo das weibliche Element aus den vornehmen Kreisen vorherrschend war. Wenn dieser kleine, lebendige Sohn der heiteren Stadt Trier von seinem hohen Sitz des Donnersberges sich zum Wort meldete und eiligen Fußes zur Tribüne eilte, entstand ein Auflodern und eine rauschende Bewegung auf den Galerien, und wenn im Feuer rhetorischer Begeisterung und glühender Schwärmerei seine helle durchdringende Stimme die weiten Räume erfüllte, und der Redner wie ein von Gott begeisterter Prophet sich zu einer höheren Extase emporschwang und geflügelte Worte schallen ließ, dann brauste regelmäßig weiblicher Jubel über das Haus zur Tribüne hin."

Sein anziehendes Äußeres, eine Vorliebe für elegante Kleidung und parkettsichere Manieren verschafften ihm als einem der wenigen Abgeordneten der Linken auch Zutritt in die bessere Gesellschaft Frankfurts.

Selbst ein Abgeordneter der Rechten musste zugeben: „Wir fragen, weil man schon einmal von solchen Nebendingen reden will - wer von uns (Abgeordneten der Rechten) sorgfältiger, eleganter und geschmackvoller im Anzug ist als dieser jugendliche Feuerkopf und Erzherzog aller Demokraten? Ein vortrefflicher Redner, ehrenwerter Charakter, Gentleman und doch ein Demokrat! O Gott, das ist zuviel! Warum hast Du diese Schmach, diese Demütigung über uns verhängt?“

Freilich: In seiner Anfangszeit im Parlament wirkte Ludwig Simon doch noch etwas unbeholfen, entwickelte sich in seinem Auftreten und seinen Ansichten recht schnell: „Täglich wuchs er an innerer Bedeutung und er, der wie ein Junge begonnen hatte, war am Ende eine geistige Macht geworden. Seine Fehler lagen in seiner Jugend und seiner Unwissenheit, seine reiche Begabnis aber bedurfte nur der Gelegenheit und des Stoffes, um sich zu bilden." Auch dies ist das Urteil eines politischen Gegners, ergänzt durch den respektvollen Hinweis: „Hat nicht er mehr als ein anderer angegriffen, gescholten, gedroht? Hat nicht er sich der Anwendung der Gewalt geneigter gezeigt als die meisten? … Er war fanatisch für seine Meinung und seine Partei; allein da er es ehrlich meinte, wollte er auch bei anderen dieselbe Überzeugung hervorbringen".“

 

Reich und Fürsten

 

„Die in dem Brief des Demokratischen Vereins angesprochene Frage der Exekutivgewalt gehörte zu den vieldiskutierten Fragen der Versammlung - es ging darum, ob die Nationalversammlung lediglich eine Verfassung ausarbeiten und die Regierungsgewalt den einzelnen Landesregierungen bzw. der seit 1815 in Frankfurt tagenden Bundesversammlung überlassen sollte oder ob sie auch selbst Exekutivaufgaben übernehmen sollte. Simon selbst hatte am 25. Mai die Bildung eines Ausschusses beantragt, der die Exekutivgewalt übernehmen sollte - ohne eine Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer Beschlüsse sei die Versammlung machtlos, die Nationalversammlung selbst müsse daher die Exekutivgewalt erhalten, so die Meinung Simons und der Linken. Die Rechte war freilich der Meinung, die Versammlung solle nur eine Verfassung erarbeiten, die Umsetzung müsse bei den einzelnen Landesregierungen verbleiben, das rechte Zentrum wollte einem von drei Fürsten der größten deutschen Staaten gebildeten Triumvirat die Exekutive übertragen, das linke Zentrum wollte einen fünfköpfigen Ausschuss bilden, an dem auch Vertreter der Landesregierungen beteiligt sein sollten.

Man einige sich schließlich darauf, einen aus 15 Mitgliedern des Parlaments bestehenden Ausschuss zu bilden, der eine entsprechende Vorlage ausarbeiten sollte, über die die Versammlung dann abzustimmen hatte. Dies geschah ab dem 19. Juni. Einen Tag später, am 20. Juni, trat nun also Ludwig Simon vor die Versammlung und hielt seine erste Rede.

Der Vorschlag des Ausschusses hatte vorgesehen, ein „Bundesdirektorium" einzurichten, das aus drei Vertretern der Einzelstaaten bestehen und Deutschland in allen Belangen vertreten sollte. Dabei sollte es allerdings der Zustimmung der Frankfurter Nationalversammlung bei Vertragsabschlüssen unterworfen sein. Die Linken im 15er Ausschuss waren überstimmt worden - ihr Vorschlag hatte vorgesehen, den Vollziehungsausschuss unmittelbar von der Frankfurter Nationalversammlung zu wählen. Er wäre nur dieser verpflichtet und könnte auch von dieser wieder abgewählt werden. Die Debatte entwickelte sich allerdings bald in eine weitere Richtung, nämlich über das Verhältnis der Versammlung zu den Fürsten - sollte am Ende eine reine Republik entstehen oder die Monarchie durch eine Einbindung der Fürsten erhalten bleiben?

Diese Frage thematisierte Ludwig Simon dann in seiner ersten Rede mit deutlichen Worten: „Von der Volkssouveränität ist die absolute Monarchie am allerweitesten entfernt. Der absolute Monarch hat Alles zu sagen, die anderen Nichts ... Dann kommt die constitutionelle Monarchie. Da hat ein Mensch so viel zu sagen wie die anderen Alle und er ist der Art von Privilegien umgeben, daß er dieß auch wirklich eine Zeitlang vermag ... Er ist halb von Volkes, halb von Gottes Gnaden. Nach diesen beiden kommt die Republik. Republik ist Form, Demokratie ist Inhalt, aristokratische Republik ist schlechter als demokratische Monarchie, letztere eigentlich ein Widerspruch in sich selbst. Ich werde also gleich sagen: demokratische Republik. (Lebhafter Beifall auf der Linken und der Gallerie, Unruhe auf der Rechten) ... Meine Herren! Der Boden auf dem wir stehen ist der Boden der Geschichte, und auf diesem wollen wir uns frei bewegen, wir wollen vom alten Rechtsboden nichts wissen, es fragt sich blos um die Bildungsstufe des Volkes. Wir sind die Demokratie und haben mit niemand etwas zu vereinbaren; das Volk würde dagegen protestieren, wir dürfen unsere Vollmachten nicht mißbrauchen, wir dürfen nichts von demjenigen in fremde Hände zurücklegen was das Volk sich genommen und uns gegeben hat. Diese Betrachtung, meine Herren, ergibt nach dem Principe der Relativität ganz einfach die Republik im Gesamtstaate (Unruhe auf der Rechten). In unserer Versammlung ist alles enthalten, die Fürsten sowohl als die Volksstämme. Die Fürsten meine Herren, waren sämtlich Urwähler (schallendes Gelächter), wenn sie nicht gewählt haben, so ist das ihre Schuld. (Von allen Seiten: Bravo!) Sie konnten auch sämmtlich gewählt werden, wenn sie nicht gewählt wurden; so besaßen sie kein Vertrauen."

Letztlich wurde die Frage durch einen Kompromiss gelöst, den der Präsident der Nationalversammlung, Heinrich von Gagern (1799-1880), vortrug und der als Gagerns „kühner Griff" bekannt wurde: Die Nationalversammlung solle die Zentralgewalt einem nicht verantwortlichen „Reichsverweser" (also sozusagen dem Platzhalter eines Monarchen) mit Ministern übertragen, die ihrerseits gegenüber der Nationalversammlung verantwortlich wären. Mit großer Mehrheit stimmte die Versammlung daher für eine Abschaffung der Bundesversammlung als Vertretung der Einzelregierungen, nahm ein Gesetz über die provisorische Zentralgewalt an und wählte den Erzherzog Johann von Österreich (1782-1859) zum Reichsverweser. Diese Lösung lehnte Ludwig Simon jedoch vehement ab - ein Fürst an der Spitze war für ihn nicht vorstellbar, vor allem, weil der Reichsverweser dem Parlament nicht verantwortlich sein sollte. Daher enthielt Simon sich mit dem Kommentar „Ich wähle keinen Unverantwortlichen" bei der Abstimmung und unterzeichnete gemeinsam mit vierundzwanzig anderen Abgeordneten eine entsprechende Erklärung.

Als die Versammlung darüber beriet, wie man den Reichsverweser in Frankfurt empfangen solle, meldete sich Simon zu Wort und äußerte: „Friedrich der Große erklärte den Fürsten für den ersten Diener seines Staates und starb, müde über Sklaven zu herrschen. Ich bin der Meinung, daß Johann, der nicht weil, sondern obgleich als Bürger gewählt ist, bei uns erscheine und daß wir ihm nicht entgegen gehen!" Diese Ablehnung eines angemessenen Empfanges für den Fürsten empfanden konservative Abgeordnete als respektlos. Letztlich richtete man einen feierlichen Akt am 11. Juli aus, dem Ludwig Simon mit einigen Freunden demonstrativ fernblieb, indem sie nach Mainz reisten.

Die Wahl Johanns war insgesamt allerdings ein nicht ungeschickter Kompromiss gewesen: Einerseits war die Rechte mit einem Fürsten selbstredend einverstanden, andererseits konnte ihn die Linke akzeptieren, weil er volkstümlich war und als Gegner des verhassten Staatskanzlers Metternich galt, auch seine Ehe mit einer Bürgerlichen mag manchen Abgeordneten mit dem Habsburger versöhnt haben. Zudem - und das war der einzige Punkt, dem Ludwig Simon zustimmen konnte - wurde durch seine Person auch Österreich stärker an die Nationalversammlung angebunden.“

 

Über Demokratie

 

„Ludwig Simon hatte sich bereits bei der Frage nach der Exekutivgewalt und der Ablehnung des nichtverantwortlichen Reichsverwesers politisch eindeutig positioniert. Seine Äußerungen führten dazu, dass seine Gegner bald ein genaues Bild von ihm zu haben glaubten: „Man gewöhnte sich daran, da er die Volkssouveränität bis zur letzten Konsequenz betont wissen wollte, da er theoretisch sogar noch darüber hinausging, einen anarchischen Zukunftsstaat und die Herrschaft des Individuums predigte, ihn zum Umstürzler, Anarchisten und Propheten der Gesetz- und Schrankenlosigkeit zu stempeln." Freilich war das ein willkommenes Zerrbild, mit dem man Simon und die äußerste Linke bequem diskreditieren konnte. Dass er eine demokratische Republik anstrebte, geht aus seinen bereits zitierten Reden hervor, die Republik war für ihn jedoch nur eine Vorstufe: „Demokratische Republik ist diejenige Form, die nach meiner Ueberzeugung dem Volkswillen am besten Ausdruck und Verwirklichung verschafft. Aber auch damit ist die Volkssouveränität noch nicht vollkommen gewahrt. Es kommen für die Gesamtheit Vertreter, die für die anderen sprechen, aber es ist nicht ein Mensch wie der andere. Die Volkssouveränität ist vollkommen blos dann gewahrt, wenn jeder sich selbst vertritt (Geräusch und Gelächter auf der Rechten, auf der Gallerie: Bravo!). Meine Herren! Das ist Volkssouveränität. Diese Volkssouveränität ist nicht formuliert, sie lässt sich auch nicht formulieren, sie ist die Formlosigkeit, sie wäre gegenwärtig die unerquickliche Anarchie, für die Zukunft erachte ich sie als die höchste Blüte menschlicher Bildung."

Diese zukünftige Anarchie bezeichnete Simon mit dem Begriff der „Kulturanarchie", das heißt zwar Abwesenheit von gesetzlicher Beschränkung des Einzelnen, aber eben nicht die brutale Ordnungslosigkeit, in der sich der Stärkere durchsetzen kann, sondern einen Zustand, in dem sich der Einzelne soweit freiwillig beschränkt, wie es zum Schutz des Nächsten notwendig ist. Dies setzt freilich voraus, dass die einzelne Person entsprechend verantwortungsvoll aus innerer Überzeugung und Bildung, eben Kultur, diese freiwillige Selbstbeschränkung, vollzieht.

Wenn dies gelingt, sind Gesetze und Ordnungsmacht fast nicht mehr nötig, die frei werdenden Mittel können für Bildung aufgewendet werden. Gleichzeitig ergibt sich durch die Freiheit des Einzelnen auch die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ohne ausgebeutet zu werden. Durch Pressefreiheit, die Möglichkeit zur Bildung von Vereinen und öffentlichen politischen Versammlungen kann dabei auch eine zahlenmäßige Minderheit ihren Anliegen Gehör verschaffen und wird nicht zwangsläufig von der Mehrheit unterdrückt.

Dass es sich hierbei freilich um eine utopische Vorstellung handelte, die im Moment noch nicht umsetzbar war, wusste Simon durchaus. Angeregt wurde er dabei sicher durch die Trier'sche Zeitung, die ab 1844 solche Gedanken vertrat und als „wahren Socialismus" mit einer starken Betonung auf die Freiheit des Einzelnen, aber auch der Eigenverantwortlichkeit vorstellte. Anders als Marx und Engels (die die Trier'sche Zeitung daher ablehnten) ging es ihr jedoch nicht um eine Diktatur des Proletariats, vielmehr vertraute sie darauf, dass sich der Sozialismus von selbst durchsetzen werde, wenn nur genügend Menschen.von seinen Ideen überzeugt seien.

Später verlangte sie eine „Utikratie", also die Herrschaft niemands. Dabei blieb sie jedoch ähnlich utopisch wie Ludwig Simon. Dass Simon als Jurist ausgerechnet eine Reduzierung der Gesetze im Sinn hatte, erscheint zunächst als Widerspruch. Doch offenbar hatte er in seiner praktischen Ausbildungszeit auch genug Gelegenheit, die Absurditäten der Rechtsprechung kennenzulernen - etwa ein Fall, bei dem ein erbitterter Prozess um ein Stück Land geführt wurde, das „nicht länger und breiter war als ein bescheidener Hausgang" und dessen Wert die Prozesskosten bei weitem überstiegen und den letztlich keine der beiden Parteien ganz gewinnen konnte. Freilich, so resignierte Simon, hatten die Bauern ein zu starkes Bedürfnis einer „entscheidenden Autorität" und zu geringe Bereitschaft, sich bei einem Glas Wein friedlich untereinander zu verständigen - so werde wohl „der Cultus von ,Mein und Dein' manche andere Priester und Tempel überleben."“

 

Rote Monarchie

 

„… Die Ereignisse erfassten natürlich auch die Paulskirche: Gemeinsam mit Heinrich Simon aus Breslau stellte Ludwig Simon den Antrag, die Paulskirchenversammlung solle die Berliner Regierung auffordern, die Verlegung der Nationalversammlung und die Auflösung der Bürgerwehr rückgängig zu machen, dies wurde jedoch abgelehnt, ebenso ein ähnlicher Antrag Friedrich Zells. Den Gegenantrag stellte Georg von Vincke: Die Paulskirche solle die Maßnahmen der Berliner Regierung als rechtmäßig anerkennen - doch auch diese Gegenposition wurde abgelehnt. Zwischen Vincke und Ludwig Simon bestand schon seit dem August des Jahres eine kultivierte Feindschaft, als der konservative Abgeordnete sich über die Trierer und ihren Barrikadenbau lustig gemacht hatte.

Nach Berichten von Zeitgenossen trafen mit Vincke und Simon zwei ebenbürtige Redner gegeneinander an und ihr Rededuell war ein Ereignis, doch freilich waren beide Juristen und „nie hatte man so deutlich ersehen können, als hier an zwei großen Talenten, daß solche Juristik bei großen Staatskrisen nur einen Beitrag, nimmermehr aber eine Erledigung bringt." Lässt man die langwierigen juristischen Erörterungen beiseite, so bleibt von Ludwig Simons Rede, die auch als Sonderdruck verteilt wurde, ein Plädoyer, nicht vor dem Thron des Königs halt zu machen, sondern eine wirkliche Volkssouveränität zu erlangen. Er verwahrte sich gegen die Meinung, die Berliner Nationalversammlung besäße lediglich die Rechte des ehemaligen Vereinigten Landtags - in Wirklichkeit habe das Volk „seine Rechte allen denjenigen abgerungen, welche sich damals im Besitze der Staatsgewalt befanden, dem vereinigten Landtage und dem Könige."

Man könne nicht von einer Entwicklung im Rahmen der alten Rechte sprechen, vielmehr sei durch die Revolution ein ganz neuer „Rechtsboden" geschaffen worden, die Berliner Nationalversammlung sei eine konstituierende Versammlung. Es könne keine Rede davon sein, dass sie sich lediglich im alten Rahmen bewege. Es herrsche gewissermaßen seit den Märztagen 1848 ein Waffenstillstand, und wenn dieser nun gekündigt werde, müsse man den Kampf wieder aufnehmen. Das allerdings sei keineswegs erstrebenswert, auch wenn ihre Gegner die Linke oft der Gewaltbereitschaft bezichtigt hätten: „Wäre uns also das Blut unserer Mitbürger nicht theuer, wären wir bereit, alles auf eine tollkühne Karte zu setzen, dann würden wir gewiss ihre Vermittelung nicht in Anspruch nehmen. Dagegen beweisen Sie, wenn Sie diese Vermittelung verweigern, daß sie auf alles gefaßt sind, daß ihnen kein Opfer zu blutig ist, um ihre Zwecke zu erreichen." Und mit Bezug auf die Ereignisse in Wien, aber auch die Hohenzollern und den preußischen König setzte er zur rhetorischen Attacke an: „Also, der Wille eines Einzigen, das Interesse einer einzigen Familie ist hinreichend, eine Stadt von 600.000 Einwohnern (= Wien) von wilden Horden plündern, die Häuser plündern, die Männer morden, die Weiber schänden zu lassen; also der Wille eines Einzigen, das Interesse einer einzigen Familie reicht hin, um die Vertreter von 16 Millionen flüchtig von Ort zu Ort treiben und auf das Empörendste verhöhnen zu lassen (= preußische Nationalversammlung)! Wahrlich, meine Herren, wenn etwas geeignet ist, das verwerfliche der Machtvollkommenheit eines Einzelwillens dem Willen der Gesamtheit gegenüber darzuthun, wenn etwas geeignet ist, die Idee des Freistaates, worin alle Kräfte gleichberechtigt friedlich sich nebeneinander entfalten, in das herrlichste Licht zu stellen; dann, meine Herren, ist es diese Monarchie, die ich im Gegensatze zur rothen Republik die rothe Monarchie nenne, welche mit verheerendem Fuße über die Trümmer der Städte und die Leichen der Völker schreitet, um die Kronen von Gottes Gnaden mit dem Blute und Schweiße der Völker grausam zusammenzukitten (Stürmischer, lang anhaltender Beifall von der Linken und den Galerien)."“

 

Besuch in Trier

 

„… Im Anschluss an dieses ernüchternde Erlebnis, das bereits den Niedergang der revolutionären Hoffnungen zeigte, erlebte Ludwig Simon noch einmal einen besonderen Triumph: Seinen ersten und letzten Besuch als Abgeordneter in Trier. Der Ablauf dieses Besuchs lässt erkennen, wie sehr Ludwig Simon von seinen Anhängern als „ihr" Abgeordneter verehrt und gefeiert wurde. Dieses Feiern verdienter Politiker, insbesondere der Abgeordneten, war einerseits eine seit der Revolution neue Erscheinung, es zeigte aber auch, dass die Zeiten der ungeordneten Revolutionshandlungen vorbei waren: Das demokratische Lager hatte sich gewissermaßen etabliert und entwickelte eigene Rituale wie wohlorganisierte, öffentliche Festveranstaltungen, Bankette mit lobenden Tischreden oder geordnete Demonstrationszüge.

Schon seine Ankunft am Abend des 24. November wurde als Ereignis inszeniert: „Simon ist da!" titelte das Volksblatt, „unverhofft ist gestern unser verehrter Abgeordneter bei der Frankfurter Nationalversammlung, Herr L. Simon, hier eingetroffen. Mehr als sechs Monate sind es, seit er in einer hoffnungsvollen Zeit uns verließ um seinen Posten einzunehmen ... Die Tage der Anwesenheit Simons in unserer Stadt werden schöne Festtage sein. Mitbürger, vergeßt aber nicht, daß die Büreaukratie und die Soldateska auf die Gelegenheit lauern, uns in diesem Augenblick die letzten Freiheiten, das Recht auf Versammlung, das Recht der freien Presse zu rauben. Bedenkt, daß unser Simon der Camarilla ein Dorn im Auge ist und dass seine und unsere Feinde Alles was nur irgend Anstößiges während seiner Anwesenheit in Trier geschehen möchte, gegen ihn und uns benutzen werden" …

Am 27. November wurde auf dem Viehmarkt eine öffentliche Kundgebung für die gefallenen Freiheitskämpfer abgehalten, mehr als tausend Menschen sollen daran teilgenommen und anschließend in feierlichem Umzug durch die Stadt geschritten sein. In der Kirche St. Gangolf wurde ein Gedenkgottesdienst für Robert Blum abgehalten, im Anschluss hielt Ludwig Simon im Stammlokal des Demokratischen Vereins eine flammende Rede auf Blum, er rief den Anwesenden zu: - Mut, Mut, Wien ist das augenblickliche Grab der Freiheit und eines der besten deutschen Männer - aber Wien ist auch das Grab des Hauses Habsburg und die Wiege der künftigen Freiheit!" Nach der Veranstaltung wurde das Ludwig-Simon-Lied („Unserm Abgeordneten LUDWIG SIMON") gesungen, das bereits im Volksblatt abgedruckt worden war und nun mit Noten verteilt wurde.“

 

 

Einsatz für den kleinen Menschen

 

„Die Ziele der Linken um Simon waren so eindeutig wie sie uns heute selbstverständlich erscheinen, aber seinerzeit handelte es sich um umstrittene Fragen, über die in der Paulskirche im Zuge der Grundrechtsdebatten erbittert gestritten, wenn nicht gar handfest gekämpft wurde: Abschaffung der Privilegien des Adels, Beseitigung der Fideikommisse, Aufhebung aller Feudallasten. Ferner Unverletzlichkeit der Wohnung, Briefgeheimnis, Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinsfreiheit, religiöse und kirchliche Freiheit sowie Freiheit des Erziehungswesens. Stets begleitet wurden diese Forderungen von Lösungsversuchen in der sozialen Frage: Bereits das Vorparlament (an dem Simon ja noch nicht teilgenommen hatte) war hiermit befasst gewesen, in der Paulskirche spielte sie aber nur eine vergleichsweise geringe Rolle. Neben Ludwig Simon brachten das Thema vor allem zwei weitere Abgeordnete immer wieder vor: Bernhard Eisenstuck (1805-1871) und der schon erwähnte Friedrich Schlöffel. Alle drei stammten aus Gegenden, in denen die sozialen Probleme besonders drängend waren: Das Moselgebiet, Sachsen und Schlesien. Simon hatte bereits im Volksprogramm die „soziale Frage" zur „Spitze der staatlichen Entwicklung" erklärt, für ihn war sie der Ausgangspunkt vieler weiterer Politikfelder und wichtiger Entscheidungsmaßstab. Sie sollte aber „auf dem friedlichen Wege des Geistes, nicht auf dem gewaltsamen der Verletzung von Personen und Eigentum" gelöst werden.

Ein wichtiger Ansatz bei Ludwig Simon zur Lösung der sozialen Frage war das Recht auf Arbeit. Er lehnte sich damit an den Frühsozialisten Charles Fourier (1772-1837) und die beiden französischen Zeitgenossen Louis Blanc (1811-1892) und Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) an, deren Gedankengut die Trier'sche Zeitung transportiert hatte, vor allem durch ihren Mitarbeiter und späteren Redakteur, den bereits erwähnten Karl Grün.

Ludwig Simon unterschied zwischen den Arbeitsunfähigen und den unfreiwillig Arbeitslosen, da nun der Staat die Verpflichtung habe, für die Arbeitsunfähigen zu sorgen, müsse er auch für das mögliche Einkommen der Arbeitsfähigen sorgen. Erinnert sei daran, dass auch sein Vater in Trier als eine Maßnahme zur Bekämpfung der Armut die Heranziehung der arbeitsfähigen Armen zur Kultivierung unbebauten Landes gefordert hatte. Sein Sohn fasste es in die Worte: „Denn es ist niemand verpflichtet zu hungern ... Wer aber Kraft hat und arbeiten will, von dem sage ich, er hat das Recht, nicht zu verhungern, und wenn Sie dieses Recht von Staats wegen nicht anerkennen, so sage ich, er hat das Recht der Revolution, entweder im Großen, wenn er Genossen findet oder im Kleinen, indem er Gesetze des Staates als Einzelner überschreitet." Allerdings war Ludwig Simon sich durchaus bewusst, dass staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (um einen modernen Begriff zu verwenden) durchaus eine Konkurrenz der privaten Wirtschaft sein und ihr unerwünschten Schaden zufügen könnten.

Die Frage der Arbeit nutzte Simon auch gleich zu einem Seitenhieb gegen die Monarchie: „Im Grundsatz der erblichen Monarchie liegen mehr der Trägheit als in allen Bettlern der Welt. Das ist meine Meinung von der „sozialen Monarchie", auf der einen Seite der Arbeiter, der im Schweiße seines Angesichts sein saures Brot verdient - auf der anderen Seite privilegierte Nichtverpflichtung in den höheren Regionen!"' Diese Frage erinnerte an seine Haltung bei der Wahl eines Reichsverwesers: Es kam Simon auf die Verantwortlichkeit an - ein erblicher Monarch habe für seine Taten oder Unterlassungen, anders als ein Abgeordneter, keine Konsequenzen, also Abwahl zu befürchten. Einem anderen, damit ebenfalls eng zusammenhängenden Thema widmete sich Ludwig Simon gleichfalls besonders engagiert: Dem allgemeinen Wahlrecht. Er wollte das Wahlrecht noch vor der Reichsverfassung verabschiedet wissen, denn man müsse zuerst das Volk berücksichtigen, dann Fürsten und Obrigkeit. Er vertrat dabei, ganz wie bereits im Trierer Volksprogramm gefordert, die Position eines allgemeinen Wahlrechts, die Meinung des betreffenden Ausschusses der Versammlung, „daß das Beste der Gesamtheit bestimmen müsse, wer geeignet sei, als Träger dieses Rechts zu erscheinen" lehnte Simon konsequent ab: „Das natürliche Gemeinwohl ist das Volk mit seinen sämtlichen Nöten und Wünschen, mit seinem Ja und Nein!" Keineswegs wollte Simon die Meinung eines anderen Abgeordneten akzeptieren, nur wer bestimmte Fähigkeiten besäße, dürfe wählen: „Wenn Zweidrittel des Volkes Steuern zahlen, in den Krieg ziehen, Gut und Blut opfern sollen, dann, glaube ich, haben sie auch ein Recht, mitzusprechen!"

Simon und seine Genossen sahen in dem Versuch, Unterstützungsempfänger, Handwerksgehilfen, Tagelöhner und Dienstboten sowie Personen, über die ein Konkursverfahren eröffnet war, vom Wahlrecht auszuschließen, aber nicht nur eine Ungerechtigkeit, sondern den taktischen Versuch, die Demokraten ganz aus dem zukünftigen Reichstag fernzuhalten. Simon wusste sehr wohl, dass seine Wähler vor allem den unteren Schichten angehörten und daher ein solcher Ausschluss einen erheblichen, fast schon tödlichen Stimmenverlust bedeutet hätte - ein solches Wahlrecht wäre ein Sieg der Besitzenden über die Unterschicht.

Auch in der Steuerfrage vertrat Simon vehement die Interessen seiner Wählerschaft. Dabei war ihm aus Trier die besonders verhasste Mahl- und Schlachtsteuer in Erinnerung, die auf Grundnahrungsmittel erhoben vor allem die Ärmsten unverhältnismäßig hart traf. Simon forderte daher die Aufhebung aller indirekten Steuern auf Lebensmittel und eine fortschreitende Einkommenssteuer, „mit der Basis, wer nur Notdurft hat, nichts bezahlt, wer wenig mehr als Notdurft hat, wenig bezahlt, wer viel hat, viel und zwar desto mehr, je mehr er besitzt." Zugunsten dieser Steuer sollten auch alle anderen Steuern wie Klassensteuer, Gewerbesteuer und Grundsteuer abgeschafft werden. Auf den Vorwurf, mit einer progressiven Einkommenssteuer den Fleiß noch zu bestrafen, erwiderte Simon, dass ja nur ein kleiner Teil des durch Fleiß erwirtschafteten Mehreinkommens weggenommen werden solle - es bliebe genug, um Fleiß weiterhin lohnend zu halten.

Seine zunehmende Resignation, als es auch auf diesem Feld nicht gelang, seine Überzeugung durchzusetzen, verdeckte er noch mit kämpferischen Ausrufen: „Freilich, wenn die Klassen, die durch diese Steuer im Sinne der Gerechtigkeit getroffen würden, diese nicht zur Einführung bringen wollen, weil sie die physische, moralische und materielle Macht zur Zeit haben, dann wollen sie eben die Gerechtigkeit nicht. Es wird aber die Zeit kommen, wo sie dies müssen."

Alle diese mehr oder weniger erfolglosen Versuche einer radikaldemokratisch-linken Politik standen nach wie vor exakt auf dem Boden des bereits im April 1848 in Trier veröffentlichten Volksprogramms - Ludwig Simon folgte also genau seinem Wählerauftrag. Doch ab dem Winter 1848/49 begann seine Position zu bröckeln: Einerseits entfernte er sich bei der Abstimmung über die Kirchen- und Schulfrage von seinen Wählern, andererseits brachten ihm Kompromisse, die er bei der Frage des künftigen Reichsoberhaupts und der Verfassung einging, die Ablehnung seiner radikaldemokratisch-linken Fraktion in der Paulskirche ein, er saß somit zwischen allen Stühlen.

Dass ihn die Arbeit im Parlament zunehmend frustrierte weil es nicht gelang, seine Ideen umzusetzen, kam hinzu. Immer mehr empfand er die Versammlung als zu zögerlich und wenig selbstbewusst. Durch Trägheit, mangelnden Mut und das Einknicken vor reaktionären Kräften brachte sie sich seiner Meinung nach selbst um die Gelegenheit wirklicher Weichenstellungen.

Seine Frustration machte sich in bitteren Aussprüchen Luft wie diesem, den er als vermeintlichen Antrag vorbrachte und der ihm einen Ordnungsruf des Präsidenten eintrug: „In Erwägung, daß die Nationalversammlung von vorneherein darüber einig war, nichts zu thun, ... daß sie blos darüber berieth, wie sie nichts thun sollte, daß sie auch in dieser Beziehung zu nichts gekommen ist, daß die bloße Ermittelung der Weise, wie man nichts tun wolle, einer nochmaligen Beratung nicht verlohnt; aus diesen Gründen geht die Nationalversammlung zur motivierten Tagesordnung über. (Große Unruhe und Lärmen auf der Rechten; viele Stimmen daselbst: Herunter!)"“

 

Kleindeutsche Lösung

 

„Für Ludwig Simon war dabei auch klar, was eine kleindeutsche Lösung bedeuten würde: Eine Vorherrschaft Preußens. Er erboste sich über die Rolle der Frankfurter Versammlung, die es abgelehnt habe, den Wiener Aufständischen zu helfen und nun darauf hinarbeite, den preußischen König zum Kaiser zu machen. Das könne im Hinblick auf Friedrich Wilhelm IV. nur schief gehen: „Glauben Sie, daß das jetzige Oberhaupt des preußischen Staates sich von der Volkssouveränität in Frankfurt mit der Kaiserkrone Kleindeutschlands belehnen lasse?" Ein Ausruf Simons, der sich nur bald als allzu wahr erweisen sollte, ebenso wie Simons Wahrnehmung, von beiden Seiten, d. h. in Preußen wie in Österreich, sei die Reaktion auf dem Vormarsch und die preußische Variante hätte zudem noch den Nachteil, dass sie mit der Teilung Deutschlands einherginge.

Es kam jedoch zu einer knappen Annahme des Votums für eine kleindeutsche Lösung, die Enttäuschung der Linken und der Anhänger der großdeutschen Idee, vornehmlich österreichische und süddeutsche, zumeist katholische Abgeordnete war groß. Ludwig Simon und Wilhelm Zimmermann gaben für die äußerste Linke eine Erklärung zu Protokoll, in der sie sich scharf von dieser Entscheidung distanzierten. Sie zerstöre die Möglichkeit zur Einheit, sie liefere das deutsche Volk den Interessen der Dynastien Hohenzollern und Habsburg-Lothringen aus, was letztlich eine Zerstörung der mühsam errungenen Freiheit bedeute. Letztlich bedeute dies auch eine Schwächung Deutschlands, da verschiedene Gebiete mehr oder weniger äußeren Einflüssen preisgegeben würden.“

 

Erbkaisertum

 

„Es folgte bis zum 27. März, an dem über den Erbkaiser und die letzten Teile der Reichsverfassung abgestimmt wurde, eine letzte große Debatte: Mit allen zu Gebote stehenden rhetorischen Mitteln traten Gegner und Befürworter des preußischen Erbkaisers gegeneinander an. Ludwig Simon war selbstverständlich gegen den Erbkaiser - mit seiner Idee der Verantwortlichkeit war der Gedanke eines erblichen Staatsoberhauptes nicht in Einklang zu bringen. In seiner Rede brachte er dies klar zum Ausdruck: „Die Erblichkeit enthält überhaupt die Erlaubniß, nichts zu tun! Mir mißfällt es, daß man sich im Glanze fremder Thaten sonne; ich meine, der wahre Stolz des Mannes müsse gerade darin bestehen, das, was man ist, durch sich selbst zu sein, nicht aber durch Fictionen, Vorraussetzungen und Illusionen!" Freilich machte er auch klar, dass die Wahl eines Erbkaisers für ihn und seid Fraktion eben gerade keine rein symbolische Handlung sein könne: „Wenn wir einen Erbkaiser wählen, dann stützen wir ihn auch! So ist es Brauch in unserem Lager!"

Durch die Wahl des preußischen Erbkaisers werde endgültig eine kleindeutsche Lösung geschaffen, allerdings habe die Linke immer darauf hingewiesen, dass die nichtdeutschen Teile Österreichs nicht mit Gewalt in das neue Reich gezwängt würden. Daher sei ihr Wunsch immer gewesen, dass Deutschösterreich zwar zum Reich gehören, nach Möglichkeit aber die nichtdeutschen Teile in freier Selbstbestimmung eine noch zu bestimmende Verbindung mit dem Westen eingehen würden. Dass der Gedanke eines Kaisers, sei es nun ein Hohenzoller oder ein Habsburger, der Linken nicht gefalle, sei bekannt, aber es gäbe ja noch eine dritte Möglichkeit, nämlich sich auf den Geist der Märztage zu besinnen und nach einem freiheitlichen Weg zu suchen. Man müsse bedenken, dass der preußische König selbst im März gesagt habe: „Ich bin nicht stark durch mein Heer, meinen Schatz, sondern durch die Herzen und die Treue meines Volkes!" Dieser freiheitliche Weg sei jedoch bei 38 Staaten und 34 Fürsten kaum mehr realisierbar.

Fast schon verzweifelt bemühte Simon sich, den revolutionären Geist wieder wachzurufen, der vor einem Jahr, also im März 1848, geherrscht hatte. Und schließlich, am Ende seiner Rede, wohl schon im Wissen darum, dass am Ende die Reaktion gewinnen und ihre Gegner unterdrücken werde: „Wir wissen es, meine Herren, wenn Gewalt eintritt, wo sie zuerst einschlägt! Aber deßhalb werden wir nicht minder unserem Ursprunge treu bleiben, so verhaßt er seitdem auch geworden ist; wir werden die uns anvertraute Fahne nicht verlassen, wir werden sie bis zum letzten Augenblicke hoch flattern lassen und dabei dem Wort des Dichters gedenken: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes ist die Schuld!" (Stürmischer Beifall von der Linken und vom linken Centrum)."

Mit diesem pathetischen Ausruf sollte Simon angesichts der Verfolgung, die in den kommenden Monaten begann, Recht behalten. Ein Augenzeuge notierte: „L. Simon sprach wie immer gerecht und offen, von den Schwarzgelben will er nichts wissen. Es ist, als ob Ludwig Simon von der Demokratie Abschied nähme und an ihr verzweifle.'‘ Bei der folgenden Abstimmung über den Erbkaiser machte ein Teil der gemäßigten Linken, angeführt von Ludwig Simons Namensvetter Heinrich Simon, ein Geschäft mit den Anhängern des Erbkaisertums: Für eine Unterstützung des Erbkaisers erhielten sie die Zustimmung für das allgemeine Wahlrecht, außerdem für ein suspensives Vetorecht des Kaisers, d. h. dieser konnte einen Beschluss des Reichstages lediglich aufheben, nicht aber außer Kraft setzen. Die Mehrheit fiel allerdings dennoch denkbar knapp aus: 267 zu 263 Stimmen. Ludwig Simon und die übrige Linke, die nicht für den Erbkaiser gestimmt hatte, veröffentlichte eine Erklärung, in der sie sich von dem Erbkaiser distanzierten. Die erbliche Übertragung der Kaiserwürde an ein Fürstenhaus war ihrer Meinung nach verderblich für Einheit und Freiheit. Als am nächsten Tag der preußische König als Erbkaiser bestimmt wurde, enthielt sich Simon der Stimme.

Einem anderen Abgeordneten schrieb Simon an diesem Tag, den er den „Entbindungstag des kleindeutschen preußischen Erbkaisers" nannte, in sein Stammbuch:

Das Vaterland ist in Gefahr -

Friedrich Wilhelm oder Czar!

So zeigt man uns die Knute,

So zeigt man uns den Strick?

Doch wir mit frischem Mute:

Hoch die Republik!

Freilich enthielt die Verfassung, die am 28. März 1849 unterzeichnet wurde, vieles, mit dem die Linke und auch Ludwig Simon zufrieden sein konnte: Zunächst die einklagbaren Grundrechte wie Freiheit der Person, Gleichheit vor dem Gesetz und Abschaffung der Vorrechte des Adels. Zudem weitestgehende Abschaffung der Todesstrafe, völlige Abschaffung der Prügelstrafe und des Prangers, Briefgeheimnis, Pressefreiheit und Unverletzlichkeit der Wohnung. Die Kirchen wurden dem staatlichen Gesetz unterstellt, aber im Gegenzug völlige Freiheit des Bekenntnisses und der Religionsausübung, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession durfte nicht mehr hinderlich sein. Bei der Schulfrage sollte zwar die kirchliche Schulaufsicht grundsätzlich abgeschafft werden, die Einrichtung kirchlicher Privatschulen wurde jedoch gestattet und der Religionsunterricht blieb weiterhin der Aufsicht der Kirchen überlassen. Volksschulen sollten kostenfrei besucht werden können, die Freiheit der Berufswahl wurde zugesichert.

Grundherrliche Feudalrechte wurden abgeschafft, allerdings hatte sich die Linke nicht mit ihrer Forderung des Rechts auf Arbeit und gleichzeitiger Sanktionierung der Arbeitsunwilligen durchsetzen können. Die liberale Mehrheit sah die Gewerbefreiheit als ausreichend an, um genügend Arbeitsplätze zu schaffen, so dass für alle arbeitswilligen Personen genügend Beschäftigung gegeben sei.

Die Unabhängigkeit der Justiz wurde ebenso festgehalten wie öffentliche Gerichtsverhandlungen und das Verbot von Ausnahmegerichten. Trotz gewisser staatlicher Aufsicht sollten Gemeinden ihre Vorsteher selbst wählen und sich selbst verwalten können, die Einzelstaaten des Reiches sollten eine Verfassung und Landesparlamente erhalten, dazu die Verantwortlichkeit ihrer Minister. Eine Besonderheit, die vor allem auf den Wunsch österreichischer Abgeordneter zurückging, war ein Minderheitenschutz für nicht deutschsprachige Volksgruppen - ihnen sollte der Gebrauch ihrer eigenen Sprache im Schulunterricht, den Kirchen und auch, soweit notwendig, in der Verwaltung gestattet werden.

Bei der konkreten Gestaltung des Reiches hatte sich das Ziel eines Einkammersystems nicht verwirklichen lassen, stattdessen sollte der Reichstag aus zwei Kammern bestehen, ein Beschluss musste dabei von beiden gefasst sein. Die erste Kammer, das Volkshaus, sollte aus in allgemeiner und gleicher Wahl (von den Männern) gewählten Abgeordneten bestehen, die zweite Kammer sollte das Standeshaus sein, das von den Vertretern der Einzelstaaten gebildet wurde. Jeder Einzelstaat sollte eine seiner Einwohnerzahl entsprechende Anzahl von Vertretern entsenden, die zur Hälfte von der jeweiligen Landesregierung und zur anderen Hälfte vom Landesparlament bestimmt wurden.

Ludwig Simon stand, trotz seiner Vorbehalte gegen den Erbkaiser, von Beginn an hinter dieser Verfassung, auch wenn er selbst dagegen gestimmt hatte: „Nachdem nun die Reichsverfassung mit Erbkaiser und allgemeinem Stimmrecht, mit kaiserlichem Suspensiv=Veto und unbedingter Freiheit der Presse, des Vereins= und Versammlungsrechts, endlich mit einer selbst über das Kaiserthum hinausgehenden Revisionsbefugniß, kurz wie sie nun einmal vorlag, durch die Mehrheit einer aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangenen Versammlung beschlossen war, da hielt ich mit einem Theile meiner Freunde es für meine demokratische Pflicht, mich dem also ausgesprochen Willen der Mehrheit zu unterwerfen." Einige andere Mitglieder der Fraktion Donnersberg wollten sich jedoch nicht mit der Verfassung abfinden, da sie zwar demokratisch zu Stande gekommen sei, das Volk aber darin auf einen Teil seiner möglichen Rechte verzichtet habe.

Dies sollte noch zu einer Spaltung der Fraktion führen, doch zunächst geschah etwas, das Otto von Bismarck, seinerzeit Abgeordneter im preußischen Landtag, auf den Punkt brachte, als er verkündete, er könne nicht akzeptieren, „daß mein König zum Vasallen der politischen Glaubensgenossen der Herren (Ludwig und Heinrich) Simon herabsteigt".

Am 4. April empfing Friedrich Wilhelm eine Abordnung von 32 Frankfurter Abgeordneten und lehnte die ihm angebotene Kaiserkrone ab. Zu dieser Ablehnung hatte ihn ein ganzes Bündel von Überzeugungen gebracht - einerseits realpolitische wie die Tatsache, dass dadurch Österreich brüskiert und endgültig aus dem Reich ausgeschlossen worden wäre, was zu einem Krieg hätte führen können. Andererseits aber auch und gerade seine Vorstellung von der Würde eines Monarchen und dem Gottesgnadentum: Nur ein Kollegium ebenbürtiger (Kur-) Fürsten (wie es vor 1806 der Fall gewesen war) konnte seiner Meinung nach die Kaiserkrone überhaupt vergeben, eine Volksvertretung konnte den göttlichen Willen nicht wiedergeben und daher höchstens eine Ergänzung sein. Dass er, wenn auch nur intern, von der „Krone aus der Gosse" sprach, sagt wohl genug darüber aus. Auch die „Note der Achtundzwanzig", ein von 28 deutschen Landesregierungen unterzeichnetes diplomatisches Schreiben konnte ihn nicht umstimmen. Ludwig Simon kommentierte diese Ablehnung bei der Begrüßung der zurückgekehrten Deputation: „Sie haben die edle Germania von den Ufern des Main nach Norden geleitet, umgeben von den Sorgen und Segnungen der Nation, nicht als eine Magd, welche dem Gebieter die Schuhriemen löse, sondern als eine schöne, reiche Braut voll des innersten Lebens, voll Freiheitsgluth und Selbstachtung ... Es ist Zeit, meine Herren, daß sich das Volk um seine Germania schaare, um sie vor Entehrung zu bewahren (Anhaltendes, lebhaftes Bravo in der Versammlung und auf der Galerie)."

 

Centralmärzverein

 

„Ludwig Simon war, anders als Friedrich Zell, nicht Mitglied der Deputation, die nach Berlin gereist war. Er hatte nach eigener Aussage in Frankfurt „barbarisch Viel zu tun", denn bereits seit November 1848 war zu seiner Tätigkeit als Abgeordneter auch noch das Engagement im Centralmärzverein gekommen. Dieser sollte nach dem Willen seiner Gründer, zu denen neben Ludwig Simon auch Franz Raveaux, Hugo Wesendonck und Wilhelm Adolf von Trützschler gehörten, eine Dachorganisation der verschiedenen Demokratenvereine Deutschlands sein und den revolutionären Geist des März 1848 (daher der Name) wach halten.

Schon an Pfingsten 1848 (14.-17. Juni 1848) hatte es in Frankfurt einen Demokratenkongress gegeben, auf dem ein recht gemischtes Publikum auftrat. Nicht nur der Philosoph Ludwig Feuerbach (1804-1872), der Dichter Ferdinand Freiligrath (1810-1876) waren anwesend, sondern auch die Abgeordneten Julius Fröbel (1805-1893) und Ludwig Bamberger. Zwar hatte sich Ludwig Simon für die Durchführung dieses Kongresses eingesetzt, da es Stimmen im Parlament gab, die ihn verbieten wollten, er selbst nahm aber die zugunsten des Kongresses über Pfingsten angesetzten Parlamentsferien als Anlass für eine politische Agitationsreise durch die Pfalz, auf der ihn Robert Blum und der größte Teil der Fraktion Donnersberg begleiteten. Der Kongress selbst verfolgte überwiegend einen ziemlich radikalen Kurs, laut Ludwig Bamberger fing „die äußerste Rechte dieses Kongresses da an ... wo die äußerste Linke der Paulskirche aufhörte". Auch an dem bereits erwähnten zweiten Demokratenkongress im Oktober 1848 in Berlin hatte Ludwig Simon, wie erwähnt, ebenfalls nicht teilgenommen, obwohl er sich zu diesem Zeitpunkt ja in Berlin aufhielt. Gerade dieser Demokratenkongress hatte allerdings wegen der Ausrufung des Belagerungszustandes und der Verlegung der preußischen Nationalversammlung die Idee einer Zusammenarbeit zwischen den einzelnen demokratischen Vereinen Auftrieb verschafft. Allerdings war es ihm nicht gelungen, angesichts der immer stärker werdenden Reaktion Lösungen zum Schutz der demokratischen Sache zu finden, er verlief recht chaotisch und die meisten Teilnehmer reisten vorzeitig ab.

Insbesondere die gemäßigten Linken, wie sie sich vor allem in der Fraktion Westendhall fanden, hatten sich mit dem recht radikalen „Central-Ausschuß der Deutschen Demokraten", der den Kongress organisiert hatte, ohnehin nicht recht einverstanden erklären können und machten daher ihren Kollegen vom Deutschen Hof und dem Donnersberg den Vorschlag zur Gründung eines neuen außerparlamentarischen Dachverbandes. So wurde am 23. November 1848 schließlich der Centralmärzverein gegründet, motiviert auch durch die Erschießung Robert Blums, die Niederschlagung des Aufstandes in Wien und die Ereignisse in Berlin.

Immerhin rund 40% der Paulskirche, die Fraktionen Donnersberg, Deutscher Hof und Teile der Westendhall standen hinter dem Centralmärzverein, der auch als die erste moderne Partei Deutschlands bezeichnet wird. Seine Organisation, an der auch Ludwig Simon seinen Anteil hatte, war straff und effizient: Die lokalen Demokratievereine schlossen sich Länder- bzw. Provinzweise zusammen, diese einzelnen Zentralvereine wurden dem Frankfurter Zentralausschuss untergeordnet, dessen Vorstand zunächst von Trützschler, Raveaux und Eisenmann bildeten, Schriftführer waren Max Simon, Wenzel Raus (geb. 1821), und Wesendonck. Von Trützschler und Eisenmann schieden bald aus und wurden durch Ludwig Simon und Gottfried Christian Schüler (1798-1874) ersetzt, auch Hellmuth Wühler (1820-1899) gehörte später dazu.

Insgesamt war die Organisation allerdings nicht zentralistisch-autoritär: Der Centralmärzverein verstand sich nicht als Weisungsgeber der einzelnen angeschlossenen Vereine, sie waren nicht verpflichtet, seinen Anweisungen zu folgen. Umgekehrt hatten sie aber auch kein Mitspracherecht bei den Entscheidungen des Vereins. Hauptaufgabe des Vereins war der Austausch mit den einzelnen Vereinen und deren Information untereinander. Hierfür unterhielt der Verein ein eigenes Büro mit wohlgeordneter Registratur, er beantwortete und verschickte Briefe von und an die einzelnen Vereine, zudem veröffentlichte er Mitteilungen, die sowohl direkt als Einzeldrucke als auch durch Abdruck in geeigneten Zeitungen verbreitet wurden. Zumindest zeitweilig war Ludwig Simon hier der Koordinator, der eingehende Briefe zu beantworten hatte. Die Entwicklung des Centralmärzvereins verlief günstig: Bis Ende März 1849 waren ihm mehr als 951 Mitgliedsvereine in allen deutschen Staaten (außer Österreich, wo die Reaktion bereits übermächtig geworden war) angeschlossen, insgesamt darf man mehr als eine halbe Million Mitglieder annehmen. Lediglich der Katholische Verein Deutschlands dürfte eine ähnliche Größe erreicht haben, der Konstitutionelle Verein etwa blieb weit hinter diesen Mitgliederzahlen zurück.

Dieser Centralmärzverein sollte auch bei den kommenden Ereignissen eine wichtige Rolle spielen: Nach der Ablehnung der Kaiserwürde durch Friedrich Wilhelm war die Reichsverfassung als das wesentliche Ergebnis der parlamentarischen Arbeit geblieben. Am 4. Mai beschloss die Paulskirche noch mit knapper Mehrheit, die deutschen Einzelstaaten, ihre Regierungen und das Volk dazu aufzufordern, die Reichsverfassung in Geltung zu setzen. Das war zunächst noch kein völlig aussichtsloses Ziel, denn wenn auch der preußische Landtag und Bayern die Reichsverfassung ablehnten, so hatten ihr doch 28 Landesregierungen und -parlamente, auch die preußische Zweite Kammer (in der Ludwig Simons Vater saß), zugestimmt, bevor sie am 27. April vom König aufgelöst wurde.“

 

Bewaffneter Kampf?

 

„War Simon bislang noch von einem weitgehend friedlichen Widerstand ausgegangen, so begann er nun davon zu sprechen, dass man sich auf einen bewaffneten Kampf würde vorbereiten müssen. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass etwa Preußen russische Truppen anfordern würde, um militärisch vorzugehen. Die Gefahr hatte er offenbar bereits früher gesehen, wie die zitierten Stammbuchverse belegen, aber nun glaubte er wohl, dass sie tatsächlich eintreten könnte und speziell die russischen Soldaten keinen Respekt vor der demokratisch zu Stande gekommenen Verfassung hätten.

In den nächsten Tagen, am 6./7. Mai 1849, wurde auch ein Kongress des Centralmärzvereins in Frankfurt abgehalten, der Mittel und Wege zur Durchsetzung der Reichsverfassung finden und über die zukünftige Politik der Volkspartei debattieren sollte. Hier wurden Anträge auf sofortige Einleitung des bewaffneten Kampfes abgelehnt. Auch ein weiterer Vorschlag, den Ludwig Simon bereits in ähnlicher Form vergeblich in der Nationalversammlung vorgebracht hatte, fand keine Mehrheit: Die Einzelstaaten, die sich für die Reichsverfassung erklärt hatten, sollten den Durchmarsch fremder Truppen zur Niederschlagung der Verfassungsanhänger verbieten. Stattdessen wurden Aufrufe an das Volk zum bewaffneten Kampf, und ein Aufruf an Soldaten, den Kampf gegen die Reichsverfassung zu verweigern, beschlossen. Der Vertreter des Trierer Demokratenvereins stand auf Ludwig Simons Seite: Ihm war dieser Beschluss offenbar nicht genug, er trat daraufhin aus dem Centralmärzverein aus.

Endgültig für den bewaffneten Kampf sprach sich Ludwig Simon am 8. Mai aus, als er gemeinsam mit Carl Vogt einen Antrag vorbrachte, die Nationalversammlung solle die gewaltsamen Erhebungen in Sachsen und der bayerischen Pfalz, die sich zu entwickeln begannen, tatkräftig unterstützen - allerdings zog er diesen Antrag zugunsten eines moderateren wieder zurück. Aber gerade diese Frage, ob notfalls auch Gewalt eingesetzt werden dürfe, spaltete nicht nur die Paulskirche, sondern auch den Centralmärzverein: Während die Konstitutionellen gegen Gewalt waren und die Verfassung auf rechtmäßigem Weg durchsetzen wollten, sahen die Linken Demokraten keinen anderen Ausweg mehr als zu kämpfen.

Das Umschwenken Ludwig Simons hin zum bewaffneten Kampf lässt sich dadurch erklären, dass er den Eindruck hatte, der demokratisch festgestellte Volkswille werde nicht umgesetzt. Die Gewalt der Einzelregierungen gegen die Reichsverfassung war für ihn Hochverrat und daher nur noch durch aktiven Widerstand zu bekämpfen. Heinz-Günther Böse charakterisierte seine Haltung so: „Nachgiebigkeit, Selbstverleugnung im Hinblick auf das Ganze ist für ihn Ausdruck der Friedfertigkeit und Humanität. Dadurch wird der Weg zum Zustandebringen menschlicher Werke gekennzeichnet. Simon stellt dies humane Vollbringen der echten Volksvertreter (für die Reichsverfassung als Symbol von Freiheit und Humanität) auf die eine, helle Seite, die von Norden kommende Lawine der „roten Monarchie" auf die andere, dunkle Seite". Diese Selbstverleugnung hatte er durch das Akzeptieren und Umsetzen des Volkswillens praktiziert, da der Erbkaiser keineswegs seiner Meinung entsprach, aber eben durch den Volkswillen beschlossen worden war.

Der aktive Widerstand hatte nun bereits begonnen: Der Centralmärzverein forderte in seinen Mitteilungen und Aufrufen die Bevölkerung auf, sich nun für die Reichsverfassung stark zu machen - die sogenannte Reichsverfassungskampagne. Er beschwor den revolutionären Geist und es brachen im Laufe des Mai verschiedene Unruhen unterschiedlicher Stärke aus: In Dresden stürmten am 3. Mai Aufständische das Zeughaus und König Friedrich August II. (1797-1854) floh. Eine Republik wurde installiert und nach sechs Tagen von preußischen Truppen niedergeschlagen. Zumindest in diesem Fall vergeblich hatte der Centralmärzverein am 6. Mai seinen Aufruf an alle Soldaten erlassen, in dem sie aufgefordert wurden, sich für die Reichsverfassung einzusetzen. Ihnen wurde erklärt, dass ihre Eide auf die Fürsten ihre Gültigkeit verlieren würden, wenn der Fürst gegen die rechtmäßige Reichsverfassung handle. Unterzeichnet war er von Julius Fröbel, Franz Raveaux, Hellmuth Wöhler und Ludwig Simon.

In der Pfalz kam es zu großen Volksversammlungen und der Bildung eines Landesverteidigungsausschusses, in Baden meuterten in den wichtigen Festungen, wie etwa Rastatt, die Soldaten. Bernhard Eisenstuck wurde am 5. Mai als Reichskommissar der Zentralgewalt in die Rheinpfalz gesandt, er beförderte die Volkserhebung anstatt sie zu beschwichtigen und wurde wegen Mandatsüberschreitung am 11. Mai wieder abberufen. Auch in Elberfeld drangen Fabrikarbeiter, Bürger und sogar die Landwehr gegen preußische Truppen vor, maßgeblich angeregt vom Centralmärzverein, und trieben ein Bataillon aus der Stadt ...“

 

Das Parlament schrumpft

 

„Sowohl in der Pfalz als auch in Baden bildeten sich provisorische Regierungen, teilweise mit Unterstützung der von der Paulskirche entsandten Reichskommissare wie etwa Franz Raveaux in Baden. In Frankfurt war nun längst deutlich, dass die Reichsverfassung nur mit Schwierigkeiten und wohl auch bewaffneten Auseinandersetzungen in Kraft zu setzen sein würde. Gleichzeitig herrschte aber auch innerhalb der Paulskirche Uneinigkeit darüber, wie weiter voranzugehen sei.

Schon seit der ersten Maihälfte machte sich zudem der Zerfall der Versammlung bemerkbar: Reichsministerpräsident Heinrich von Gagern hatte angesichts des von der Linken verfolgten, radikalen Kurses zur Durchsetzung der Verfassung den Plan entwickelt, den Reichsverweser Erzherzog Johann abzusetzen und die Nationalversammlung aufzulösen. Die Zentralgewalt sollte dann Preußen übertragen werden, um es für die Einheit und die Reichsverfassung zu gewinnen. Dieser Plan war jedoch nicht zu verwirklichen, denn Johann weigerte sich, zurückzutreten und so mussten Gagern und seine Minister um die Entlassung bitten. Zudem trat seine Fraktion, das Casino, konstitutionell-monarchistisch ausgerichtet, am 20. Mai aus der Nationalversammlung aus. Bereits am 14. Mai hatte die preußische Regierung das Mandat der preußischen Abgeordneten für erloschen erklärt und sie zur Rückkehr aus Frankfurt aufgefordert, was freilich von Ludwig Simon, Franz Raveaux und anderen ignoriert wurde. Auch Friedrich Zell, der zusammen mit weiteren Juristen gegen die Rechtmäßigkeit dieser Abberufung protestierte, blieb in Frankfurt. Die österreichischen Abgeordneten waren schon am 5. April abberufen worden, und Ludwig Uhland (1787-1862), der bekannte schwäbische Dichter, hatte angesichts dieser für ihn enttäuschenden Entwicklung in einem Brief geschrieben: „Manche Ratten verlassen jetzt das, wie sie meinen, sinkende Schiff." Zudem war als Nachfolger von Gagerns im Amt des Ministerpräsidenten der Abgeordnete Maximilian Grävell (1781-1860), ernannt worden, eine skurrile Persönlichkeit, den niemand recht ernst nehmen konnte und gegen den gleich ein erfolgreiches (191:12 Stimmen!) Misstrauensvotum der Abgeordneten eingebracht wurde.

Dieser Zerfall führte allerdings zu einer deutlichen Verschiebung des Gewichts innerhalb der Nationalversammlung: Die verbliebenen Abgeordneten waren überwiegend Mitglieder der Linken und des linken Zentrums. Zugleich führte diese Verkleinerung und Verschiebung auch zum Austritt weiterer Abgeordneter, da sie keine ausreichende Vertretung des gesamten Volkes und Meinungsspektrums mehr sahen. Unter diesem Eindruck der Auflösung erneuerte Ludwig Simon am 21. Mai seinen Antrag, die Beschlussfähigkeit der Versammlung auf 100 Abgeordnete herabzusetzen, und schon gleich die Abstimmung darüber machte deutlich, wie nötig dies war: Er wurde zwar mit 101:39 angenommen, doch die Annahme war eigentlich nicht gültig, weil zu wenige Stimmen abgegeben wurden.

Wortreich hatte er die Schrumpfung der Versammlung beklagt und sich gewundert, wo denn seine Gegner, die bislang große Reden geführt hätten, nun seien? „O, Meine Herren, es ist weit gekommen mit der ersten Deutschen Nationalvertretung!" Wer sich aus der Versammlung verabschiede, der werfe ihre Sache der „rothen Monarchie" zum Fraß vor, dem Absolutismus. Den alternativen Antrag, die weitere Tätigkeit der Versammlung zu vertagen, lehnte Simon vehement ab. Dass Preußen und Sachsen ihre Abgeordneten zurückgerufen hätten, sei juristisch gesehen kein Grund, aufzugeben, denn schon nach der Entscheidung für eine kleindeutsche Lösung und den Rückzug der meisten Österreicher habe man ja nicht aufgegeben, für Recht und Freiheit zu arbeiten, auch wenn man nur noch Kleindeutschland repräsentierte. Die (groß)deutsche Einheit sei zwar im Moment nicht gegeben, aber wenigstens die Freiheit solle angestrebt werden: „Dagegen wollen wir die Freiheit dahier retten, und dann von hier aus eine freiheitliche Einheit erringen!"

Am 30. Mai fassten die noch verbliebenen 130 Abgeordneten (von ehemals offiziell 585, von denen normalerweise etwa 400 bis 500 bei den Sitzungen anwesend waren) einen schweren Entschluss: Carl Vogt, Freund Ludwig Simons, stellte im Namen des Dreißigerauschusses den Antrag, die Versammlung nach Stuttgart zu verlegen, vor allem Ludwig Simon und Hugo Wesendonck sollen sehr dafür geworben haben. Einige Abgeordnete sahen in einer möglichen Verlegung einen Bruch mit der Tradition und der Freiheit: Frankfurt als alte Kaiserstadt und zugleich freie Reichsstadt, mit einer unabhängigen Bürgerschaft, die nicht mit einem Fürstenhof verbunden sei. Die Gründe für eine Verlegung waren dagegen gewichtig: Rund um Frankfurt seien Truppen zusammengezogen worden, vornehmlich von Staaten, die die Reichsverfassung nicht anerkannt hatten, die Rede war von 60.000 Mann. Zudem war an der preußisch-hessischen Grenze angeblich bereits der Belagerungszustand ausgerufen worden. Auch stand zu befürchten, dass die Freie Stadt Frankfurt dem preußischen Druck nachgeben und die Abgeordneten ausweisen würde. Stuttgart erschien wesentlich sicherer, da der württembergische König die Reichsverfassung, wenn auch nur widerwillig, angenommen hatte. Zudem befürwortete Friedrich Römer (1794-1864), im Zuge der Revolution im März 1848 zum württembergischen Justizminister ernannt und Abgeordneter in der Paulskirche, diesen Schritt, da er sich von einer Verbindung der Nationalversammlung mit der Württembergischen Regierung „viel versprach", nämlich die Hoffnung, Württemberg als dritten führenden deutschen Staat, neben Preußen und Bayern, zu etablieren. Zudem war die Versammlung in Stuttgart näher an den Zentren der Revolution in Baden und der Pfalz, konnte also leichter dorthin Kontakt halten.“

 

Parlamentarisches und militärisches Ende

 

„Letztlich aber war es auch kaum von praktischem Erfolg gekrönt, dass die Reichsregentschaft am 18. Juni eine Proklamation an das Deutsche Volk erliess, die jeden achtzehn- bis neunzehnjährigen Mann zur Meldung aufforderte um die Reichsverfassung mit Waffengewalt zu schützen. Denn schon am gleichen Tag fand das Rumpfparlament sein Ende: Zwischen der Reichsregentschaft und dem Württembergischen Ministerium um Friedrich Römer bestanden mittlerweile erhebliche Spannungen, da die Regentschaft Truppen zur Stärkung der Aufstände in der Pfalz und in Baden forderte. Diesen Eingriff in die Autonomie konnte auch Römer nicht mehr vertreten und bereits am 8. Juni musste das Parlament aus der Ständekammer in das sog. Fritzsche Reithaus umziehen. Wenige Tage später trat auch Römer selbst aus dem Parlament aus, und am 18. Juni besetzten auf seine Initiative hin Soldaten das Reithaus und demolierten die für das Parlament nötige Einrichtung.

Ludwig Uhland, als schwäbischer Dichter lokale Prominenz, schlug daraufhin vor, die Abgeordneten sollten sich in einem Hotel sammeln und im Schweigemarsch als Demonstration zum demolierten und bewachten Tagungslokal gehen. Dies geschah: „Unmittelbar hinter Präsident Löwe und den beiden Greisen (Albert) Schott und (Ludwig) Uhland ging ich Arm in Arm mit meinem Freunde Ludwig Simon. Ich wusste, dass wir dem Ende entgegen gingen" schilderte Moritz Hartmann diesen traurigen Zug. Ihm traten bald Soldaten entgegen, die gemeinsam mit berittenen Truppen die Abgeordneten zwar unsanft und nachdrücklich, aber ohne Blutvergießen auseinandertrieben. Man kehrte daraufhin in das Hotel zurück, wo Ludwig Simon an ein Fenster trat, um seine beste Fähigkeit ins Spiel zu bringen: Er wollte eine Rede an das Volk halten. Leider aber trieben die Soldaten alle eventuellen Zuhörer weg, und so wurde er um eine letzte Chance zur Anwendung seines rhetorischen Talents gebracht.

Bei den Beratungen über das weitere Vorgehen klang Simons Resignation deutlich an: „Wir haben allerdings gethan, was wir thun konnten." Da nur noch 94 Abgeordnete anwesend waren, konnte die Versammlung keine gültigen Beschlüsse mehr fassen. Anders als seine Kollegen Raveaux und Wesendonck wollte er zunächst einmal abwarten, welche Reaktionen das Auseinandertreiben der Abgeordneten bei der Bevölkerung hervorrufen würde. Erst dann solle man über einen neuen Tagungsort und das weitere Vorgehen entscheiden. Es sei jederzeit möglich, die Zahl der Abgeordneten wieder auf 100 zu erhöhen und, gegebenenfalls an einem anderen Ort, weiterzuarbeiten. Hoffnung auf eine Initiative der Bevölkerung hatte er jedoch offenbar nicht mehr: „Was die Haltung des Volkes anbetrifft, so habe ich allerdings Sympathie und Schmerz, wohl auch Entrüstung, sonst aber nichts gesehen."'

Die allgemeine Ratlosigkeit führte schließlich zu der Vereinbarung, sich ab sofort täglich, aber informell, zu treffen, doch schon am nächsten Tag verfügte der württembergische Innenminister die Ausweisung aller Abgeordneten. Präsident Loewe lud die Abgeordneten zwar noch zu einer Sitzung in Karlsruhe am 25. Juni ein, aber sie fand schon nicht mehr statt. Die Ereignisse waren über die Versammlung hinweggerollt. Da nützte es auch nichts, dass der Centralmärzverein in seiner letzten Mitteilung von Ende Juni 1849 noch verkündete, die Nationalversammlung sei an jedem Ort mit hundert Abgeordneten beschlussfähig und die Reichsregentschaft stehe rechtmäßig über den Fürsten.

Ludwig Simon ging nach der Ausweisung zunächst nach Süden, ins badische Land, um dort nach Möglichkeit die übrigen versprengten Abgeordneten wieder zu treffen. Das Land war noch immer im Aufruhr: Freischärler und Bürgerwehren, aber auch junge Männer, die sich auf den Aufruf der Reichsregentschaft hin zum Kampf gemeldet hatten, begegneten Simon und seinen Begleitern. Er traf auch einen bekannten Revolutionär, den aus Potsdam stammenden Max Dortu (1826-1849), der (übrigens wie Ludwig Simon Jurist) bereits im Mai 1848 wegen der Bezeichnung „Kartätschenprinz" für den preußischen Prinzen Wilhelm, den späteren Kaiser Wilhelm I., verurteilt worden war. Nach seiner vorzeitigen Entlassung brachte er im November 1848 mehrere Männer dazu, im Zuge der Verlegung und Vertagung der Berliner Nationalversammlung und der Ausrufung des Belagerungszustandes die Gleise der Berlin-Potsdamer Bahn zu zerstören und die zugehörige Telegrafenlinie zu unterbrechen. Damit sollte die Heranführung weiterer Truppen verhindert werden. Dortu floh nach Belgien und schloss sich Mitte 1849 den Aufständischen in Baden an.

Vor der Begegnung mit Simon hatte der Einmarsch preußischer Truppen in Baden begonnen und die Lage war unübersichtlich geworden: Kurz vor dem Treffen der beiden hatte das Gefecht von Waghäusel (21. Juni) den Revolutionstruppen die entscheidende Niederlage beigebracht ...“

 

Flucht in die Schweiz

 

„In Freiburg, wo er seinem Pflichtgefühl gehorchend, noch einen Bericht an die Reichsregentschaft erstatten wollte, erfuhr Simon von der endgültigen Niederlage der Revolutionskämpfer und der Flucht der Reichsregentschaft nach Baden-Baden; die Stadt war zwar noch nicht von preußischen Truppen besetzt, dies durfte jedoch nur noch eine Frage der Zeit sein. Daher entschied er, gemeinsam mit seinem Begleiter, wenigstens an den letzten Ort seiner Mission zurückzukehren und dort die Bevölkerung über das Ende zu informieren - es erschien ihm laut eigenem Bekunden unredlich, sie im Ungewissen zu lassen, nachdem er zuvor noch versucht hatte, sie für einen Kampf zu gewinnen. Was dann als letzte Szene im letzten Akt seiner Tätigkeit als Abgeordneter folgte, schilderte er nur in dürren Worten: „Wir kehrten sofort zurück, machten am betreffenden Ort Mitteilung und erklärten, daß wir nun für unsere Person in die Schweiz übertreten würden. Sodann ging es nach Ueberlingen, von da nach Constanz, und dann: Ade mein Vaterland!“ Es war der 26. Juni 1849.

Wenn Ludwig Simon beim Übertreten der Schweizer Grenze darüber nachgedacht hat, was von seiner Tätigkeit in der Zeit von etwas mehr als einem Jahr, von der Eröffnung des Parlaments in der Paulskirche am 18. Mai 1848 bis zur Flucht der Reichsregentschaft am 30. Juni 1849, geblieben war, mag seine Bilanz bedrückend ausgefallen sein. Sicher: Mit der Reichsverfassung hatte man ein modernes, noch 1919 als Vorbild für die Weimarer Verfassung herangezogenes Werk vollbracht, aber in der zweiten Jahreshälfte 1849 waren alle Bemühungen ihr zur Geltung zu verhelfen, gescheitert und ein künftiger Ruhm, selbst wenn Simon daran geglaubt haben mag, nütze ihm in dieser Situation nichts. Für Ludwig Simon war es zunächst eine glanzvolle Laufbahn gewesen, als vielbewunderter Redner und anziehende Persönlichkeit, so sahen ihn nicht nur seine politischen Genossen. Seine Gegner griffen ihn mitunter hart an, aber er wusste sich seiner Haut durchaus zu wehren. Doch in dem gleichen Maße, wie die Entwicklung anders verlief als es sich die Paulskirchenlinke gewünscht hatte, geriet auch Ludwig Simon in die unangenehmste aller politischen Positionen: Er saß zwischen den Stühlen. Durch sein kompromissloses Eintreten für die demokratisch gefassten Beschlüsse, auch wenn er selbst und die Fraktion anders gestimmt hatten, machte er sich links unbeliebt, rechts konnte man seine Ablehnung der Fürsten im Allgemeinen und des Erbkaisers im Besonderen sowie seine Vorstellung der „Kulturanarchie" noch weniger akzeptieren.

Dass der Volkswille für Simon über allem stand, führte ihn zu der Einsicht, dass die Volksmehrheit mitunter eben (um ein Zitat aus jüngerer Zeit abzuwandeln) „Weniger Demokratie wagen" wollte, als vielleicht möglich gewesen wäre und man auch dieses Wenigerwollen nun einmal als Volkswillen zu akzeptieren hatte. Diese zunehmend schwierigere Position spielte sich vor dem Hintergrund einer nachlassenden Einigkeit innerhalb dessen ab, was einmal die Revolution gewesen war: Die Spaltung in Demokraten, Konstitutionelle und Katholiken in Simons Heimatstadt ist eine treffende Illustration dafür.

Letztlich machte sie sich auch in der zentralen Frage bemerkbar, ob man zur Durchsetzung der Reichsverfassung notfalls auch Gewalt anwenden dürfe. Für Ludwig Simon lautete die Antwort schließlich ja, weil seiner Meinung nach die Fürsten und Regierungen im Unrecht waren und ihrerseits Gewalt ausübten, indem sie ihre Machtposition ausnutzen, um den Volkswillen und sein Produkt, die Reichsverfassung, zu unterdrücken. Das freilich konnten die Konstitutionellen und Liberalen nicht akzeptieren, auch der so fulminant gestartete Centralmärzverein scheiterte als außerparlamentarisches Werkzeug letztlich daran, dass er diesen grundsätzlichen Graben nicht zu überwinden vermochte.

Zudem gelang es dem Centralmärzverein nicht, das juristisch fundierte Konzept hinter seinen Aufrufen zur Reichsverfassungskampagne breiten Bevölkerungskreisen verständlich zu machen.

Es war nun einmal, um es auf Ludwig Simon herunter zu brechen, etwas anderes, im Trierer Amphitheater die aufgebrachten Menschen durch eine feurige Rede zu gewinnen, als landesweit durch Aufrufe und Rundschreiben Mehrheiten zu organisieren. Und selbst wenn er an seiner letzten Rede vom Stuttgarter Hotelfenster aus nicht gehindert worden wäre: Zu diesem Zeitpunkt war der Sieg der Reaktion nicht mehr aufzuhalten. So blieb ihm beim Gang ins Exil immerhin der Trost, den er selbst schon formuliert hatte: „Wir haben allerdings gethan, was wir thun konnten."“

 

Anklage wg. Hochverrat und Todesstrafe

 

„Dass Simon ins Exil gehen musste, hatte sich bereits abgezeichnet, als er sich noch in Stuttgart aufhielt. Warum er nicht mehr nach Trier zurückkehren konnte, soll daher zunächst erklärt werden: Wie erwähnt, waren die preußischen Abgeordneten der Paulskirche am 14. Mai 1849 vom König zurückberufen und ihre Mandate für erloschen erklärt worden. Simon, aber auch Friedrich Zell und andere Juristen hatten dies für unzulässig erklärt und sich geweigert die Nationalversammlung zu verlassen …

Gegen Ludwig Simon hatte man nämlich zunächst ebenfalls ein Disziplinarverfahren wegen Nichtbefolgung des Abberufungsbefehls und unberechtigter Entfernung von seinem Amtswohnsitz eingeleitet, das man aber am 22. Juni 1849 um den folgenschwereren Anklagepunkt des Hochverrats erweiterte. Damit war die Teilnahme am Stuttgarter Rumpfparlament gemeint, das als „Complot" gegen den Staat gewertet wurde, insbesondere die Einsetzung einer Reichsregentschaft, der Aufruf zum Boykott der nach oktroyierten Verfassungen erfolgenden Wahlen usw. …

Der Oberprokurator Deuster legte Berufung gegen die Entscheidung des Disziplinarausschusses ein, weil man Simon nicht wegen seines Ignorierens des Abberufungsbefehls die Zulassung als Advokat aberkannt habe - und scheiterte auch damit: Am 15. Dezember 1849 wurden Simon und Friedrich Zell von dem Disziplinarsenat des Appellationsgerichtshofs in Köln freigesprochen, weil sie weder gegen „Gesetze der Redlichkeit, des Anstands oder des Zartgefühls verstoßen haben." Doch die preußische Reaktion fand noch einen weiteren Hebel, um bei Ludwig Simon ansetzen zu können: Man „hatte sich inzwischen an seine Eigenschaft als preußischer Landwehroffizier erinnert".

Am 13. Oktober 1849 wurden er und sein Regimentskamerad Viktor Schily (der gleichfalls in die Schweiz geflohen war) aufgefordert, sich bis zum 25. Februar 1850 in der preußischen Hauptwache auf dem Trierer Hauptmarkt zu melden, ansonsten würden sie als Deserteure betrachtet und kriegsgerichtlich als solche verurteilt werden.“

 

Abgrenzung nach links

 

„… War dieser teilweise rückblickende Aufsatz eine Abgrenzung nach rechts, so setzte Ludwig Simon sich in dem zweiten, „Das allgemeine Stimmrecht und die Arbeiterdictatur", der 1851 erschien, mit den revolutionären Sozialisten auseinander und grenzte sich damit nach links ab. Die Gefahr für die Freiheit kam für ihn nicht nur von rechts, sondern eben auch von links: „Schon regt sich ein neuer Despotismus, um sich an die Stelle des alten zu setzen. Achten wir bei guter Zeit auf die Symptome. Schon streben s. g. Demokraten die Herrschaft im Namen einer Klasse gegen den Willen der Mehrheit der Gesellschaft an. Ich sage sogenannte Democraten; denn derjenige, welcher die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit des Volkes predigt, ist kein Demokrat, mag nun diese Minderheit aus royalistischen Bureaukraten, konstitutionellen Bourgeois oder kommunistischen Proletariern bestehen" …

Simon wollte von Beginn seiner politischen Tätigkeit an durch gerechte Steuern, Recht auf Arbeit und allgemeines Wahlrecht die Situation des notleidenden Volkes verbessern, aber keineswegs die gesellschaftliche Ordnung radikal und in einem Zuge umstürzen.

Vier Jahre später zweifelte Simon grundsätzlich an, dass die „Socialdictatoren" Marx und Engels das Ziel verfolgten, Frieden und Wohlstand für eine größere Menschengruppe zu erreichen: „Nichts ist ihnen verhaßter als jene ausgleichenden Wirkungen der Freiheit und Gerechtigkeit, welche es nicht zu Collissionen zwischen Bettlern und Millionairen kommen lassen. Sie brauchen starken Druck zu starker Explosion. Denn es kommt ja nicht darauf an, daß lebendige Menschen sich zu allen Zeiten möglichst wohl befinden, sondern darauf, daß zu irgend einer Zeit einmal jener große sociale Kataklysmus eintrete, welcher ihnen die Anwendung ihrer abstracten Glückseligkeitstheorie ermöglichen soll."

In einem Artikel für die Daily Tribune fasste Simon seine in dem Aufsatz geäußerten Ansichten im Februar 1852 noch einmal zusammen: „Sollte es uns nicht gelingen, unsere revolutionäre Entwicklung auf das demokratische Princip der Freiheit, des Friedens, der Wohlfahrt und der fortschreitenden Cultur zu gründen, und sollten wir unter das willkürliche Belieben irgend eines dictatorischen Social-Reformers fallen, so würden wir, für lange Jahre vielleicht, wieder das Spielzeug roher Gewalt werden, die auf Kosten unserer Freiheiten, die Früchte jedes Zweiges der Industrie in der Gesellschaft in Frage stellt. Und dieses Schicksal würde ganz Europa mit uns theilen, denn es ist unbestreitbar, daß Institutionen, die gegen den Geist einer Nation derselben gewaltsam aufgezwungen sind - gleichviel was ihre Natur - nicht dauerhaft sind."

Karl Marx und Friedrich Engels übrigens hatten schon immer was gegen Ludwig Simon, was sich in hämischen Kommentaren über diesen zeigte – über die der Wurm lieber den Mantel des Schweigens breitet.

 

Internationales Recht

 

„… Die Nähe zu Genf, dem Sitz der internationalen Friedens- und Freiheitsliga erleichterte Simon seine Mitarbeit: Auf dem Kongress der Liga im September 1871, also nach der Gründung des Deutschen Reiches und der Krönung des einstigen Kartätschenprinzen zum Kaiser hielt er eine lange Rede, die als Bericht über die Frage des internationalen Rechts gedacht war. Dabei thematisierte er auch die im Zuge der Reichsgründung erfolgte Annektion Elsass-Lothringens.

Für das internationale Recht forderte er den Gehorsam vor dem bei Volksabstimmungen gefällten Mehrheitsbeschluss, Waffenerhebung gegen die Mehrheit (also auch Revolution) ist nur zulässig, wenn die Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz beeinträchtigt werden. Die soziale Frage und die Aufrechterhaltung bzw. Einführung der Republik müssen im modernen Rechtsstaat Priorität genießen. Durch allgemeine Teilnahme am politischen Leben, förderatives System und Dezentralisation soll die Grundlage für Wohlergehen des Volkes und Solidität des Staates geschaffen werden. Auf internationaler Ebene ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker wichtigste Regel, es soll über der Nationalität stehen. Moral ist absolut, d. h. es gibt keine gesonderte Moral der Kaiser und Könige, sondern nur eine für alle Menschen verpflichtende. Sich gegen einen Angreifer zu verteidigen ist nur solange legitim, wie dieser noch in der Lage sei, sich seinerseits zu verteidigen, die Annektion Elsass-Lothringens unter dem Vorwand der Sicherheit sei nichts anderes als eine Eroberung: „Das Selbstbestimmungsrecht ihrer Bevölkerung, aufgehoben durch die Gewalt, tritt nach Verschwinden dieser Gewalt sofort wieder in Kraft."

Den deutsch-französischen Krieg bedauerte Simon, der sich ja mit beiden Nationen verbunden fühlen konnte, durchaus, er vermied es aber, der Bevölkerung der beiden Länder die Schuld daran zu geben: „Deutschland war ebenso wenig Herr seiner Geschicke wie Frankreich. Beide waren darauf reduziert, zu den durch ihre Regierungen bereits vollbrachten Taten oder Beschlüssen das Nachwort zu sprechen. Um zur Vermeidung von Ungerechtigkeiten fähig zu sein, dazu muss man das Selbstbestimmungsrecht und das Vorwort zu seinen Angelegenheiten haben, wie die Schweiz, USA, England, Belgien und andere wahrhaft konstitutionellen Länder: Si vis Pacem, para libertatem."

Die Angliederung Elsass-Lothringens bedeutete für Simon auch eine Gefahr für Deutschland, denn Frankreich könne versuchen, sich die betreffenden Gebiete gewaltsam zurückzuerobern, andererseits aber dürfe Frankreich auch nicht glauben, ein ewiges Recht auf Elsass-Lothringen zu haben: „Ich halte mich fest an das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerungen. Daraus folgt, daß wenn Deutschland es gelingt, die Sympathien für sich zu gewinnen, dieselben endgültig für Frankreich verloren sein werden. Es ist traurig dies zu sagen, weil Elsass und Lothringen, wenn man sie zur Stunde befragte, sich unzweifelhaft Frankreich anschließen würden. Wenn sich das in 5 bis 10 bis 20 Jahren nicht mehr so verhält, so wird das für Frankreich die historische Busse für einen leichtfertig begonnen Krieg sein."

 

Für die Menschheit

 

„Wichtig ist auch Christian Jansens Charakterisierung Ludwig Simons als Kosmopolit, der seinen Weg gegen den nationalistischen Zeitgeist ging, einen Zeitgeist, der schließlich zu den bekannten Ereignissen des 20. Jahrhunderts führte. Als Ludwig Bamberger ihm geschrieben hatte, dass das Vaterland keine andere Götter neben sich dulde, erteilte Simon ihm eine deutliche Abfuhr: „Ich habe noch einen drüber, die Menschheit. Warum sollte sonst nicht die Commune, die Provinz, der Einzelstaat ebenfalls sagen: Du sollst keinen Gott neben mir haben!" Ruft man sich dazu seine Überzeugung ins Gedächtnis, dass Freiheit das höchste Gut sei, aus dem alle anderen Vorzüge entstehen, dann ist sicher ein positives Fazit seines Lebens gezogen.“

 

Heutiges Gedenken

 

Der Wurm möchte noch mal die Worte von Bernt Engelmann aus dem Jahr 1974 wiederholen:

„Friedrich Engels, der mit seinem Bataillon in die Schweiz hatte entkommen können, schrieb: „Das deutsche Volk ... wird die großen Herren nicht vergessen, die diese Infamien befohlen haben, aber auch nicht die Verräter, die sie durch ihre Feigheit verschuldeten: die Brentanos von Karlsruhe und Frankfurt ...“ Doch er irrte sich: Das offizielle Deutschland, vom Bismarck-Reich bis zur heutigen Bundesrepublik, bewahrte den Männern der Paulskirche in Reden und Schulbuchtexten ein ehrenvolles Andenken; die Helden des pfälzisch-badischen Volkskampfes aber sind nahezu vergessen. Und der infamste und brutalste der großen Herren, der „Kartätschen-Prinz“ Wilhelm von Preußen, der zudem ein ungebildeter und engstirniger Gamaschenkopf war, wurde nicht nur Deutschlands erstes Staatsoberhaupt und vielbejubelter „Heldenkaiser“; er reitet noch heute, in Bronze gegossen, auf vielen hundert Denkmälern, die seine Untertanen ihm errichtet haben, und es gibt kaum eine westdeutsche Stadt, in der nicht ein Straßenname an ihn, den „Kartätschenprinzen“ Wilhelm, erinnert.“

Der Wurm gibt 4 Beispiele über den heutzutagigen Umgang mit der Revolution von 1848/49, Demokratie und Freiheit:

 

Koblenz

 

Aus „Wikipedia“: „Das Deutsche Eck ist eine künstlich aufgeschüttete Landzunge in Koblenz an der Mündung der Mosel in den Rhein. Im Jahr 1897 wurde hier ein monumentales Reiterstandbild des ersten Deutschen Kaisers Wilhelm I. errichtet, das als Denkmal für die Deutsche Reichsgründung 1871 konzipiert war. Das von der Rheinprovinz in Auftrag gegebene Kaiser-Wilhelm-Denkmal stand in der Tradition vieler zwischen 1888 und 1918 im deutschsprachigen Raum errichteter Denkmäler.

Der Sockel des im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigten Standbildes diente von 1953 bis 1990 als Mahnmal der Deutschen Einheit. Eine Nachbildung der Skulpturengruppe wurde 1993 nach vorausgegangenen kontroversen Diskussionen wieder auf dem Sockel angebracht …

Der ehemalige Verleger der Rhein-Zeitung, Werner Theisen, verpflichtete sich zusammen mit seiner Ehefrau Anneliese bereits am 14. November 1987, die Rekonstruktion des zerstörten Reiterstandbildes zu finanzieren und der Stadt Koblenz zu schenken. Dazu gründete er die Bürgerinitiative Deutsches Eck e. V. Das Land Rheinland-Pfalz als Eigentümer des Deutschen Ecks lehnte das Geschenk am 29. Januar 1988 mit dem Hinweis darauf ab, dass es weiterhin ein „Mahnmal der Deutschen Einheit“ bleiben müsse. Eine von Theisen im März 1988 in Auftrag gegebene Meinungsumfrage unter den Koblenzer Bürgern ergab, dass 80 % einer Rekonstruktion des Denkmals zustimmten …

Das Vorhaben wurde in Koblenz und darüber hinaus kontrovers diskutiert. Während die Befürworter positive Auswirkungen auf das Stadtbild von Koblenz und den örtlichen Tourismus ins Treffen führten und auch drauf verwiesen, dass der leere Sockel alleine keinen Sinngehalt mehr habe, bemängelten die Kritiker den unzeitgemäßen Kaiserkult und die Rolle Wilhelms als Anheizer („Kartätschen­prinz“) beim blutigen Verlauf der Märzerhebungen 1848 in Preußen und als Oberbefehlshaber bei der Niederschlagung der erfolgreichen Revolution in Baden und in der Pfalz …

Die Einweihung des wiederhergestellten Denkmals fand am 25. September 1993 statt. Diese konnte der Stifter Werner Theisen aber nicht mehr erleben, da er bereits am 5. Mai 1993 verstorben war. Seit der Wiederherstellung des Deutschen Ecks gehört das Denkmal wieder zur ersten Sehenswürdigkeit der Stadt Koblenz für Touristen. Die Kritik an der Wiederherstellung des Denkmals ist in der Öffentlichkeit kein Thema mehr, auch nicht im Hinblick auf die Person Wilhelms I.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsches_Eck

 

Rastatt

 

Aus „Wikipedia“: „Heinemann, der sich als „Bürgerpräsident“ verstand, engagierte sich für sozial Ausgegrenzte und trat für das freiheitliche und demokratische Erbe der deutschen Geschichte ein. Dazu gründete er kurz vor Ende seiner Amtszeit 1974 die Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte …

Gustav Walter Heinemann war das erste von drei Kindern von Otto Heinemann, der damals Prokurist bei der Friedrich Krupp AG in Essen war. Er erhielt seine beiden Vornamen nach seinem Großvater mütterlicherseits, einem Dachdeckermeister in Barmen. Dieser war – wie auch Heinemanns Vater – radikaldemokratisch, linksliberal und patriotisch eingestellt und gehörte keiner Kirche an. Dessen Vater, Heinemanns Urgroßvater, hatte sich 1848 an der Märzrevolution beteiligt. Gustav Walter brachte seinem Enkel schon als Kind das Heckerlied bei …

Heinemann fühlte sich schon früh der Überwindung des deutschen Untertanengeistes durch Bewahrung und Weiterentwicklung der freiheitlich-demokratischen Traditionen von 1848 verpflichtet, die ihm später geistige Unabhängigkeit gegenüber Kirchen- und Parteimehrheiten ermöglichten …

Heinemann setzte sich für die Gründung der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte in Rastatt ein und eröffnete sie am 26. Juni 1974. Sein Engagement für Rastatt als Ort der Erinnerungsstätte hatte auch einen persönlichen Hintergrund: Carl Walter, ein Bruder seines Urgroßvaters, hatte als Barrikadenkämpfer im Rahmen der Reichsverfassungskampagne am Maiaufstand 1849 in Elberfeld teilgenommen und schloss sich danach den badischen Revolutionären an. Nach der endgültigen Niederschlagung der Revolution von 1848/49 starb er als Gefangener in den Kasematten der Festung Rastatt.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_Heinemann

 

Waghäusel

 

Hans-Joachim Of: „Im Jahre 1999 und zum 150. Jahrestag der Kämpfe bei Waghäusel und Wiesental konnte in unmittelbarer Nähe der Eremitage auf dem Gelände der früheren Zuckerfabrik ein von der Waghäuseler Bürgerschaft gestiftetes und vom Speyerer Künstler Franz W. Müller-Steinfurth errichtetes Freiheitsdenkmal als bleibende Erinnerung der Öffentlichkeit übergeben werden. Das bronzene Denkmal hat eine Höhe von über drei Metern und zeigt zwei Freischärler. Sie repräsentieren die Freiheitsbewegung von 1848/49. Die linke Figur steht aufrecht mit einer zur Waffe umgeschmiedeten Sense in der Hand.

Als typische Waffe der Freischärler ist sie, ebenso wie der Heckerhut, auf dem Sockel und dem Kopf der zweiten Figur ein Symbol der Revolution. In vorwärtsdrängender Geste zeugt die Gestalt vom unbeugsamen Willen, trotz der Niederlage weiter für die Sache der Republik einzutreten. Der kniende Kämpfer steht für die augenblickliche Situation der Niederlage und Unterwerfung gegenüber der alten Obrigkeit. Der vor den beiden Figuren stehende Adler mit einem gebrochenen Flügel symbolisiert zum einen das Scheitern der Revolution, zum anderen jedoch den ungebrochenen Willen zur Freiheit. "Ein weiteres, wesentliches Gestaltungsmerkmal ist die schwarz-rot-goldene Fahne der Revolutionäre. Sie umhüllt wehend die beiden Kämpfer und zeugt mit ihrem prallen, kräftigen Wurf von den - trotz der Niederlage weiterlebenden und am Ende siegreichen - Idealen von Einigkeit und Recht und Freiheit für Deutschland", berichtet Artur J. Hofmann.

Die Inschrift beginnt mit den Worten: "Den Wegbereitern der Demokratie". Dies soll deutlich machen, dass dieses Denkmal nicht nur an die örtlichen Ereignisse, nämlich die Schlacht von Waghäusel am 21. Juni 1849 und das Gefecht am Tag darauf bei Wiesental, erinnern soll. "Das Denkmal soll als Dank und Erinnerung an den Einsatz vieler Männer und Frauen für Freiheit und Menschenrechte in der badischen Revolution eine überörtliche Bedeutung haben", führt Hofmann weiter aus.“

https://www.rnz.de/nachrichten/wiesloch_artikel,-Wiesloch-Das-Freiheitsdenkmal-in-Waghaeusel-erinnert-an-1849-_arid,249645.html

Die wackeren Menschen des Heimatvereins Wiesental (Ortsteil von Waghäusel) haben dankenswerterweise gegenüber einem anti-revolutionären Denkmal einen relativierenden Gedenkstein aufgestellt: „Am zweiten Jahrestag des Gefechts wurde für die sechs gefallenen Husaren ein monumentales Denkmal errichtet, an dessen Einweihung am 20.6.1851 auch der spätere Reichskanzler Otto von Bismarck teilnahm.

Ein Gedenkstein für die badischen Freischärler wurde erst 152 Jahre nach dem Gefecht durch den Heimatverein Wiesental gegenüber dem Husarendenkmal im "Wiesentaler Park" aufgestellt. Die darauf angebrachte Tafel trägt neben der Abbildung eines "Heckerhutes" folgende Inschrift:

"In dankbarer Erinnerung an die Freiheitskämpfer, die während der badischen Revolution im Gefecht bei Wiesental am 20. und 21. Juni 1849 für Einigkeit und Recht und Freiheit ihr Leben eingesetzt haben."

https://www.museum-wiesental.de/museum-im-alten-rathaus/ortsgeschichte/badische-revolution/

Nicht verschwiegen werden soll, dass 1989 in Waghäusel wg. 40 Jahre deutsches Grundgesetz eine „Verfassungssäule“ erstellt wurde, zu der der damalige Bundespräsident Roman Herzog die Festrede hielt. Dies und weitere Informationen zum damaligen Gefecht sind nachzulesen im „Gedenkblatt aus Anlaß der Errichtung des Freiheitsdenkmals in Waghäusel zum 150. Jahrestag der Kämpfe bei Waghäusel und Wiesental“: https://rolandliebl.files.wordpress.com/2015/04/2015_04_27_scan-flyer.pdf

 

Trier

 

Trier ist eine Stadt, die gerne Ausstellungen, auch größere, ausrichtet, worüber der Wurm auch schon berichtet hatte: http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/247-2000-jahre-verleumdung.html und http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/329-der-erloeser.html

Für Ludwig Simon und die Revolution von 1848/49 hat‘s noch nicht mal zu einer kleinen Ausstellung gereicht.

Trier ist beschämend – dem Wurm ist nicht bekannt, dass zum 200jährigen Geburtstag von Ludwig Simon von der Stadt auch nur irgend etwas unternommen wurde.

 

Fazit

 

Wie schon eingangs erwähnt, ist Ludwig Simon die Person, die für die Ideologie des heutigen Deutschlands steht wie kaum ein anderer. Der Umgang mit seinem Gedenken wie überhaupt zur Revolution von 1848/49 lässt folgende Rückschlüsse zu:

Die offizielle Politik interessiert sich nicht bzw. nicht mehr für ihre Ideale – für welche Ideale soll sie denn eintreten, wenn sie diese noch nicht mal kennt?

Der Großteil der Bevölkerung scheint überhaupt keine Ideale zu haben. Im Gegenteil: die eigenen Schlächter werden noch gefeiert wie die Vorgänge in Koblenz zeigen. Selbst die Touristen (die ja auch größtenteils „einfache“ Bevölkerung sind) erfreuen sich am Anblick desjenigen, der ihre Vorfahren hat töten lassen.

Lediglich engagierte Einzelpersonen wie Gustav Heinemann oder die tapferen Mitglieder der Waghäuseler Heimatvereine können kleine, aber wertvolle Taten leisten.

In allem.

 

 

Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm