Dadaist Oettinger

Und der Gott der Dadaisten sah, wie ernst und freudlos die Menschheit geworden war. Damit die Menschen wieder etwas mehr Freude am Leben bekämen, hat er daher seinen eingeborenen Sohn auf die Erde gesandt: Günther Oettinger.

Ab und zu lässt dieser Günther Oettinger mal einen vom Stapel. Letzte Woche war es wieder so weit:

„Vor 200 geladenen Gästen hielt Oettinger ganz offen und ohne Skript seine Rede im Rahmen des 27. "EuropAbend" des AGA Unternehmensverbands in Hamburg. Der Verleger Sebastian Marquardt nahm Teile von Oettingers Auftritt mit seinem Smartphone auf und veröffentlichte diese auf Youtube …

Das Video beginnt mit einem Vermerk. Laut Marquardt habe Oettinger von "Schlitzohren und Schlitzaugen" gesprochen. Das habe ihn veranlasst, weitere Teile der Rede zu filmen.“

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/guenther-oettinger-angst-vor-pflichthomo-ehe-a-1118826.html

Günther Oettinger geht es um Europas Zukunft. Ihn stört etwa, dass zumindest zeitweilig eine europäische Region ein von der EU und den europäischen Staaten beschlossenes Gesetzeswerk blockieren kann. In diesem Zusammenhang kommt die einheitlich auftretende chinesische Delegation ins Spiel.

Auch stört ihn, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in Deutschland gehemmt wird. Dabei führt er unter anderem die Stromtrassen an, die weil unterirdisch verlegt, 7x mehr kosten und damit auch der Strompreis teurer wird.

Anstatt darüber zu diskutieren, wie die Wirtschaft gestärkt wird (also Geld verdient wird), führt er Beispiele der deutschen Tagesordnung an, die alle mit seiner Meinung nach zu hohen Sozialausgaben (und deren Finanzierbarkeit) zu tun haben. Daneben gäbe es noch aufgebauschte Randthemen wie Maut und Homoehe, die für ihn nicht wichtig sind.

Das erste Gebot für einen Redner lautet: Du sollst deine Zuhörer nicht langweilen. Dies hat Günther Oettinger in vorbildlicher Weise geschafft.

Frei von der Leber weg – die Rede ist frei gehalten und damit die Zuhörer sich nicht langweilen, würzt Günther Oettinger sie mit humoristischen Einlagen. Da wird aus der Homoehe die „Pflicht-Homoehe“, aus Horst Seehofer wird ein „Populist light“ und die Passagen mit Gerhard Schröder und den Chinesen lassen sich so erklären.

Zum besseren Verständnis ließe sich noch erklären, dass der Ausdruck „Schlitzohren“ im süddeutschen (anders als im norddeutschen) Raum zwar neckisch, aber durchaus positiv gemeint ist. Keineswegs negativ.

Hier die Höhepunkte der Rede, um die es geht und die mit ca. 3 Minuten auf YouTube zu sehen ist:

„Es geht, meine Damen und Herren, um Governance, um die Frage der Regierungskunst, um die Frage, ob man handlungsfähig ist. Letzte Woche waren die chinesischen Minister bei uns. Zum Jahresgipfel China – EU. Neun Männer, eine Partei. Keine Demokratie, keine Frauenquote, keine Frau folgerichtig. Alle Anzug Einreiher dunkelblau, alle Haare von links nach rechts mit schwarzer Schuhcreme gekämmt. Und wir? Wir haben bald mehr Gremien als Einwohner …

… so wie Gerhard Schröder jetzt Tengelmann und Kaiser retten soll. Er hat ja auch Zeit: North Stream 2 wird nicht gebaut, und Frau ist weg …

Ihnen und mir geht’s derzeit zu gut; und wem es zu gut geht, der hat Flausen im Kopf, der führt eine Rente mit 63 ein, schafft die Mütterrente, die bald noch verdoppelt wird. Wenn die Verdoppelung, die Seehofer, ein Populist light, fordert – und er fordert sie -, kommen soll, dann sagt Nahles „dann wird die Rente mit 62 eingeführt“. In der Mathematik gilt: minus mal minus gibt plus, aber in der Rentenkasse ist minus plus minus Doppelminus. Und das ist das Gegenteil …

Und wenn dann noch die Rente mit 61 kommt und dann die Rente mit 60 kommt, würde ich meinem Sohn empfehlen „Mache nicht G8 oder G9, mach‘ G15, danach ein langes Studium – und wutsch in der Rente ohne einen Tag in der Arbeitslosigkeit …

Die deutsche Tagesordnung mit Mütterrente, Mindestrente, Rente mit 63, Betreuungsgeld, der komischen Maut, die aber nicht kommen wird, bald noch mit der Pflicht-Homoehe, wenn sie eingeführt wird - die deutsche Tagesordnung genügt meiner Erwartung in deutsche Verantwortung in keiner Form.“

 

 

Dankenswerterweise hat Sebastian Marquardt die komplette Rede ins Netz gestellt (zumindest den Teil, seitdem er sie aufgenommen hat).

Und hier wird so richtig deutlich, was Günther Oettinger inhaltlich zu sagen hat, aber auch der dadaistische Charakter seiner Rede: Er haut bei aller ernsthaften Thematik einen Gag nach dem andern raus und schreckt auch vor Selbstironie nicht zurück (bei der Passage mit seinem Sohn).

Vor allem wird deutlich, dass die Kurzversion völlig willkürlich zusammengestellt ist.

Hier die weiteren Sprüche, die Günther Oettinger vom Stapel gelassen hat:

„… und es können 0,7% der europäischen Wähler, vertreten durch diese Regierung blockieren. Hat das irgend was mit Demokratie zu tun? Nein … denn sonst kommt irgend wann … der Kirchengemeinderat von Biberach auf die Idee, dass er zustimmungs-berechtigt werden kann …

… bald haben wir mehr Stromnetz-Eigentümer als Strom-Verbraucher in Deutschland …

… und da der Krabben-Fischer die Krabben ohne Strom pult oder sie in Italien pulen lässt (Zwischenrufe aus dem Publikum: „Marokko!“) …

Ich schau gerne ZDF. Mein Sohn, 18 Jahre alt, freiwillig nie. Den muss ich, wenn wir ein Hotelzimmer gemeinsam beziehen, auf dem Sofa anschnallen und festbinden; die Fernbedienung weit weg, dass … diese schwachsinnigen Koch-Sendungen eine halbe Stunde … Der schaut ZDF nur dann, wenn dort … ein Fußball-Länderspiel kommt oder wenn dort Freitag nacht der Alte verarscht wird …

Meine Mutter ist 91 Jahre alt, die geht gern zur Bank. Die hat drei Konten, ist halbwegs vermögend, noch gesund, hebt immer nur auf der Bank 150 Euro ab, damit sie oft wieder kommen darf. Was für die Vorfahren die Parkbank war, war für Mama die Volksbank: ein Ort sozialer Wärme und Kommunikation. Aber mein Sohn macht Kommunikation via Facebook – online - und nicht auf der Parkbank und nicht auf der Volksbank …

Deswegen schließen deutsche Banken die Filialen ungeordnet, die Commerzbank geordnet, HVB ist schon weg und die Sparkassen in Holstein schließen die Filialen überall dort, wo der Bürgermeister nicht im Kreistag sitzt; dort, wo er drin sitzt, bleibt die Filiale offen, bis der in Ruhestand geht – der Nachfolger … runter, Filiale ist zu …

Ich bin vor ein paar Wochen mal von Hamburg nach Stuttgart gefahren. Nur Autobahn. Mein Büro in Brüssel hat mir 10 Telefon-Partner zum Gespräch vermittelt. Ich hatte 10 auf der Liste; ich habe am Ende 28 Gespräche, aber nur mit 6 der 10 geführt. Die Funklöcher haben sich seit Jahrzehnten bewährt. Und wir sollten wissen, dass die digitale Infrastruktur die wichtigste wird … Und deswegen kann ich für den ländlichen Raum nur sagen: lieber Schlaglöcher als Funklöcher akzeptieren …

Nationale Gebietsgrenzen stammen von Napoleon und dem Wiener Kongress danach; vom Krieg gegen die Dänen, vom Krieg gegen Napoleon III, vom 1. Weltkrieg und der Zeit danach. Von Jalta und Potsdam nach dem 2. Weltkrieg. Aber Napoleon hat … von digitaler Kommunikation nichts gewusst. Damals gab’s die Buschtrommel und die Brieftaube und deswegen Waterloo …

Europa kann der Dritte im Bunde sein – aber nur Europa. Denn Deutschland, bei allem Respekt, ist bald noch 1% der Weltbevölkerung. Heben Sie 1% der Aktien der SAP, wären Sie eine reiche Frau oder ein reicher Mann, bekämen einmal im Jahr die Einladung vom Plattner zur Hauptversammlung, den Bericht des Vorstands-Vorsitzenden wenn’s gut geht – und es geht gut, danach Würstchen, Brot, Senf und Bier. Ende der Veranstaltung. Für einen Sitz im Aufsichtsrat reicht 1% der Aktien nicht. Da braucht man 5% und mehr, Europa hat noch 7% der Weltbevölkerung. Das ist wie in der Politik, das weiss der Wähler und die FDP …

… aus unseren Böden kommt Zuckerrüben, Weizen und Trollinger raus … aus deren Böden kommt Eisenerz, Gold, Gas und Öl heraus.“

 

 

Die Politische Korrektheit der Gutmenschen

 

Günther Oettinger war in seiner Rede sehr salopp und ob seiner politischen Inhalte kann mensch durchaus anderer Meinung sein.

Aber vor Wut zu schäumen und ihn lauthals als „Rassisten“, Frauen- und Schwulenfeind zu bezeichnen und seinen Rücktritt zu fordern, ist dem Wurm dann doch etwas übertrieben.

Als Text zu seinem YouTube-Video schreibt Sebastian Marquardt unter anderem:

“And his speech turned partly in to a racistic, homophobic and sexist piece of political polemic …

I am ashamed by this German representative in the EU commission. When he left I took the chance to thank him for this refreshing piece of racism. He didn't understand what I meant. He doesn't even know that he is saying offensive things …

After this evening I had the impression that Günther Oettinger is an inhuman asshole. Much worse though was the reaction of the people. Few stood up against the mean stupidities Oettinger said and way to many agreed with him. This is not the world I wanna live in. I want my kids to become people that show respect and decency to everybody. Much more than this failure of an EU commissioner.“

Auf Deutsch: den Vorwurf, Rassist zu sein, hat Günther Oettinger nicht verstanden (was wiederum der Wurm verstehen kann – die Passage mit den Chinesen war zwar salopp, aber 1. nicht bösartig und 2. ging es bei diesem Teil eben nicht um die Chinesen, sondern um Europa). Sebastian Marquardt schämt sich für ihn und hält ihn für ein inhumanes Arschloch.

Da fragt sich der Wurm: warum? Auch wenn er mit dessen Rede nicht einverstanden ist und nicht verstehen will, worum es Günther Oettinger überhaupt geht – ihn deshalb als „inhumanes Arschloch“ zu bezeichnen, zeigt sehr deutlich, wie sehr politisch korrekt die politisch Korrekten sind. Wehe denjenigen, die nicht auf ihrer Seite des Gesinnungs-Terrors sind. Dann ist sehr schnell Schluss mit politischer Korrektheit. Dann zeigen sich wahre Intoleranz und Hetze.

Worüber und wie sich eine Gruppe von Menschen aufregt (hier in erster Linie das Gutmenschen-Milieu) – und vor allem, worüber sie sich nicht aufregt, zeigt, mit wem es mensch zu tun hat. Ein anderer hätte gesagt „An ihren Früchten sollt Ihr sie erkennen“.

Aus einem früheren Beitrag des Wurms:

„„Normale“ Menschen gibt es mehr als genug. Da sollte es kein Schaden sein, wenn es auch solche gibt, die etwas abseits der Norm sind (und die niemandem schaden). Und in der Tat haben eher ungewöhnliche Charaktere gute Chancen im kulturellen oder sportlichen Bereich. Und sogar in der Religion werden solche nicht selten angebetet.

Wehe, wenn so jemand aber im Alltag auftaucht. Menschen sind Gruppenwesen und nur wenige dulden ein „Anderssein“, auch wenn es ihnen überhaupt nicht schadet. Mensch hat sich angepasst zu verhalten, ansonsten ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass er Probleme bekommen wird.“

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/36-steinbrueck-und-der-typus-typ.html

Hier der Anfang eines Beitrages über die Gutmenschen. Der gesamte Beitrag ist heute noch aktuell und lesenswert:

„Dies ist ein merkwürdiges Land: einerseits ist den meisten alles egal, was nicht sie selbst betrifft; andererseits regen sie sich über Leute auf, denen nicht alles egal ist und die Missstände klar beim Namen nennen oder Themen satirisch überspitzen.

Gerade in den letzten Wochen war dies wieder deutlich zu sehen.

Meinungs- oder Pressefreiheit gilt nur für diejenigen, die festlegen, was politisch korrekt zu sein hat. Wehe dem, wer da nicht mitmacht.“

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/189-ein-gutmensch-ist-ein-schlechter-mensch.html

 

Oettinger und die Folgen

 

Es stellt sich die Frage der Verhältnismäßigkeit: wenn Günther Oettingers Rede von Sebastian Marquardt und anderen zumindest in Teilen als rassistisch, homophob und sexistisch bezeichnet wird – wg. nichts und wieder nichts -, dann ist das jegliche Entwertung von tatsächlich in diese Richtung gehenden Sprüchen: wenn richtig knallharter Rassismus, Homophobie und Sexismus daher kommen und denen genauso entgegen getreten wird wie Günther Oettingers Rede – dann kann das in den Augen vieler ja nicht so schlimm sein.

 

Wenn schon viel Lärm um nichts gemacht wird und der gleiche Lärm bei weitaus mehr – dann hat dieser Lärm schon keine Bedeutung mehr.

 

Wenn schon diese harmlosen Sachen, die Günther Oettinger gesagt hat, reichen, aufs Übelste beschimpft zu werden (ohne, dass nennenswerte Verteidigung gekommen wäre), heisst das, dass er zukünftig weitaus vorsichtiger in der Öffentlichkeit agieren wird.

Und dass andere aus Furcht, von den Gesinnungs-Terroristen ins Visier genommen zu werden, äußerst angepasst agieren werden, braucht nicht zu überraschen. Dann sollte sich aber keiner darüber beschweren, dass es nur noch angepasste und langweilige Menschen, vor allem Politiker, gäbe.

 

Dadaist Oettinger

 

Hier ein paar Sprüche von der Zeit vor seiner jetzt schon legendären Hamburger Rede:

„Wenn Klaus Tappeser nicht Oberbürgermeister geworden wäre, wäre er sicher auch ein glänzender Frauenarzt geworden ­ bei den vielen Verehrerinnen, die hier sind.“

(Am 5. August 2007 in Rottenburg beim 50. Geburtstag des örtlichen Oberbürgermeisters Tappeser (CDU).)

„Ich habe weiterhin die Absicht, in meiner Zeit außerhalb der Kernarbeitszeit gesellig zu bleiben, leutselig und bürgernah.“

(Am 18. Dezember 2007 in Stuttgart befragt zu einer feucht-fröhlichen Feier im Keller der Brüsseler Landesvertretung im Januar 2007 und zu einem Foto, das ihn dabei mit einem Teesieb als Brille zeigt.)

„Ich weiß nur, dass ich mich in der Öffentlichkeit und privat benehmen kann.“

(Am 18. Dezember 2007 in Stuttgart zum selben Thema.)

http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.sprueche-von-guenther-oettinger-von-sitting-in-one-boat-bis-zu-einem-glaenzenden-frauenarzt.ab554d75-8286-4060-aa6d-2a0ad5e52b5d.html

"Aleppo hatte eine Hochkultur, als wir in Stuttgart noch auf Bäumen hockten und grunzten."

"Die Agenda 2010 ist als Waise aufgewachsen. Die SPD verweigert den Vaterschaftstest und die CDU macht peinlich berührt einen Bogen um die Krippe" …

"Ich schaue gerne ZDF, wenn nicht gerade Wahlumfragen zu sehen sind" …

"Wenn die Großeltern keinen Internetanschluss haben, kommt der Enkel nicht mehr zu Besuch" …

"Besuchen Sie einen VHS-Kurs, aber nicht in Bauchtanz, sondern einen Digitalkurs."

"Ich bin mit Winfried Kretschmann befreundet. Er ist konservativer als ich je war und sein werde. Und er macht wenig falsch, weil er wenig macht."

"Ich schätze die Kanzlerin, aber ich bete nicht für sie."

"Der von mir geliebte VfB wird durchschnittlich alle 13 Jahre Deutscher Meister. Rein rechnerisch ist es bald wieder soweit."

http://www.badische-zeitung.de/freiburg/die-besten-sprueche-von-guenther-oettinger-bei-seinem-auftritt-in-freiburg--119275475.html

Und hier ein paar Ausschnitte des Dadaisten Oettinger und wie sich manche über ihn lustig machen:

 

 

 

 

 

 

Die Deutschen galten in weiten Teilen der Welt schon immer als humorlos und verbissen. In den letzten Jahrzehnten hat sich zwar eine gewisse Lockerung eingestellt. Kratzt wurm allerdings unter der Fassade, wird er leider feststellen müssen, dass Humorlosigkeit und Verbissenheit nach wie vor dazu gehören. Das zeigt sich nicht nur im Fall Oettinger, wird hier aber recht gut deutlich. Am deutschen Wesen soll nach wie vor die Welt genesen.

 

Wenn schon ein großer bestimmender Teil der Bevölkerung ausgesprochen humorlos ist, so ist es doch der deutschen Regierung hoch anzurechnen, dass sie großen Humor hat und den Dadaisten Günther Oettinger als höchsten Vertreter des deutschen Volkes in der EU als Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft geschickt hat.