Schuld und Sühne

Gregor S. ist wg. Mordes an Fritz von Weizsäcker verurteilt worden.

Daran bestand nie Zweifel.

Abseits des Mordes stellt sich durch die Tat die Frage, ab wann ein Mensch in Führungs-Position für Fehl-Entwicklungen verantwortlich ist und ab wann er schuldig wird. Und wenn er Schuld trägt, ob er dann noch große moralische Reden halten darf bis dahin, dass er im ganzen Land als eine, wenn nicht die moralische Instanz gilt.

Die Rede ist vom ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker.

 

Vor Gericht

 

Beginn des Prozesses

 

Jennifer Lanzinger: „Die tödliche Messerattacke auf den Berliner Chefarzt Fritz von Weizsäcker schockierte im November 2019, nun legte der Angeklagte ein umfassendes Geständnis ab. Die Aussagen des Angeklagten sorgten für Entsetzen, denn Gregor S. zeigte am Dienstag keinerlei Reue.

Ich habe den Sohn des ehemaligen Bundespräsidenten getötet“, sagte Gregor S. am Dienstag vor dem Berliner Landgericht. Doch damit nicht genug, schockierte der Angeklagte mit seiner fehlenden Reue: „Ich bin froh, dass er tot ist.“ Als Motiv für den Angriff vom 19. November 2019 gab er jahrelangen Hass auf Richard von Weizsäcker an.

Er gab in der Aussage am zweiten Prozesstag zu, die Tat seit längerer Zeit geplant zu haben und dafür eigens aus seiner Heimat in Rheinland-Pfalz nach Berlin gereist zu sein. Dort fuhr er zum Schlossparkklinikum, wo Fritz von Weizsäcker als Chef der Klinik für innere Medizin arbeitete. Die Tat hatte sich in dem Klinikum bei einem Vortrag des Mediziners ereignet.

S. stand nach eigenen Aussagen gegen Ende des Vortrags aus dem Publikum auf und stach mit einem extra dafür gekauften Klappmesser auf von Weizsäcker ein. Von Weizsäcker erlitt dabei eine Luftembolie, an der er kurz danach starb.

Obwohl bei der Tat ein Polizeibeamter eingeschritten war, der privat die Veranstaltung besuchte, konnte der Mediziner nicht gerettet werden. Auf ihn stach der 57-Jährige ebenfalls ein, wie er erläuterte. S. werden wegen dieses zweiten Angriffs nicht nur Mord, sondern auch versuchter Mord und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. S. wurde noch am Tattag festgenommen. "Dass ich für den Rest meines Lebens eingesperrt werde, war mir klar", sagte er am Dienstag.

Er bereue die Tat nicht. „Das war ja mein Lebensinhalt.“ Der 57-Jährige gab an, Richard von Weizsäcker für mitverantwortlich an der Produktion des Entlaubungsmittels Agent Orange zu halten. US-Truppen hatten im Vietnamkrieg Millionen Liter Agent Orange im Süden von Vietnam versprüht. Das Gift wird bis heute für schwere Missbildungen, Krebserkrankungen und Behinderungen bei der vietnamesischen Bevölkerung verantwortlich gemacht.

Der Deutsche bezeichnete sich selbst mehrfach als „traumatisiert“ vom Vietnamkrieg. Sein Trauma habe Anfang der 90er begonnen, nachdem er unter anderem einen Artikel des Magazins Spiegel über das Thema gelesen habe.

Ein zentraler Punkt in dem Prozess ist die Schuldfähigkeit des Manns. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass S. die Tat „im Zustand der erheblich verminderten Schuldfähigkeit“ beging.

S. selbst wies dies bei seiner Aussage am Dienstag jedoch vehement zurück, auch wenn er sich als „Zwangsneurotiker“ bezeichnete und sich ein „schwaches Nervensystem“ bescheinigte. Seine Schuldfähigkeit sei jedoch nicht eingeschränkt. Die Frage soll in der Hauptverhandlung mithilfe eines psychiatrischen Gutachters geklärt werden.“

https://www.merkur.de/welt/berlin-fritz-von-weizsaecker-prozess-taeter-beginn-angeklagter-gestaendnis-reue-polizei-messerattacke-zr-13777042.html

 

Ende des Prozesses

 

Jennifer Lanzinger: „Rund acht Monate nach dem tödlichen Angriff auf den Chefarzt Fritz von Weizsäcker ist der Angeklagte wegen Mordes verurteilt worden. Das Landgericht Berlin verhängte am Mittwoch eine Freiheitsstrafe von zwölf Jahren und ordnete die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Bei dem Urteil wurde eine verminderte Schuldfähigkeit berücksichtigt, sonst wäre bei Mord eine lebenslange Freiheitsstrafe zwingend.

Dass die Tat heimtückisch - ein juristisches Mordmerkmal - war, war eindeutig. Beim Urteil gegen den Mörder des jüngsten Sohns von Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker ging es vor allem um die Frage, ob der Täter schuldfähig oder geistig verwirrt war. Wenn die Schuldunfähigkeit nicht berücksichtigt worden wäre, hätte den Täter eine lebenslange Freiheitsstrafe erhalten.

Darüber hinaus wurde der 57-jährige Angeklagte aus Andernach in Rheinland-Pfalz wegen versuchten Mordes an einem Polizisten verurteilt. Der Beamte war privat im Publikum des Vortrags, währenddessen der Täter Weizsäcker angriff. Bei dem Versuch den Bewaffneten zu stoppen, verletzte der Täter ihn schwer.

Das Gericht entsprach mit dem Urteil weitgehend der Forderung der Staatsanwältin. Sie hatte 14 Jahre Haft und die Unterbringung in der Psychiatrie gefordert. In ihrem Plädoyer sagte sie, der Täter habe den jüngsten Sohn des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker gegen Ende des Vortrags in der Schlosspark-Klinik Berlin heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen erstochen. Es sei eine sinnlose Tat eines psychisch nicht unerheblich gestörten Mannes. Als Motiv sah die Staatsanwältin Hass auf die Familie des Ermordeten, besonders auf den früheren Bundespräsidenten.

Fritz von Weizsäcker (59) war am 19. November 2019 durch einen Messerstich in den Hals getötet worden. Der Angeklagte, zuletzt als Packer in einem Logistikzentrum tätig, hatte die Tat gestanden, aber keine Reue gezeigt. Laut einem psychiatrischen Gutachten war er wegen einer Zwangsstörung in seiner Steuerungsfähigkeit vermindert schuldfähig.

Die beiden Verteidiger sprachen sich für eine Verurteilung wegen Mordes an dem Mediziner aus und verlangten im Fall des Polizisten einen Schuldspruch wegen gefährlicher Körperverletzung. Eine konkrete Freiheitsstrafe beantragten sie nicht. Er sehe allerdings nicht, dass weitere Gefahr von seinem Mandanten ausgeht, so einer der Verteidiger.“

https://www.merkur.de/welt/berlin-fritz-von-weizsaecker-prozess-taeter-beginn-angeklagter-gestaendnis-reue-polizei-messerattacke-zr-13777042.html

 

Agent Orange

 

Aus „Wikipedia“: „Agent Orange ist die militärische Bezeichnung eines chemischen Entlaubungsmittels, das die USA im Vietnamkrieg und im Laotischen Bürgerkrieg großflächig zur Entlaubung von Wäldern und zur Zerstörung von Nutzpflanzen einsetzten. Die US-Streitkräfte setzten es im Januar 1965 erstmals im Rahmen der Operation Ranch Hand ein, um der feindlichen Guerillabewegung FNL („Vietcong“) die Tarnung durch den dichten Dschungel zu erschweren und deren Nahrungsversorgung zu stören. Es wurde von Flugzeugen oder Hubschraubern großflächig versprüht. Da das Herbizid herstellungsbedingt mit 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin (TCDD) verunreinigt war, erkrankten viele hunderttausend Bewohner der betroffenen Gebiete und bis zu zweihunderttausend US-Soldaten.

TCDD ist der giftigste Vertreter der Dioxine. Es wirkt unter anderem fetotoxisch (teratogen), schädigt also das ungeborene Kind im Mutterleib, und ist sehr persistent, das heißt, es verbleibt lange Zeit in der Umwelt. Die andauernde Belastung der vietnamesischen Bevölkerung mit Dioxin wird in Zusammenhang mit dem – bis in die Gegenwart – drastisch erhöhten Auftreten schwerer Fehlbildungen bei Kindern, Krebserkrankungen, Immunschwächen und einer größeren Zahl weiterer Erkrankungen gebracht. 2002 litten nach Schätzungen des Roten Kreuzes etwa eine Million Vietnamesen an gesundheitlichen Schäden durch Spätfolgen von Agent Orange, darunter sind etwa 100.000 Kinder mit angeborenen Fehlbildungen. Während geschädigte ehemalige US-Soldaten nach gerichtlichen Auseinandersetzungen von den damaligen Herstellerfirmen finanziell entschädigt wurden, erhielten vietnamesische Opfer bis heute keine Entschädigung. Eine entsprechende Sammelklage in den USA wurde 2005 abgewiesen, da der Einsatz von Agent Orange „keine chemische Kriegsführung“ und deshalb kein Verstoß gegen internationales Recht gewesen sei.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Agent_Orange

Wem so etwas nahe geht, der wird einen berechtigten Zorn auf die Verantwortlichen an diesem Menschheits-Verbrechen haben.

 

Der Tod aus Ingelheim

 

Der Wurm möchte aus zwei „Spiegel“-Berichten von Cordt Schnibben aus den Jahren 1991 und 1992 zitieren:

Der Tod aus Ingelheim“ https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13487619.html und „Eine unselige Geschichte“ https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13681543.html

 

Produktion in großen Mengen

 

Im Geburtsjahr von Hanh, 1967, plagte die Kommandeure der U. S. Army vor allem eine Sorge: Woher noch mehr 2,4,5-T-Säure nehmen, um noch mehr Landstriche Vietnams entlauben und entvölkern zu können? "Die beste Waffe, die wir haben, aber wir können nicht genug kriegen", heißt es in einem Papier des U. S. Military Assistance Command in Vietnam. Jeder "tactical commander" bewundere die Wirkung dieser Waffe und frage nach größeren Mengen.

Verteidigungsminister Robert Mac-Namara ordnet an, mit den Planungen für den Bau einer eigenen Giftfabrik der Army zu beginnen.

Im April 1967 wird die gesamte jährliche T-Säure-Produktion der USA durch die Militärs beschlagnahmt. Zusätzlich zapft die Army ausländische Quellen an. Da auch das bei weitem nicht reicht, um den Bedarf von inzwischen jährlich 45,2 Millionen Litern zu decken, versucht Dow Chemical, den Strategen der Army Ersatzgifte zu verkaufen.

Das Mittel "Tordon 101", das keine T-Säure enthält, töte zu langsam und sei "weniger zerstörerisch", finden die Pentagon-Tester vom Department für chemische, biologische und nukleare Operationen. Und "Super Orange", das weniger T-Säure braucht als Agent Orange, habe zwar bei Tests in Puerto Rico "wegen seiner langanhaltenden Wirkung überzeugt", müsse aber erst noch in Vietnam ausprobiert werden.

Dow Chemical wendet sich an die Firma Boehringer in Ingelheim, bittet um Hilfe. Die Deutschen schreiben zurück, man sei mit "einer Erweiterung des Abkommens vom 19. März 1965 einverstanden", weise aber darauf hin, daß bereits eine andere US-Firma "die Anfrage nach unserem Know-how für den gleichen Regierungszweck" gestellt habe.

Diese schwierige Gewissensentscheidung läßt man, wie zwischen ehrlichen Geschäftspartnern üblich, das Geld treffen: Dow werde die Hilfe und das Wissen der Deutschen erhalten, "wenn Ihre Vorschläge für eine Abfindung für die zusätzlichen Mengen für die Regierung, vor allem aber für den Fall, wenn diese zusätzlichen Mengen später für Handelszwecke zum Einsatz kommen, annehmbar sind". Auf deutsch: Für die zusätzlichen Kriegsmengen wollen wir einen Aufschlag, und wenn die nicht in Vietnam versprüht werden, wollen wir einen Auf-Aufschlag.

Zufrieden heißt es zwei Wochen später in einem hausinternen Bericht an den Produktionschef: "Solange der Vietnamkrieg andauert, sind keine Absatzschwierigkeiten zu erwarten."

Nach dem Krieg wird Boehringer erklären, man habe nicht zur Entlaubungsaktion in Vietnam beigetragen. "Wir sind nicht für die Entscheidungen der amerikanischen Armee verantwortlich." Niemand könne eine Aussage darüber machen, wird der Leiter des Hamburger Werkes versichern, "wohin Produkte gelangen, die im Weltmarkt vertrieben werden". Boehringer dürfe ruhigen Gewissens behaupten, "die U. S. Army in Vietnam zu keinem Zeitpunkt auf direktem Wege beliefert zu haben". Diese Gewissenhaftigkeit haben deutsche Unternehmer immer wieder, zuletzt im Nahen Osten, bewiesen.“

 

Großversuch

 

Bis zum Ende dieses zweiten großen Chemiewaffen-Einsatzes der Geschichte sind 91 Millionen Kilogramm Herbizide versprüht. Eine Fläche von der Größe Israels war verseucht und blieb es. In den stärker besprühten Landstrichen, wie etwa in Co Thi Rens Provinz, waren auf jeden Einwohner 15,9 Liter dioxinhaltige Säure gefallen …

Was für die Generäle nichts weiter war als die kostengünstige Desinfektion einer Nation, erweist sich für die internationale Chemie als aufschlußreicher Großversuch. 10 Millionen Menschen auf 2,2 Millionen Hektar mit 15 verschiedenen Herbizid-Cocktails zu besprühen, das bringt viele neue Erkenntnisse.“

 

Eigenes Personal

 

Während des Krieges in Vietnam, als immer mehr Kessel bei Boehringer dampfen, als alle Produktionsrekorde purzeln, als Tausende Tonnen Tetra-, Tri- und T-Säure auf dem vollkommen unübersichtlichen Weltmarkt zwischen Saigon und Hanoi versickern, möchte einer von Boehringers Direktoren "die derzeitige günstige Verkaufssituation ausgenutzt" sehen, "um die Qualitätsforderungen aufzulockern".

Harri Garbrecht, 54, kann sich erinnern, daß "die Amerikaner" sich dennoch beschwerten über die Qualität der neuen Ware. "Wenn in der T-Säure zuviel Dioxin drin war, wurde es einfach der Produktion wieder zugeführt, also quasi verdünnt, da wurde nichts weggeworfen."

In Garbrechts Abteilung, aber auch in der Tetra-Station und der thermischen Zersetzung fliegt wegen des Booms noch mehr Dioxin-Staub durch die Hallen. Manchem Arbeiter reichen die zwei Kopfschmerztabletten pro Schicht nicht mehr, die sich jeder beim Pförtner abholen darf. Kollegen aus kopfschmerzfreien Abteilungen werden vorgeschickt und tauschen ihre Pillen anschließend gegen Bier.

Von "erheblichen gewerbehygienischen Belästigungen" berichtet der Produktionsleiter dem Vorstand in Ingelheim. "Die Belastung für die Belegschaft" sei "so unhaltbar geworden", daß "ein Neubauprojekt im wesentlichen mit dem Ziel einer hygienisch vertretbaren Arbeitsweise" nötig sei. Das wird "wegen der Höhe seiner Investitionskosten" abgelehnt …

Die in der Bundesrepublik einzigartige Studie, die im Herbst vom Hamburger Senat veröffentlicht wird, zeigt, daß Arbeiter, die 20 Jahre bei Boehringer beschäftigt waren, doppelt so häufig an Krebs erkranken wie andere Deutsche. Besonders diejenigen, die in Harri Garbrechts T-Säure-Abteilung den hohen Dioxin-Mengen ausgesetzt waren, zeigen eine "deutliche Übersterblichkeit" von 240 Prozent.

Die Selbstmordrate ist um 62 Prozent überhöht.

Da Dioxin etwa 20 Jahre braucht, um im Körper Krebs wuchern zu lassen, gibt die Studie zu bedenken, daß für die "jüngeren" Boehringer-Jahrgänge erst "im Verlaufe der nächsten Jahre mit einem weiteren Ansteigen der Krebshäufigkeit zu rechnen" sei. Manz und seine Mitarbeiter erforschen nach den toten nun die lebenden 1200 Boehringer-Arbeiter. Leberschäden, Bronchitis, Herzinfarkt, Hirnschrumpfung, Depression - die Liste der Leiden verspricht kein schnelles Ende.

Erbschäden stehen auch auf dieser Liste, verdächtige Zufälle wie die unheilbare Darmerkrankung, die Garbrechts Tochter 1964 mit auf die Welt brachte.“

 

Vergangenheits-Bewältigung

 

Jahrzehnte später, nach starkem medialem Druck:

Die Notiz, die ein gewisser Dr. Walter Graubner am 15. Oktober 1956 dem Vorstand des Unternehmens zukommen ließ, bei dem er als medizinischer Leiter beschäftigt war, ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Von "Giftstoffen" berichtete Graubner, deren Eigenschaften "einzigartig" seien - "schwerste Zerstörbarkeit und unmerkliche Vergiftung durch Einatmung". Es handele sich um Stoffe, "nach denen sich die Politiker schon seit Jahrzehnten gesehnt haben".

36 Jahre lang hielt das Chemieunternehmen Boehringer die Notiz unter Verschluß. Nun veröffentlichte der Ingelheimer Konzern diese und andere Details der Entdeckungsgeschichte jenes Giftes, das durch den Unfall von Seveso als "Dioxin" weltberühmt wurde.

"Vor allem die zweiteilige SPIEGEL-Serie ,Der Tod aus Ingelheim'" (SPIEGEL 31 und 32/ 1991) habe zur monatelangen Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit geführt, heißt es in der jetzt veröffentlichten Broschüre "Unsere Dioxin-Geschichte". Und: "Wir wurden oft genug überrascht von dem, worauf wir stießen. Es darf also nicht verwundern, wenn wir im Jahre 1992 Fakten und Vorwürfe anders werten als in der Vergangenheit" …

"Boehringer Ingelheim war in die Vietnam-Problematik um Agent Orange involviert", gesteht das Unternehmen heute ein. 1967 war die Firma sogar bereit, wie sie jetzt zugibt, Dow mit Know-how bei der Errichtung einer T-Säure-Fabrik für die U.S. Army behilflich zu sein. Geschäftstüchtig forderte Boehringer von Dow zudem eine Abfindung "für die zusätzlichen Mengen für die Regierung" und noch mehr Geld, wenn nach dem Ende des Vietnamkrieges die Entlaubungsgifte "für Handelszwecke zum Einsatz kommen".

Die Konzernleitung von Boehringer Ingelheim ringt sich jetzt das erstaunliche Eingeständnis ab, "daß wir einen Teil des damaligen Handelns heute für nicht nachvollziehbar halten". Das Unternehmen stehe vor der Frage, "ob es seiner Sorgfaltspflicht genügt hat".“

 

Richard von Weizsäcker

 

"Mit großer Betroffenheit" habe er erst Jahre nach seiner Tätigkeit bei Boehringer von Agent Orange erfahren, sagt Richard von Weizsäcker, damals Geschäftsführer und Mitinhaber, heute. "Inwieweit und wann anderen in der Firma die Tragweite eigener Produktionsvorgänge bekannt wurde, die erst bei anderen Firmen zur Herstellung der einschlägigen Mittel dienten und deren Folgen durch den Einsatz der sogenannten Entlaubungsmittel erst allmählich offenbar wurden", darüber wisse er nichts zu sagen …

Personalvorstand Richard von Weizsäcker verläßt am 1. Juni 1966 die Firma C. H. Boehringer Sohn. Sein Förderer Ernst Boehringer ist, im Alter von 68 Jahren, gestorben und damit für Weizsäcker die Aussicht, Firmenchef werden zu können. Die Nachkommen drängen auf einen Nachfolger aus dem Kreis der Familie.

Richard von Weizsäcker zieht als Rechtsanwalt nach Bonn, wird Bundesvorstandsmitglied der CDU und Kirchenfunktionär. Er leitet als Präsident die Kirchentage in Hannover ("Der Friede ist unter uns") und in Stuttgart ("Hungern nach Gerechtigkeit"). Dort, 1969, appelliert er an die Gläubigen, neue Antworten zu suchen auf die "Bedrohung des Lebens durch Vernichtungswaffen" …

Drei Jahrzehnte zu lang konnte das Dioxin wuchern, geschützt durch ein Kartell des Schweigens, durch diese seltsame Allianz von Dow Chemical bis Boehringer, von Lübke bis Weizsäcker, von Kennedy bis Reagan, von Chemie bis Politik, von Kalkül bis Leichtsinn.“

Bei ihrer Suche nach Wahrhaftigkeit stießen die Firmenforscher auf ein Schreiben vom 17. Dezember 1964. Inhalt: Berichte über Verhandlungen zwischen Boehringer und dem amerikanischen Chemiekonzern Dow Chemical über den "akneerregenden Stoff". Die Chlorakne ist ein sicheres Zeichen für eine Dioxinvergiftung, sie hatte im Hamburger Werk Boehringers eine Reihe von Arbeitern befallen. Das Schreiben ist an zwei Herren gerichtet, vieren dient es zur Kenntnisnahme. Einer von ihnen: Dr. v. Weizsäcker.

Der heutige Bundespräsident war damals Mitglied in der Boehringer-Geschäftsführung, zuständig für Personal und Steuern. Er hatte im Juni 1991 dem SPIEGEL versichert, ihm sei über die Chlorakne im Hamburger Werk "weder schriftlich noch mündlich je berichtet worden".

Alle "für Vorstand und Geschäftsführung bestimmten Zuschriften" seien Dr. Richard Freiherr von Weizsäcker zuzuleiten, wurde am 11. Mai 1962 von Firmenchef Ernst Boehringer verfügt, kurz nach dem Eintritt des begabten Juristen. Am 12. Juli 1962 wurde ein sechsköpfiges geschäftsführendes Gremium unter Einschluß Weizsäckers gebildet, "das zugleich auch die Belange der Untergesellschaften und aller nahestehenden Firmen betreut". Diese Firmenleitung, so legte Vorstandsanweisung 5/62 ausdrücklich fest, "arbeitet unter gemeinsamer Verantwortung".

Er sei erst Ende 1962 in die Firma eingetreten, behauptete dagegen Weizsäcker im Juni 1991, er habe "nur spärliche Kenntnisse über Produktion und Absatz gehabt", sich "auf die Personalführung und -gewinnung im oberen Firmenbereich" konzentriert und sei nicht "bei Verhandlungen über Zusammenarbeit mit anderen Gesellschaften dabeigewesen".“

 

Was hätte Richard von Weizsäcker tun sollen?

 

Verantwortung und Schuld

 

Es ist sehr weltfremd, zu glauben, ein Einzelner hätte die Produktion von und das große Geschäft mit Agent Orange verhindern können. Auch dann, wenn er es gewollt hätte, hätte er es nicht verhindern können und wäre wahrscheinlich sogar ausgelacht worden.

In einem weltweit tätigen Chemie-Unternehmen tätig zu sein, heisst, Geschäfte mit Chemikalien zu machen. Wer für ein Rüstungs-Unternehmen bzw. einem Unternehmen, das mit dem Militär Geschäfte macht, arbeitet, kann nicht auf einmal „huch“ sagen, wenn er merkt, wozu seine Produkte eingesetzt werden.

Und welche Firmen oder Einzelpersonen arbeiten bitte nicht mit dem Militär zusammen bzw. würden es nicht gerne tun – bei überdurchschnittlichen Gewinnen, Gehältern oder Karriere-Möglichkeiten?

Das Militär hat eigene Krankenhäuser, eigene Kindergärten, eigene Post, braucht Mediziner, Lehrer, Forscher, braucht Essen, Trinken, Autos.

 

Wer in einer verantwortllichen Position, egal wo, arbeitet, wird Entscheidungen treffen oder zumindest mittragen müssen, die er moralisch nicht für einwandfrei hält.

Wer die Hitze nicht ertragen kann, sollte nicht in der Küche arbeiten wollen.

Nur der, der sich abseits von den Menschen hält und ein eremitisches Leben führt, hat die Chance, ein moralisch einwandfreies Leben zu führen.

 

Du sollst dich nicht dumm stellen

 

Da ist ein Vorstand, der erst Jahre später mitgekiegt haben will, was da zu welchem Zweck mit welchen Auswirkungen in seinem Unternehmen produziert wurde.

Das klingt sehr unglaubwürdig.

Entweder hat Richard von Weizsäcker gelogen oder er war extrem bescheuert. Sehr viel mehr Möglichkeiten gibt es nicht.

 

Moralische Instanz

 

Er leitet als Präsident die Kirchentage in Hannover ("Der Friede ist unter uns") und in Stuttgart ("Hungern nach Gerechtigkeit"). Dort, 1969, appelliert er an die Gläubigen, neue Antworten zu suchen auf die "Bedrohung des Lebens durch Vernichtungswaffen".“

Das hört sich sehr frech und sehr heuchlerisch an.

Allerdings muss es jedem Menschen erlaubt sein, seine Fehler einzugestehen, aus diesen zu lernen und zu der moralischen Instanz zu werden, die Richard von Weizsäcker nun mal geworden ist.

Das Problem: zumindest in der Öffentlichkeit ist nicht bekannt geworden, dass er überhaupt seine Fehler erkannt, diese eingestanden und als Geläuterter weiter gelebt hätte.

Und genau das ist ihm vorzuwerfen.

 

Gregor S.

 

Gregor S. leidet unter dem Leid, das den Menschen in voller Absicht durch Agent Orange zugefügt wurde.

Er leidet sehr.

Auch an anderen Bösartigkeiten, die Menschen anderen Menschen angetan haben.

Auch an Bösartigkeiten, die ihm angetan wurden.

Er hält Richard von Weizsäcker für mitverantwortlich an dem durch Agent Orange verursachten Leid und für einen unmoralischen Heuchler, der sich als großer Moralist aufspielt.

Und ist darob verzweifelt.

Dies alles ist nachvollziehbar.

Nicht nachvollziehbar ist, dass Gregor S. Richard von Weizsäcker töten wollte. Und nachdem dieser bereits gestorben war, dessen Sohn Fritz von Weizsäcker tatsächlich tötete, der mit der ganzen Sache nicht das Geringste zu tun hatte.

 

Wie viele Menschen gibt es, die über ihr eigenes Leid oder das ihrer Mitmenschen völlig verzweifelt sind? Und wie viele Menschen gibt es, die wg. ihrer Entscheidungen ihre Mitmenschen in die Verzweiflung getrieben haben und für deren Verzweiflung verantwortlich und schuldig sind?

Ab und zu wird mal einer dieser Verzweifelten durchdrehen und so richtig bösartig oder gar kriminell werden.

 

 

Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm