Pleiten, Pest und Pranger

„„I was born in the year 1632, in the city of York, of a good family, though not of that country, my father being a foreigner of Bremen, who settled first at Hull“, so lautet der erste Satz im Weltbestseller „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe.

Kaum zu glauben, dass die weltweit bekannte Romanfigur Sohn eines Bremer Kaufmanns ist. Ursprünglich hieß Crusoe‘s Vater Kreuznaer, welches sich im Englischen zu Crusoe wandelte. Der Vater wanderte über Hull nach York in Nordengland aus, wo auch Robinson Crusoe aufwuchs.

Noch immer findet man Spuren der Romanfigur in Bremen. Heute steht in der Böttcherstraße das Robinson-Crusoe-Haus. Ludwig Roselius, der Gründer von Kaffee HAG, kaufte nach und nach alle Gebäude der Böttcherstraße auf und ließ sie im Stil des Expressionismus gestalten. Als letztes Gebäude wurde 1931 das Robinson-Crusoe-Haus fertiggestellt. Roselius wählte den Namen als Symbol für hanseatischen Tatendrang und Pioniergeist.“

https://blog.bremen-tourismus.de/bremer-koepfe-robinson-crusoe/

Wer sich wundert, dass die Roman-Figur des Abenteurers Robinson Crusoe für „hanseatischen Tatendrang und Pioniergeist“ steht, hat mit Sicherheit nur die stark verkürzte Version für Kinder bzw. Jugendliche gelesen oder gesehen – tatsächlich ist der vor 300 Jahren erschienene „Robinson Crusoe“ bis heute der Roman des Kapitalismus und Kolonialismus.

Und sein Autor Daniel Defoe einer der bedeutendsten und am meisten unterschätzten Schriftsteller aller Zeiten.

 

Robinson Crusoe

 

Michael Sommer hat, wie üblich, auch hier eine sehr gute Zusammenfassung des Buches gemacht:

 

 

Der originale „Robinson Crusoe“ kann im Projekt Gutenberg nachgelesen werden: https://gutenberg.spiegel.de/buch/robinson-crusoe-747/1

„Freitag, jetzt sich selbst überlassen, verfolgte die Flüchtigen, ohne eine andere Waffe als sein Beil zu haben. Mit diesem erschlug er die drei früher Verwundeten, die zu Boden gesunken waren, und Alle, die ihm noch sonst in den Weg kamen. Jetzt holte sich der Spanier bei mir ein Gewehr. Ich gab ihm eine der Vogelflinten, er verfolgte damit zwei Wilde und verwundete sie beide. Da er aber nicht laufen konnte, entkamen sie ihm in den Wald, wohin Freitag ihnen sofort nacheilte. Er tödtete den einen, der andere war aber trotz seiner Wunden flinker als er, stürzte sich ins Meer und schwamm mit Aufwand seiner ganzen Kraft zu den beiden im Canoe Zurückgebliebenen. Diese drei waren die Einzigen, die uns von den einundzwanzig Wilden entrannen. Was sie und die Uebrigen angeht, stellte sich das Ergebniß unseres Kampfes folgendermaßen:

Durch unsere erste Salve fielen     3

Durch die zweite     2

Von Freitag im Canoe getödtet     2

Desgleichen dort verwundet und später getödtet     2

Durch Freitag im Wald erlegt     1

Von dem Spanier getödtet     3

An den Wunden hier und dort verblutet     4

Im Canoe entkommen (darunter Einer verwundet oder todt)     4

In Summa     21

Die Flüchtlinge im Canoe ruderten mit allen Kräften, um aus unserer Schußweite zu kommen. Freitag gab mehre Male Feuer auf sie, schien jedoch keinen getroffen zu haben ...“

https://gutenberg.spiegel.de/buch/robinson-crusoe-747/13

So buchhalterisch geht‘s recht häufig zu, wie SOLL und HABEN werden die positiven den negativen Seiten gegenüber gestellt.

Über die neue Kolonie: „Auf dieser Reise besuchte ich denn auch die junge Kolonie auf meiner Insel. Ich fand dort meine Nachfolger, die Spanier, und ließ mir genauen Bericht über ihre und der zurückgebliebenen Verbrecher Lebensweise erstatten. Die armen Spanier waren von diesen anfangs schlecht behandelt worden. Dann hatte eine Aussöhnung stattgefunden, hierauf neue Veruneinigung und abermalige Versöhnung, der dann wieder Zwietracht gefolgt war. Endlich waren die Spanier gezwungen gewesen, Gewalt anzuwenden, hatten auch die Kerle unterworfen, sie aber dann mit Großmuth behandelt. Wollte man diese Geschichte in ihren Einzelnheiten berichten, sie würde so viel Mannichfaltigkeit und wunderbare Ereignisse auszuführen haben als meine eigne. Besonders interessant war der Bericht von den Kämpfen der Kolonisten mit den Karaiben, welche einige Male auf der Insel gelandet waren, und ferner die Mittheilungen über die auf dem Eiland eingeführten Verbesserungen. Fünf von den Kolonisten hatten auch einmal einen Einfall auf das Festland gewagt und elf Männer und fünf Weiber als Gefangene von dort heimgebracht. Durch die letzteren war die Insel bei meiner Ankunft mit etwa zwanzig Kindern bevölkert.

Ich verweilte auf der Insel gegen drei Wochen. Bei meiner Abreise ließ ich zur Unterstützung der Bewohner allerlei nothwendige Dinge zurück, insbesondere Waffen, Pulver, Schrot, Kleider, Werkzeuge und dergleichen mehr, sowie auch zwei Handwerksleute, die ich von England mitgebracht hatte, nämlich einen Zimmermann und einen Schmied.

Außerdem theilte ich die Insel unter die Bewohner ein, behielt für mich zwar das Eigenthumsrecht am Ganzen, überwies aber jedem der Kolonisten gerade die Landstrecken, die ihm am erwünschtesten waren. Nachdem ich dies Alles in Ordnung gebracht und die Bewohner verpflichtet hatte, die Insel nicht zu verlassen, nahm ich von dieser Abschied.“

https://gutenberg.spiegel.de/buch/robinson-crusoe-747/16

Es interessiert Robinson nicht im Entferntesten, wie sein neuer Gefährte heisst oder welche Wünsche er hat – ob es diesem passt oder nicht, wird er als „Freitag“ bezeichnet und wird zum protestantischen Christentum missioniert.

Vor der Zeit auf der Insel wird Robinsons Schiff von Piraten gekapert und er selbst als Sklave in Marokko gehalten. Ein Junge (kein Sklave!) hilft ihm bei der Flucht auf einem kleinen Boot, wobei sie an westafrikanischen Küsten Abenteuer (meist mit wilden Tieren) bestehen. Schließlich werden sie auf See von einem portugiesischen Schiff aufgenommen.

„Als er sich fort gemacht, sagte ich zu dem kleinen Burschen, welcher Xury hieß: »Höre, wenn du mir treu bleibst, will ich etwas Großes aus dir machen; willst du mir aber nicht beim Barte Mahomeds und seines Vaters Treue schwören, so muß ich dich ins Wasser werfen.« Der Junge lächelte mir ins Gesicht und antwortete mir so treuherzig, daß ich ihm nicht mißtrauen konnte: er verspreche mir treu zu sein und mit mir zu gehen, wohin ich wolle ...

Jetzt hatte ich eßbare Wurzeln, Korn und Wasser in Menge. Nachdem ich diese freundlichen Neger verlassen, segelte ich etwa elf Tage weiter …

Dann bot er mir sechzig Goldstücke für meinen Jungen, den Xury. Hierzu aber hatte ich keine Lust, nicht weil ich den Buben dem Kapitän nicht gern überlassen hätte, sondern weil es mir leid that, seine Freiheit zu verkaufen, nachdem er mir so treulichen Beistand geleistet hatte. Als ich dies dem Kapitän vorstellte, fand er es gerechtfertigt und schlug die Auskunft vor, daß er dem Jungen durch eine Urkunde versprechen wolle, ihn nach zehn Jahren, wenn er Christ geworden sei, wieder frei zu geben. Hierauf, und da Xury auch einwilligte, überließ ich ihn dem Kapitän.“

https://gutenberg.spiegel.de/buch/robinson-crusoe-747/2

Seinen getreuen Gefährten, dem er versprochen hatte, „etwas Großes“ aus ihm zu machen, entlässt er also für 10 Jahre in die Sklaverei. Sollte er bis dahin immer noch kein Christ sein wollen, wird er für immer Sklave sein.

Robinson wird wohlhabender Plantagen-Besitzer in Brasilien, hat den Hals immer noch nicht voll genug und der ehemalige Sklave bricht zum (illegalen) Sklavenhandel auf. Bei dieser Aktion verschlägt es ihn auf seine Insel.

Seinem Schicksal kann der Mensch nicht entrinnen. Am Schluss des Romans sind Robinson und Freitag in Lissabon und wollen von dort nach England. Um den Gefahren der See auszuweichen, wählt Robinson den Landweg über die Pyrenäen – nur um dort Abenteuer mit einem Bären und über 100 Wölfen bestehen zu müssen.

Robinson ist zwar religiös – aber eher in dem Sinne „hilf dir selbst, so hilft dir Gott“. Also sehr pragmatisch, was auch den Umgang mit Menschen betrifft, die anderen Glaubens sind.

Der Wurm glaubt nicht, dass Daniel Defoe in allem genauso denkt wie Robinson – aber er schildert genau die damals in weiten Kreisen Englands vorherrschende Mentalität.

Wolfgang Riehle zitiert James Joyce: „Das eigentliche Symbol britischen Eroberergeistes ist Robinson Crusoe, der auf einer einsamen Insel mit Messer und Pfeife in der Tasche sich zu einem Architekten, Zimmermann, Messerschleifer, Astronomen, Bäcker, Schiffbauer, Töpfer, Sattler, Bauer, Schneider, Schirmmacher und Geistlichen entwickelt. Er ist der wahre Typ des britischen Kolonisators, so wie Freitag (der vertrauensselige Wilde, der ihm an einem unglücklichen Tag begegnet) das Symbol der unterjochten Rassen ist. Die ganze angelsächsische Mentalität ist in Crusoe enthalten: eine männliche Unabhängigkeit, die unbewusste Grausamkeit, die Beharrlichkeit, die langsame, aber effiziente Intelligenz; die sexuelle Apathie, die praktische, wohl ausbalancierte Religiosität, die berechnende Verschwiegenheit.“

Ulrich Greiner: „Der Roman verkündet die Botschaft, daß jeder alles aus sich machen kann, wenn er sich bemüht – und wenn man ihn nur machen läßt. Er kann zum Schreiner und Töpfer werden, mit Hilfe seines Kopfes und mit der Kraft seiner Hände, und ebenso vermag er auch die Schrift zu lesen, ohne den Beistand der "Pfaffen", wie Defoe sie nennt. Und von selber wird er darauf kommen, daß ein Gott die Ordnung der Dinge geschaffen hat. Robinson führt dem Leser einen natürlichen Gottesbeweis vor – und nimmt so Stellung gegen die Glaubenskriege seiner Zeit. Es ist ein Plädoyer für Toleranz.

Es sind die allmählich entstehenden bürgerlichen Tugenden, denen Defoe hier unbewußt zum Ausdruck verhilft. England war, nach siegreichen Kriegen gegen Spanien und die Niederlande, zur ersten Seemacht erstarkt. Das Zeitalter des Handelskapitalismus erforderte genau das, was Defoe expressis verbis verurteilte: den abenteuerlichen Wagemut, das unternehmerische Risiko. Dieses fand in der Seefahrt sein extremes Betätigungsfeld. Gewinn und Ruin lagen hier so eng beisammen, daß die herrschende Religion sich mühen mußte, in alldem einen Gott wirken zu sehen, Robinson akzeptiert diese Perspektive, aber er ist auch jederzeit bereit, sein Schicksal selber in die Hand zu nehmen. Er hilft sich selbst, und so hilft ihm Gott.“

https://www.zeit.de/1980/23/robinson-crusoe/seite-2

Aus dem Buch „Daniel Defoe – Dargestellt von Wolfgang Riehle":

„Als Defoe seine letzte Lebensphase erreicht hat und fast 60 Jahre alt geworden ist, fühlt er sich im Wissen um den Erfolg seiner Schriftstellerei fast schon im modernen Sinne als ein Produzent von Literatur, der sich bemüht, ein möglichst breites Publikum anzusprechen. Zeit zum Reisen bleibt da nicht, daher handelt er jetzt nach einer eigenen Empfehlung an seine Leser: Wenn man keine Reise unternehmen kann, hat man wenigstens die Möglichkeit, sie durch die Lektüre von Reiseerzählungen zu erleben. So las er nun mit Sicherheit u. a. die Berichte „Eine neue Reise um die Welt“ des „Entdeckungsreisenden“ William Dampier und die Schilderung Ceylons von Robert Knox. Da er wusste, dass sich Reiseerzählungen auch gut verkaufen, entdeckte er hier ein neues Thema für seine Schriftstellerei: Er nahm sich vor, von einem Weitgereisten zu erzählen, der viele Abenteuer erlebt. Was, wenn es ihn auf eine einsame Insel verschlägt? Konnte er nicht auf diesen Gedanken kommen, da ihn die auf einer Insel erlebbare Einsamkeit schon länger interessiert hatte und weil er vertraut war mit dem sensationellen Bericht über ein vierjähriges Inselleben des Schotten Alexander Selkirk? Doch als echtes Vorbild konnte dies - entgegen einer weit verbreiteten Ansicht - nicht dienen; denn Selkirk hat auf seiner Insel die Sprache fast völlig verlernt. Das konnte nicht nach dem Geschmack des rastlos tätigen, intellektuell stets agilen Daniel Defoe sein, auch wenn er diese oder jene Anregung von Selkirks Abenteuer übernommen haben mag. Ist nun der vor kurzem von Tim Severin gefundene Reisebericht des Schiffsarztes Henry Pitman, den es auf die Insel Salt Tortuga vor der Küste Venezuelas verschlug, die eigentliche Quelle? Auch diese Frage ist zu verneinen; allenfalls handelt es sich um einen weiteren, für Defoe anregenden Text, aus dem er einzelne Details bezogen haben mag. Viel wichtiger ist die Annahme, dass Defoe durch ein Zusammenwirken verschiedener Anregungen seinen Roman verfasst hat. Zu diesen zählten insbesondere einige bereits existierende Robinsonaden, vor allem der „Krinke Kesmes“ von Hendrik Smeeks. Im deutschen Barockroman „Der abenteuerliche Simplicissimus“ des Christoph von Grimmelshausen hatte die Weltreise des Simplicius ihr Ende auf einer Insel gefunden. Als Defoe seinen Robinson Crusoe schrieb, ist ihm wohl kaum bewusst geworden, dass er einen Roman neuen Typs geschaffen und damit den englischen Roman auf einen ersten großen Höhepunkt geführt hat.

Mit The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner gelang Defoe sofort ein völlig überraschender Bestseller-Erfolg; es kam im April 1719 in 1.000 Exemplaren heraus, und schon im Mai, dann im Juni und wieder im August wurde eine Neuauflage erforderlich. In kürzester Zeit war somit dieser Roman zu einem der bekanntesten Werke in englischer Sprache avanciert. Bereits etwa vier Monate nach der Erstveröffentlichung erschien der Fortsetzungsteil Die weiteren Abenteuer des Robinson Crusoe (The Farther Adventures of Robinson Crusoe). Im Jahr darauf kamen auch schon eine französische und eine deutsche Übersetzung heraus.

Dieser große Erfolg war nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass sich der Roman Robinson Crusoe doch stark von gewissen „Vorläufern“ unterscheidet. Denn Defoe verfasst zwar einen fiktiven Roman, doch versetzt er sich ganz in die Situation eines bisher in seinem Leben sehr erfolgreichen Mannes, der auf einer Insel gestrandet ist, und fragt sich bis ins Kleinste: Wie gestaltet sich wohl ein solch einsames Leben? Daher entsteht beim Lesen die Illusion, es handle sich um eine Schilderung tatsächlicher Erlebnisse.

Dieser Robinson ist der Sohn eines begüterten Kaufmanns aus dem fernen Bremen und soll nach seines Vaters Willen Jurist werden, um die Segnungen und Sicherheiten des Mittelstandes zu genießen. Dem Sohn allerdings sagt dieser Beruf nicht zu. Er wird von Abenteuerlust umgetrieben und will mehr aus seinem Leben machen. Mehrmals warnt ihn der Vater vor seinem Ehrgeiz. Doch Robinson reißt sich vom Elternhaus los und besteigt in Hull ein Schiff mit Kurs auf London. Trotz unzweideutiger Sturmwarnungen des Himmels führt ihn sein unbeugsamer Wille nach London, wo er eine kaufmännisch motivierte Seereise nach Guinea an der westafrikanischen Küste beginnt. Durch das gute Gelingen dieser Reise beflügelt, gibt er seiner Lust auf ein weiteres Reiseabenteuer nach. Allerdings wird das Schiff zwischen den Kanarischen Inseln und Afrika von Piraten gekapert und nach Salé an der marokkanischen Küste gebracht. Während dort die Mannschaft in die Sklaverei verkauft wird, nimmt sich der Kapitän des Piratenschiffes Robinson als persönlichen Sklaven. Eines Tages jedoch gelingt es ihm, mit dem Eingeborenen Xury zu fliehen. Ein portugiesisches Handelsschiff nimmt ihn auf und bringt ihn nach Brasilien. Dort verkauft er Xury und sein Boot und erwirbt mit diesem Geld eine Plantage. Nach wenigen Jahren ist aus ihm ein perfekter Handelsmann und erfolgreicher Plantagenbesitzer geworden.

Plötzlich drängt es ihn trotz seiner wirtschaftlichen Erfolge wieder nach neuen Unternehmungen, gesteht er doch von sich, dass er seiner törichten Neigung, in der Welt umherzuschweifen wieder nachgeben müsse. Er möchte mit Afrika Handel treiben und sich von dort Negersklaven als billige Arbeitskräfte holen - wir kennen dies aus Defoes ökonomischen Schriften. Doch ein verheerender Sturm bringt das Schiff vor der Mündung des Flusses Orinoko im heutigen Venezuela zum Kentern. Die Mannschaft ertrinkt, er sieht nur noch drei Hüte, eine Mütze und zwei einzelne Schuhe auf der Meeresoberfläche treiben, sich selbst kann er auf eine nahe gelegene Insel retten. Diese ist für sein Überleben geradezu wie geschaffen, Pflanzen und Tiere bieten ihm Nahrung.

In unermüdlicher Tätigkeit lebt Robinson viele Jahre in völliger Einsamkeit dahin. Dadurch hat er sich in diesem irdischen „Paradies“ bestens einzurichten vermocht. In größte Beunruhigung versetzt ihn allerdings die Entdeckung von Kannibalen, die zwei Gefangene verspeisen wollen. Robinson befreit einen der beiden, nennt ihn Freitag und macht ihn zu seinem Sklaven und Gefährten.

Wieder vergehen mehrere Jahre, bis ein spanisches Schiff gesichtet wird. Es gelingt ihm, sich dieses Schiffs zu bemächtigen und den von meuternden Matrosen gefangenen Kapitän zu befreien. Mit diesem Schiff kann er endlich nach 28 Jahren die Inseleinsamkeit verlassen und nach Europa zurückkehren. Zudem hat er es ohne sein Zutun zu beträchtlichem Reichtum gebracht, denn seine brasilianische Plantage wurde von Freunden für ihn weitergeführt, sodass er nun ein recht großes Vermögen in Besitz nehmen kann. Er gründet eine Familie und macht sich nach dem Tod seiner Frau nochmals auf, die Insel zu besuchen. Die dort zurückgelassenen spanischen Meuterer, die inzwischen eine Kolonie gegründet und mit Eingeborenenfrauen Kinder gezeugt haben, erhalten einen Teil der Insel zur Pacht.

Lässt man diese etwas verkürzend wiedergegebene Geschichte Revue passieren, dann zeigt sich, dass Defoes großer Roman viel mehr zu bieten hat als spannende Unterhaltung für die Jugend. Der Sohn, der sich dem Willen der Eltern widersetzt und nicht den vom Vater gewünschten Beruf ergreift, macht eine Entwicklung zum reifen Erwachsenen durch. Sein heftiger Wunsch, die Welt kennenzulernen, Abenteuer zu erleben, geht dank seiner großen Willensstärke in Erfüllung, die wohl jeden Leser beeindruckt; sie kann aber auch als exemplarisch für das unternehmerische Bürgertum des frühen 18. Jahrhunderts gedeutet werden. Die Gründung einer Plantage in Brasilien mit der Erwirtschaftung eines beträchtlichen Profits ist eigentlich der Beginn einer Erfolgsstory. Bei seinem späteren Inseldasein verhelfen ihm ausgesprochen bürgerliche Tugenden zum Überleben - wie unermüdlicher Fleiß, die Bewertung der Arbeit als menschliche Bestimmung, ferner eine kluge, vorsorgende „Lebensgestaltung sowie die Fähigkeit zum Maßhalten. Und nicht mit dem zu Haus Gebliebenen, nicht mit dem Stubenhocker ist Gott in Robinson Crusoe, sondern mit dem, der sich selbst zu helfen weiß.“ Gleich noch ein anderes Sprichwort bewahrheitet sich an Robinson: Not macht erfinderisch. Defoe ist überzeugt und will es am Beispiel Robinsons aufweisen, dass der Mensch, wenn nötig, jede Art von Tätigkeit oder handwerklicher Arbeit, zu erlernen fähig sei. Dadurch wird sein Held zum perfekten „Selbstversorger“ in einer primitivistischen Utopie. Die im damaligen Europa bereits vollzogene Spezialisierung wirtschaftlicher Produktivität wird von ihm sozusagen rückgängig gemacht. Robinson bewährt sich etwa als Zimmermann, Töpfer, Korbflechter, Landwirt und Bäcker in einem, und er baut sich zudem noch eine Behausung.

Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, dass Robinson mit seiner Arbeit ausschließlich sich selbst dient. Denn was Defoe schildert, ist nichts anderes als die Selbstbehauptung des Individuums, die nun im 18. Jahrhundert zu einem großen Thema wird. Robinsons Erzeugnisse sind weder der Konkurrenz des Marktes ausgesetzt, noch zieht er aus ihnen materiellen Gewinn. Und von wem sollte er ausgebeutet werden? Allerdings findet bei Robinson die Tatsache ihren Niederschlag, dass sich der erstarkende neue Individualismus eben hauptsächlich kaufmännisch-wirtschaftlich definiert. In Brasilien war er als Handelsmann tätig, und kommerzielles Denken verlässt ihn daher nie völlig. Dies ist auch nicht anders zu erwarten bei einem Autor, der vom Thema Handel ganz durchdrungen war. So kommentiert Robinson zwar seinen Goldfund mit den berühmten Worten: Du Gift … wozu bist du nun gut? Für mich bist du nicht einmal soviel wert, daß ich dich vom Boden aufhebe … ich habe keine Verwendung für dich, bleibe, wo du bist, und geh unter als eine Kreatur, die nicht wert ist, gerettet zu werden. Dennoch bewahrt er das Gold „instinktiv“ auf für eine eventuelle spätere Rückkehr in die Gesellschaft, und bei seiner Rettung vergisst er nicht, das Gold mitzunehmen. Als er sich auf der Insel über seine Lage klar zu werden versucht, stellt er ihre Mängel und Vorzüge einander gegenüber und tut dies in einer Weise, die an die kaufmännische Buchhaltung von Soll und Haben erinnert. Er ist einerseits ohne Hoffnung, aber noch am Leben, von allen Menschen zwar getrennt, andererseits doch nicht hungers gestorben; er konnte sich nicht gegen wilde Tiere schützen, wurde bisher aber auch nicht angegriffen, und aus dem Schiffswrack hat er sich viele nötige Dinge holen können. Sind es aber materielle Werte, die hier verglichen werden? Durchaus nicht. Er ist natürlich kein Kapitalist, sondern er hat ja im Gegenteil aus Abenteuerlust seine Gewinn bringende Plantage verlassen. Daher ist er mit seiner regen produktiven Tätigkeit auf der Insel auch sicher nicht, wie Marx argumentierte, als Modell für ökonomische Studien geeignet. Er verfügt über keinerlei Möglichkeit zur praktischen Ökonomie, zum Handel mit und zum Verkauf von produzierten Waren. Da er durch seine Plantagenarbeit in Brasilien reich geworden ist, war es vom ökonomischen Standpunkt aus sogar ein Fehler, diese Plantage zu verlassen. Um ein echter ökonomischer Charakter zu sein, fehlt ihm eine wichtige Voraussetzung - die sesshafte Ausdauer. Im Fortsetzungsteil konkretisiert er sein Fernweh dahingehend, es treibe ihn mit einem rastlosen Verlangen zu einem fernen Ziel, doch wenn er dort angelangt sei, überwältige ihn ein ebenso heißer Wunsch, in die Heimat zurückzukehren. Verbirgt sich dahinter etwa eine gewisse neurotische Ruhelosigkeit?

Gern wird fälschlich behauptet, Robinson musste auf seiner Insel den gesamten Zivilisationsprozess der Menschheit gleichsam in teleskopischer Verkürzung noch einmal absolvieren. Diese Annahme ist aus zwei Gründen falsch. Erstens ist er ja im Besitz wichtiger Fähigkeiten und Kenntnisse gestrandet, die er durch Erziehung und Bildung in England erworben hat, woraus er jetzt Nutzen ziehen kann. Und zweitens muss er auch deshalb nicht bei Null anfangen, weil er mit mehreren Floßfahrten aus dem vor der Küste liegenden Schiffswrack einen reichen Vorrat an technischen Utensilien, zum Beispiel den ganzen Werkzeugkasten eines Zimmermanns, holen kann, was für ihn von größtem Vorteil ist. Wie bezeichnend ist es doch, dass sich im Jahr 1779 ein gewisser Joachim Heinrich Campe mit einer eigenen Robinsonade von Defoes Vorbild deutlich zu unterscheiden suchte. In seinem Erziehungsbuch mit dem Titel „Robinson der Jüngere“ soll der junge Mensch nämlich tatsächlich den gesamten Zivilisationsprozess wiederholen, weil ihm strikt die Möglichkeit genommen wurde, sich bereits vorhandener Geräte oder Instrumente und anderer zivilisatorischer Errungenschaften zu bedienen.

Defoes Robinson Crusoe hingegen erobert sich die wilde Natur mit seiner ganzen zivilisatorischen Kompetenz. Daher ist auch sein Naturverständnis gänzlich unromantisch. Dennoch war gerade Jean-Jacques Rousseau ein großer Bewunderer dieses Romans. Er war begeistert von der darin beschriebenen Selbstbehauptung des Individuums auch und gerade in der Erfahrung völliger sozialer Isolierung und Einsamkeit. Jedoch hatte er Robinson Crusoe so gelesen, als ob darin von einem edlen Wilden oder Naturburschen die Rede sei; er übersah alles, was im Text dagegen sprach. So kam es, dass Rousseau in seinem eigenen Erziehungsbuch „Emil“ seinem heranwachsenden Jungen nur ein einziges Werk als Lektüre erlaubte, eben Robinson Crusoe, weil er dieses für die Erziehung zu einem natürlichen Menschen anstatt zum Bürger am geeignetsten hielt. Doch müsse der Roman „von seinem überflüssigen Beiwerk befreit“ und nur wegen seiner Inselepisode gelesen werden. So schafft Rousseau nebenbei die Voraussetzung für den Siegeszug des Romans als Kinderbuch. Doch zweifellos missversteht er Defoes Robinson Crusoe, denn für diesen hätte die Aufforderung „Zurück zur Natur“ nichts bedeutet. Defoe war nicht der Ansicht, dass ein Leben im ursprünglichen Naturzustand die Tugendhaftigkeit garantiere. Er sah sich darin sieben Jahre später durch einen Aufsehen erregenden Fall bestätigt. Man hatte einen Jungen gefunden, der in den Wäldern um Hannover wild aufgewachsen war, und nach England gebracht. Dies löste eine Flut von literarischen Reaktionen aus, und was Wunder, dass auch Defoe zur Feder griff und seine Schrift Eine Beschreibung der bloßen Natur (Mere Nature Delineated) verfasste, in der er zu zeigen suchte, dass der Junge, Peter, in und von der Natur gar nichts gelernt habe. Man hat ihn wild, nackt und stumm gefunden, niemand kannte ihn … er war kaum ein zu Gefühlen fähiges und schon gar nicht ein vernünftiges Wesen. Dies entspricht ganz der Erkenntnisphilosophie eines John Locke, für den die Vernunft der Erfahrung bedarf.

Anstatt vom heilsamen Einfluss einer unberührten Natur verwandelt zu werden, kultiviert Robinson die Wildnis nach seinen Vorstellungen. Im Rückblick beschreibt er alles, was er auf der Insel erlebt und getan hat, mit großer Liebe zum Detail. Dieser oft bewunderte erzählerische Realismus trägt natürlich ebenfalls zur hohen Glaubwürdigkeit des Romans bei. Hier berühren wir überhaupt die große erzählerische Meisterschaft Defoes, die in der genauen, fast illusionistischen Schilderung liegt. Das trifft etwa auf seine packende Schilderung des Todeskampfs eines alten Ziegenbocks in einer Höhle zu, wo Defoes Beschreibungskunst einen künstlerischen Höhepunkt erreicht.

So sehr versteht sich Robinson auf ein detailgetreu realistisches Erzählen, dass er sogar seine misslingenden Initiativen exakt wiedergibt, wie im Fall der Fehlkonstruktion seines ersten Kanus, das er nicht transportieren kann, weil es zu groß und schwer geworden ist. Durch diese liebevollen Schilderungen konkreter Einzelheiten nimmt der Roman stellenweise eine fast dichterische Qualität an. Zugleich entwickelt Crusoe bei seinen Tätigkeiten auch eine Fähigkeit, die im späteren Verlauf des Jahrhunderts enorm an Bedeutung gewinnen sollte - die Phantasie. Mit seiner Phantasie nämlich, die er höchst zutreffend als Gewalt der Einbildungskraft benennt, verändert er das selbst Geschaffene, mit ihr überhöht er seine primitive Umgebung. Seine Höhle wird ihm zur Küche, sein Zelt zu seiner Burg. Am Ende empfindet er sich selbst als Monarch in seinem Inselkönigreich: … ich war Herr über das ganze Gut, und wenn es mir gefiel, konnte ich mich König oder Kaiser nennen über das ganze Land, das in meinem Besitz war. Es ist nun vor allem diese Eigenschaft der verwandelnden Phantasie Robinsons, die jugendliche Leser zu allen Zeiten angezogen und in Bann geschlagen hat.

So lernt Robinson auch recht bald, seiner aufgezwungenen Lebenslage positive Aspekte abzugewinnen; er genießt es mit berechtigtem Stolz, größte Schwierigkeiten gemeistert zu haben. Wenn er ausgesprochene Freude über sein paradiesisches Inseldasein empfindet, wird er anschließend freilich auch seiner Einsamkeit in schmerzhafter Weise gewahr. Seine „Familie“ besteht nur aus seinem Hund, seinem Papagei und zwei Katzen. Zu Unrecht ist ihm der Vorwurf gemacht worden, ohne Emotionen zu sein. Doch ist zutreffend gesagt worden, dass der Leser nur selten an Robinsons Gefühlen wirklich teilnehmen kann. Er sehnt sich durchaus nach Gemeinschaft. Erstaunlich ist aber, dass er nie ein Verlangen nach einer Frau empfindet, sondern als geschlechtsloses Wesen lebt. Seiner religiösen Bekehrung schreibt er einen Wandel seiner Lebenshaltung zu. Ihr geht eine doppelte Erfahrung voraus. Zum einen die Freude, dass eine gütige Vorsehung einige aus dem Schiffswrack stammende Getreidekörner hat aufgehen lassen. Und auch später erlebt er immer wieder Momente eines Glücksgefühls. Auf der anderen Seite regen sich aber auch Angstempfindungen und Todesgedanken. Sie konkretisieren sich besonders in einem schrecklichen Traum, in dem er den erzürnten Gott erblickt: Mir schien, ich ... sähe aus einer großen, dunklen Wolke und in einer breiten Feuerzunge einen Mann herabsteigen und den Boden betreten. Er selber war über und über so hell wie eine Flamme ... sein Gesicht war unaussprechlich furchtbar, mit Worten nicht zu beschreiben. ... er ... schritt auf mich zu, in der Hand einen langen Speer oder eine ähnliche Waffe, um mich zu töten ... Da erwacht Robinson und mit ihm sein Gewissen; er bekennt seine Schuld, beschließt sich zu bessern und stellt nun sein Leben unter die göttliche Führung.

Dieses Bekehrungserlebnis ist viel diskutiert worden; es entspricht einer Tradition der Puritaner, denen die Einsamkeit als Voraussetzung für ihre Innenschau und Gewissensprüfung wichtig war. Man führte geradezu eine Autobiographie über das eigene geistliche Leben, wobei man in einem Tagebuch die Fortschritte und Rückschläge festhielt. Defoe selbst legt auf die spirituelle Bedeutung der Einsamkeit großen Wert. Allerdings dringt bei Robinson die geschilderte Gotteserfahrung im Traum nicht sehr tief; denn er ändert sein Leben nicht wirklich. Und seine Angst wird nicht bewältigt.

Sehr bezeichnend, dass Robinsons religiöse „Bekehrung“ im Roman nicht nur keine größeren Spuren hinterlässt, sondern auch dass sie gleichsam „verdrängt“ wird durch seine Kolonialisierungsaktivität. Bald wird er nämlich selbst als kleiner Gott auftreten und die Regeln des sozialen Zusammenlebens bestimmen. Zunächst aber hat er hin und wieder erneut mit seiner Angst zu kämpfen. Nur seine Angst erklärt, dass er erst nach dreizehn Jahren wagt, seine Insel in ihrer Gesamtheit zu erkunden. Angst bleibt die letzte Triebfeder seines Handelns.

Diese bricht dann voll aus, als er nach so vielen Jahren eines Tages die berühmte Entdeckung einer menschlichen Fußspur im Sand zur Mittagszeit macht. Stammt sie etwa vom Teufel?, fragt er sich. Es ist eine Entdeckung, „die den gewohnten und geheimnislosen Ort für Robinson mit einer so jäh erschreckenden, unfaßbaren Dynamik erfüllt, daß er schließlich wie gejagt in seine schützende Behausung flieht“. Robinson, der sich nun wie ein vollkommen verwirrter Mensch, ja außer (sich) selber fühlt, muss sich immerhin fragen, warum er nun, da seine alte Hoffnung auf eine Begegnung mit einem Menschen in Erfüllung zu gehen scheint, Angst vor ihr hat.

Und wie reagiert er konkret auf seine Begegnung mit Freitag? Dieser jedenfalls empfindet echte menschliche Gefühle gegenüber dem weißen Fremden; von ihm aus gesehen bildet sich geradezu ein lebendiges Sohn-Vater-Verhältnis heraus. Doch von Robinson selbst lässt sich dies nur mit Einschränkung sagen. Denn er beansprucht von vornherein die Rolle des Kolonialherren. Zwar entwickelt er eine persönliche Beziehung zu ihm und erklärt: ... ich gewann ihn richtig lieb und auch ihm, glaube ich, war ich lieber als jemals ein anderes Geschöpf in seinem ganzen Leben; dennoch wird dieser Urbewohner der Insel nie sein wirklicher Partner, sondern bleibt immer Untergebener. Deshalb bringt er ihm auch als Erstes bei, ihn Meister zu nennen und lehrt ihn zunächst vor allem ja und nein zu sagen. Indem Robinson ihm den neuen Namen Freitag gibt, bringt er zum Ausdruck, dass es ihm nur darum geht, dem Wilden eine neue, christlich-europäische Identität zu geben. Er hat ihm dafür dankbar zu sein, und deshalb ist Crusoe berechtigt, ihn als Sklaven zu benützen.

Dass Robinson Freitag als seinen Besitz erachten zu dürfen glaubt, kommt nicht von ungefähr. Er agiert damit bereits als Vertreter des europäischen Kolonisators, der die gesamte Insel schließlich als sein Eigentum betrachtet. Nach damals gültiger Rechtsauffassung konnte der Entdecker eines von der Zivilisation noch unberührten Landes über dieses nach seiner Eroberung verfügen. John Locke, dessen politische Philosophie eine wichtige Basis für Defoes Roman bildet, sprach es deutlich genug aus. Für ihn ist „all dasjenige wahrhaft mein, was ich mir durch Arbeit angeeignet habe“. Ganz im Verständnis jener Zeit sieht sich Robinson daher auch als der absolute Herrscher und Gesetzgeber, dem die Bewohner sogar ihr Leben verdanken. Es geht Defoe in Robinson Crusoe nicht darum, die neuzeitliche Kolonialisierungsidee zu problematisieren, wie dies vor ihm Shakespeare in seinem späten Stück „Der Sturm“ getan hat, denn Defoe stand ja, wie wir sahen, ganz zu dieser Idee. Für Robinson wie für Defoe ist ein geordnetes Gemeinwesen nicht denkbar ohne einen starken, kampfbereiten Regenten, der von seinen Untergebenen eine gebührende Anerkennung seiner Autorität erwarten kann. Robinson rechtfertigt seine gottähnliche Macht, neigt zugleich aber zu inhumanem Verhalten. Doch keinesfalls sollen die Grausamkeiten der spanischen Eroberer wiederholt werden. Andererseits will er, und dies weist auf die Aufklärung voraus, das menschliche Zusammenleben auf der Insel nach den Prinzipien der Vernunft regeln; er erlaubt sogar Gewissens- und Religionsfreiheit. Am Ende existieren auf der Insel drei verschiedene religiöse Bekenntnisse. Mit Erstaunen stellt Robinson fest und weiß dafür keine Erklärung, dass die Wilden, die für ihn fraglos Kannibalen sind, ein Thema, das Defoe in die Robinsonaden einführt, sich den christlichen Europäern manchmal sogar moralisch überlegen zeigten, obwohl diese doch erleuchtet, „aufgeklärt“, seien! Trotzdem wird Freitag im Zuge seiner Zivilisierung zu einem protestantischen Christen gemacht. Als Freitag die knifflige Theodizee-Frage stellt, wie denn bei einem gütigen Gott das Böse in die Welt kommt, muss Crusoe freilich passen.

Mit seinem Roman, der, wie schon angedeutet, auch ein durchgehend reflexives, christlich-didaktisches Element enthält, wollte Defoe den zeitgenössischen Lesern zweifelsohne einen spirituellen Gehalt vermitteln. Doch wie sich zeigt, stoßen zwei ideologische Positionen hart aufeinander und werden nicht miteinander versöhnt. Einerseits findet der traditionelle puritanische Gedanke Ausdruck, dass der Mensch in dem ihm von Gott zugeteilten Stand zu verbleiben habe, seine Sünden bedenken und sich reumütig bekehren müsse, dafür aber auch sein Leben als von einer gütigen Vorsehung geleitet verstehen dürfe. So sieht es Robinson als seine eigentliche Verfehlung an, den klugen Rat seines Vaters missachtet zu haben. Doch es ist zu fragen: Lässt ihn die Vorsehung den Weg in die Insel-Einsamkeit gehen, damit er ins Elend gerät und somit die Verkehrtheit seiner bisherigen Entscheidungen einsieht? Mitnichten. Ironischerweise kann auch sein Vater nicht wirklich erwarten, dass der Sohn seine dringende Empfehlung zur Sesshaftigkeit befolgt; denn auch er wanderte ja in seiner Jugend von Bremen nach England aus. Andererseits wird aber auch die neue progressive Ideologie artikuliert, dass der Mensch, ganz auf sich selbst und seinen kraftvollen Willen gestellt, ausschließlich für sich und sein Leben verantwortlich ist. Da er bei der Verwirklichung dieses individuellen Willens Risiken und Abenteuer mitsamt ihren Verlockungen zu bestehen hat, ist er aufgerufen, mit eigener Klugheit und Umsicht eine Gratwanderung zu absolvieren. Das um autonomes Handeln bestrebte Individuum will sich nicht mehr durch die religiöse oder die weltliche Autorität einschränken lassen. Dabei erfährt es sich freilich auch als ein im Grunde einsames Wesen, und dafür hat Defoe das ungemein wirkungsvolle Bild von Robinsons Leben auf der Insel erfunden.

Mit der immensen Wirkung, die sein Robinson Crusoe sofort erzielte, hat Defoe bestimmt nicht gerechnet. Sie ist sicher auf ganz verschiedenartige Gründe zurückzuführen. So kam das Buch den Erwartungen des puritanisch-bürgerlichen Publikums seiner Zeit schon darin entgegen, dass es den Anspruch erhob, eine wahre Geschichte zu enthalten, und diese Garantie der Authentizität erhöhte noch die Spannung beim Leser. Der Trick, den der Autor im Vorwort anwendet, ist berühmt geworden und hat in der Romangeschichte Nachahmer gefunden: Defoe nimmt für sich nur eine Herausgeberschaft in Anspruch und tritt nirgends selbst in Erscheinung; er gibt vor, einem interessierten Publikum lediglich den autobiographischen, in der Ichform verfassten Bericht Robinson Crusoes (den genauen Bericht wirklicher Begebenheiten) zu vermitteln; daher finden sich darin, wie er behauptet, keine Anzeichen einer freien Erfindung. Auch erscheint Defoes Name nicht auf der Titelseite. Dass der ganze Roman aus der Perspektive des erzählenden Robinson geschrieben ist, intensiviert seinen Wahrheitsanspruch enorm. Die anderen Figuren werden dabei nur in der stets gleichen Sicht Robinsons beschrieben, sie bleiben ganz unwichtig. Defoe hat, wie oft bemerkt wurde, in den englischen Roman einen neuen Detailrealismus eingeführt. Nicht um Faktentreue handelt es sich indes dabei, „Realität“ wird ja durch Fiktion erzeugt, aber diese beansprucht, wie er im Vorwort zu Der Sturm betont, „glaubhaft“ zu sein und nichts Unwahrscheinliches zu enthalten. Defoe erreicht dies, indem er sich völlig in eine fiktive Figur hineinversetzt und diese dann den Roman in der Ichform erzählen lässt. In dieser Kunst hatte er sich inzwischen lange geübt; denn bereits viele seiner nicht literarischen Werke, wie etwa sein Kurze(r) Prozeß mit den Dissenters!, gaben vor, von einer fiktiven Person in der Ichform geschrieben zu sein. Für den zeitgenössischen Leser war somit die verlangte Glaubwürdigkeit des Textes ausreichend garantiert. Das Leserinteresse wird weiter angeregt durch den nie versiegenden Abwechslungsreichtum der erzählten Ereignisse. Obwohl dieser Roman der Erwartungshaltung seines zeitgenössischen Lesepublikums mit seinem puritanischen Fortschrittsoptimismus entspricht, beansprucht er aber auch - wie jedes große Kunstwerk - eine überzeitliche Gültigkeit, sonst hätte er nicht diesen Welterfolg erlangt. Ian Watts These, Defoe habe mit seinem Robinson eine geradezu mythische Gestalt geschaffen, liefert dafür eine überzeugende Begründung.

Weil man sich als Leser leicht mit der zentralen Figur identifiziert, hat dieser Roman eine bis heute anhaltende Tradition mit zahlreichen interessanten Nachahmungen begründet, die hier nur sehr selektiv beleuchtet werden kann. Schon bald folgten Neufassungen wie etwa der Sächsische, Österreichische oder der bekannte Schweizerische Robinson von Johann David Wyß. Im späteren 18. Jahrhundert ist das Buch dann Vorbild für ausgesprochene Erziehungsliteratur geworden. Ein weltweiter, unvergleichlicher Siegeszug als Kinderbuch begann. Aber auch James Fenimore Coopers berühmter „Lederstrumpf“ ist in dieser Tradition zu sehen. Hier geht es statt der Eroberung einer unbekannten Insel um die Erschließung des amerikanischen Westens, und Freitag mutiert schlichtweg zu einem Indianer. Die Abenteuer von Defoes berühmtem Helden haben ferner Übertragungen in den Bereich der Science-Fiction erlebt: Robinson auf dem Mond. Bekannt ist auch Jules Vernes „Die geheimnisvolle Insel“. Aus den diversen Vertonungen ragt Jacques Offenbachs „Robinson Crusoe“-Operette heraus. Der Stoff erfuhr ferner nicht wenige Dramatisierungen sowie Verfilmungen, u. a. durch die Regisseure Luis Bunuel (1953), Caleb Dechanel (1988) und George Miller (1996) mit Pierce Brosnan in der Titelrolle. Schon bald nach dem ersten Erscheinen entstanden auch Romane, die das Thema weiterzuführen versuchten, zum Beispiel als Inselutopien wie in Johann Gottfried Schnabels „Insel Felsenburg“. Jean-Richard Bloch verfasste einen jüdischen Robinson-Roman, in dem der Protagonist Palästina als seine „Insel“ erlebt. Und auch aus China, das Robinson im Fortsetzungsteil ja selbst erkundet, ist ein Echo zu vernehmen. Umberto Eco schließlich spielt in seinem Roman „Die Insel des vorigen Tages“ nicht nur subtil auf Defoes Roman an, sondern setzt sich auch intelligent mit dem 17. Jahrhundert auseinander.

Ein Roman wie Robinson Crusoe, der auch als Glorifizierung imperialistischer Kolonialisierung gelesen werden konnte, hat moderne Schriftsteller auch dazu motiviert, die Geschichte aus veränderten Perspektiven zu erzählen. Im Drama „Man Friday“ von Adrian Mitchell (1974) spielt sich alles aus der Sicht Fridays ab, der aus dem Staunen über das besitzergreifende, neurotische Gebaren des weißen Mannes nicht herauskommt. Robinson wird für seine Taten, mit denen er sich an der Natur und am Menschen versündigte, vor Gericht gestellt. Sehr bekannt geworden ist William Goldings Roman „Herr der Fliegen“, in dem wir statt eines Schiffbruchs einen Flugzeugabsturz erleben, worauf eine gerettete Schulklasse eine negative Robinsonade, nämlich den Ausbruch des moralischen Chaos, auf der Insel erlebt.

Da der Roman Robinson Crusoe wegen seiner patriarchalischen Konzeption die Frau keine nennenswerte Rolle spielen lässt und da er auch als Glorifizierung imperialistischer Kolonialisierung gelesen werden konnte, musste er die Schriftsteller gerade in unserer Zeit zu subversiven Gegen-Texten provozieren. Ein wichtiges Beispiel ist etwa „Suzanne und der Pazifik“ von Jean Giraudoux. Darin versucht der moderne Autor eine Widerlegung des Robinson Crusoe aus weiblicher Sicht. Er wendet sich gegen die Anmaßung unserer technologischen Zivilisation, die Natur unterwerfen und vervollkommnen zu können. Besonders subtil und hintergründig erscheint uns indes der Roman „Foe“ des südafrikanischen Schriftstellers John Michael Coetzee. Hier ist der Icherzähler nicht Crusoe, sondern die Frau Susan Barton, die in sein Leben getreten ist. Sie sucht mit Freitag den Schriftsteller Foe in seiner Londoner Wohnung auf, damit er ihre Lebensgeschichte verfasst. Ihr eigener, später aus weiblicher Perspektive geschriebener Text gerät damit in eine Art kritischer Konkurrenz zu Defoes Robinson Crusoe. Der Cruso, von dem bei Susan die Rede ist, ist durch die Jahre auf der Insel degeneriert, sein Horizont hat sich verengt. Ein Tagebuch hat er nie geführt, noch hat er ein Boot gebaut. Ohnehin hatte er aus dem Wrack nichts als ein Messer retten können. Bei Susan regt sich der Verdacht, dass Freitags Verstümmelung - seine Zunge wurde ihm herausgeschnitten - von Cruso zu verantworten ist, der nie an sprachlicher Kommunikation mit dem Schwarzen interessiert war. Der Schriftsteller Defoe hat - dies ist die implizite „Unterstellung“ - mit seiner Kolonisatorenmentalität des frühen 18. Jahrhunderts den „tatsächlichen“ Hintergrund der Geschichte in sein Gegenteil verkehrt: Da man vor den bösen Negern mit ihrem gewohnheitsmäßigen Kannibalismus, wie er glaubt, nur auf der Hut sein kann, lässt er Robinsons ganzes Denken und Tun von dieser Furcht beherrscht sein. Daher rettet Robinson in Defoes Roman den Zimmermannskasten und eine Muskete. Unwahr ist die uns bekannte Geschichte aus Coetzees Perspektive auch, weil Defoe den ganzen Aspekt von Crusos Beziehung zu einer Frau „unterschlagen“ hat. Defoe erweist sich aus der Sicht von Coetzees Susan mit seinem in patriarchalischer Ideologie verfassten Roman als Widersacher der Realität und erhält konsequenterweise seinen ursprünglichen Namen „Foe“ zurück, der, wie wir eingangs erwähnten, im Englischen konkret auch „Feind“ bedeutet.

In Defoes Robinson Crusoe lässt sich im Übrigen die interessante Beobachtung machen, dass in die fiktive Gestalt Robinsons auch einige Züge von Defoes eigener Persönlichkeit, natürlich in verwandelter Form, eingegangen sind. Defoe hat eine solche Verbindung im dritten Teil von Robinson Crusoe (Serious Reflections of Robinson Crusoe) selbst hergestellt. Wie sein Robinson wurde ja auch er von einer inneren Rastlosigkeit getrieben, die es ihm unmöglich machte, dem Wunsch seines Vaters nachzukommen und Prediger zu werden. Wie seinen Robinson zeichnet auch Defoe der unbeugsame Wille aus, die größten Schwierigkeiten gegen alle Widerstände zu bewältigen. Dabei ist beiden die besondere Gabe förderlich, alles negativ Erlebte ins Positive zu wenden und die Realität nach eigenem Gutdünken zu transformieren; in Robinsons Worten: Ich lernte, meinen Zustand mehr von der hellen als von der düsteren Seite aus zu betrachten. Ohne diese Begabung wäre Defoe selbst schon früh gescheitert. Und ganz wie sein Robinson dachte er sich immer neue Projekte aus, auch solche, die über seine Verhältnisse gingen. Auch er konnte von sich sagen, dass er selten müßig war und Begonnenes zu Ende brachte. Dabei kennen beide sehr wohl auch Fehlschläge; und wenn Robinson mehrfach beklagt, es sei seine Veranlagung, für seinen eigenen Ruin zu arbeiten, so denkt Defoe bei dieser Charakterisierung gewiss auch an sich selbst. Sein Leben als Geschäftsmann und politisch einflussreiche Persönlichkeit spielte sich in markanter Weise zwischen Erfolg und Versagen ab. Wenn Crusoe zeitweise der Versuchung erliegt, das Gespräch mit sich selbst und mit Gott der sozialen Gemeinschaft vorzuziehen, so erinnert dies zugleich an die Tatsache, dass auch Defoe zwar einerseits oft eine Rolle in der Gesellschaft zu spielen suchte, andererseits aber doch ein Mensch war, der auch die Zurückgezogenheit in sich selbst zum Überleben benötigte.“

 

Daniel Defoe und sein Wirken

 

Gesellschaftlicher Fortschritt, neue Gedanken kommen selten von Menschen, bei denen alles klappt und deren Hintern von der Sonne geküsst wurde - sondern von solchen, die die Verhältnisse von außen bzw. von unten sehen, selbst auf die eine oder andere Art und Weise „Schiffbruch“ erlitten haben und sich in andere Menschen hinein versetzen können.

Zu Letzteren gehört Daniel Defoe. Durch seine Religion diskriminiert (die ihm allerdings eine exzellente Bildung ermöglichte), durch wirtschaftliche Pleiten mehrfach dem Ruin entgegen sehend, wusste er, wie es sich anfühlt, „unten“ zu sein.

In der britischen Politik war er eine wichtige Person, hatte aber mit den jeweiligen Regime-Wechseln der damaligen Zeit stark zu kämpfen.

Der Wurm wird hauptsächlich aus dem Buch von Wolfgang Riehle zitieren und danach auf den Pranger und einzelne Werke über die pfälzischen Flüchtlinge, die Pest und Kapitän Singleton näher eingehen.

 

Erziehung

 

Wolfgang Riehle: „Nachdem der Vater seine materielle Situation verbessert und ein zweites Mal geheiratet hatte, zog die Familie in eine neu erbaute Wohnung, die näher beim geschäftlichen Zentrum der City gelegen war. Mit seiner Stiefmutter dürfte sich Daniel nicht sehr gut verstanden haben. Man schickte daher den Jungen, wie Frank Bastian vermutet, in ein von einem Prediger geführtes privates Internat in Dorking, nicht weit von London entfernt, einem Ort, zu dem die Foes familiäre Beziehungen unterhielten.

Schon als Zehnjähriger besaß Defoe ein feines Sensorium für die politischen Spannungen und Konflikte seiner Zeit, die damals untrennbar mit religiösen Differenzen verbunden waren. Die Foes gehörten als Presbyterianer mit den so genannten Independents zu den stärksten Gruppen der religiösen Abweichler, der Dissenters. Sie anerkannten die Church of England nicht, und sie hatten im vorausgegangenen Bürgerkrieg für die Rechte des Parlaments und gegen den König gekämpft. Die Presbyterianer indes propagierten nicht die Abschaffung der Monarchie, sie wollten lediglich deren Macht beschränken, bekannten sich aber nicht zur Church of England. Als Folge ihrer Opposition waren den Dissenters seit dem so genannten Test Act von 1673 sämtliche öffentlichen Ämter sowie die Universitäten verwehrt. Auch mussten sie um ihre persönliche Sicherheit besorgt sein, denn die Verfolgungen nahmen bedrohliche Ausmaße an. Zu Gottesdiensten konnten sie sich nur in eigenen Versammlungshäusern treffen. Indem Daniel in diesen Gemeinden aufwuchs, wurde er früh nicht nur mit puritanischer Frömmigkeit vertraut, sondern bekam bereits das Gefühl vermittelt, ein Außenseiter zu sein, der er zeitlebens auch geblieben ist. Später sollte er in Streitschriften gegen diese repressive Gesetzgebung ankämpfen. Andererseits wurde er aber auch in einem sehr progressiven Sinn erzogen, bildeten doch die Puritaner den Kern des erfolgreichen merkantilen Bürgertums. Der spezifische Bürgersinn war geprägt von Fleiß und harter Arbeit, klugem und wirtschaftlichem Denken. Er manifestierte sich ferner in Dienstbereitschaft und Selbstdisziplin, gegründet auf einem christlichen Tugendideal, aber auch auf einem Unabhängigkeitsbedürfnis und einem Misstrauen gegenüber der staatlichen Autorität.

Da die Dissenters keinen Zugang zu den Universitäten hatten, unterhielten sie eigene Akademien, die von der Regierung mit Argwohn bedacht wurden. Der sechzehnjährige Daniel, der nach dem Willen des Vaters die Predigerlaufbahn einschlagen sollte, kam in die Akademie in Newington Green, die von dem brillanten Geistlichen Charles Morton geleitet wurde. Bis zu seinem Lebensende sprach Defoe meist mit Stolz von der Erziehung, die er hier genoss, wo ein aufgeschlossener und skeptisch denkender Lehrer unterrichtete, wo man bereits die philosophischen Gedanken John Lockes diskutieren durfte, der in Oxford noch verboten war und der später Defoe nachhaltig beeinflussen sollte. Ebenfalls sehr wichtig war gerade für einen Mann wie Defoe, dass hier ganz neue Studienfächer wie Geschichte, Geographie, moderne Sprachen und Physik gelehrt wurden. Dabei stützte man sich in der Naturwissenschaft auf das Experiment, denn man war überzeugt, nur dadurch, und nicht in der traditionsreichen universitären Theorie, gebe sich Gott in der Welt zu erkennen. Es kam auch einer revolutionären Neuerung gleich, dass der Unterricht in englischer statt wie bisher in lateinischer Sprache abgehalten wurde und dass sich Morton beim Unterricht um Klarheit und Einfachheit des sprachlichen Ausdrucks bemühte. Man behandelte an dieser theologischen Akademie alle möglichen Themen, und man machte auch nicht Halt vor den schwierigsten Fragen, wie jener nach der Existenz Gottes.

In Defoes Werken ist der Einfluss John Lockes (1632 – 1704) recht deutlich zu erkennen, vor allem im Roman Robinson Crusoe. Themen, bei denen dies erkennbar wird, sind Aspekte des Empirismus, das Verhältnis zwischen Arbeit und Eigentum, die politische Theorie und die religiöse Toleranz. Lockes politische Schriften mit der Definition menschlicher Grundrechte übten eine äußerst nachhaltige, im Grunde bis in die Gegenwart andauernde Wirkung aus.

Möglicherweise erlebte der junge Defoe vorübergehend eine Glaubenskrise, denn im dritten Teil seines Robinson Crusoe schildert er sehr einfühlsam, wie ein junger Student, der zunächst Mitglied eines gotteslästernden Atheistenclubs ist, durch ein Erweckungserlebnis bekehrt wird, um anschließend in einem längeren Dialog einen anderen Atheisten zum Glauben zurückzuführen. Der junge Defoe bekräftigt indes seinen Glauben in Meditationen über gehörte Predigten; sie sind geschrieben in schöner, klarer und schwungvoller Handschrift.

Den eigentlichen Beweis für die Existenz Gottes sieht er darin, dass dieser sich als Vorsehung in seinem Leben bemerkbar gemacht habe. Der Begriff Vorsehung nimmt eine zentrale Funktion in Defoes Religiosität ein. Dabei geht er freilich nicht so weit wie die Calvinisten mit ihrer Prädestinationslehre, für die das menschliche Leben göttlich vorbestimmt ist; aber Gott hat die Möglichkeit, auf vielfältige Weise dem Menschen für seine Entscheidungen Fingerzeige zu geben, ohne doch wesentlich in den Lauf der Natur einzugreifen; denn diese ist eine Maschine, die sich nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung erhält. Die puritanische Religiosität, zu der sich auch Defoe bekennt, konzentriert sich auf die Ethik: Dem Sündenbewusstsein folgt mit Notwendigkeit die Reue, worin die Hoffnung auf Vergebung begründet ist. Wie tief ist indes Defoes Religiosität gewesen? Immerhin hat er den Gedanken äußern können: Wenn sich die Glaubensinhalte einst als irrig erweisen, welchen Schaden hätte man eigentlich davon? Man hat sich doch nur bemüht, ein bißchen mehr wie ein Mensch zu leben ...

Im Gegensatz zu seinem Schulfreund mit dem interessanten Namen Timothy Cruso gibt Defoe die Absicht auf, Prediger zu werden; ihm ist inzwischen klar geworden, dass sich sein Lebensplan anders gestalten wird. Er lässt sich in Wirtshäusern sehen, ist dem Alkohol - allerdings in Maßen - zugetan, besucht die Theater, wird jedoch abgestoßen von den unmoralischen Komödien der Restaurationszeit, insbesondere den sehr lockeren Sitten des Publikums.“

Ein „gotteslästernder Atheistenclub“ an einer Universität im England des 17. Jahrhunderts – hat schon mal jemand so etwas für Deutschland vernommen, etwa im 19. Jahrhundert? Deutschland war gesellschaftlich meistens weit hinten dran.

 

Wirtschaftliche Entwicklung

 

„Defoe hatte seine berufliche Entscheidung getroffen; dem Willen seines Vaters, presbyterianischer Prediger zu werden, vermochte er zwar nicht zu entsprechen, aber wenn er eine Karriere als Kaufmann begann, folgte er doch immerhin dessen beruflichem Beispiel. Er betrieb keinen Einzelhandel mit verschiedenartigen Waren, sondern kaufte etwa Strumpf- und andere Wirkwaren und verkaufte sie en gros. Noch wichtiger aber war ihm der Handel mit importierten Weinen und Weinbränden. Auch unterhielt er transatlantische Handelsbeziehungen zu den englischen Kolonien in Amerika. Dorthin exportierte er Gemischtwaren und importierte den auf Plantagen daselbst angebauten Tabak. Die kaufmännische Welterfahrung bedeutete für ihn Bildung, während er von der traditionellen humanistischen Schulung nie viel gehalten hat. Schon früh war es sein sehnlicher Wunsch, ein „Gentleman“ zu werden, denn er war überzeugt, dass sich der wahre Adel nicht der Abstammung, sondern mutigem, gemeinnützigem Handeln, geistiger Überlegenheit durch Wissen und Bildung sowie einem großmütigen Herzen und höflichem Benehmen verdanke. Den Beruf des Kaufmanns hielt er dafür sehr geeignet, er erschien ihm sogar als die vornehmste Lebensart, deswegen hat er sich anfangs ganz mit ihm identifiziert. Doch trieb ihn noch ein weiterer Gedanke um. Er deutet einmal an, dass er von der Idee, Bücher zu schreiben, fasziniert sei, weil man mit ihnen zur ganzen Welt sprechen könne. Auch im Kaufmannsstand empfindet sich Defoe als Intellektueller, der unter „Buchhaltung“ eher die Vergrößerung seiner Bibliothek und die Abfassung eigener, für den Druck bestimmter Texte als die kaufmännische Buchführung versteht. Dies und die Tatsache, dass er gar keine entsprechende kaufmännische Lehre absolviert hatte, sondern in diesem Beruf dilettierte, musste ihn allerdings über kurz oder lang in eine finanzielle Katastrophe treiben.

Bald nach seiner beruflichen Konsolidierung gründete er einen eigenen Hausstand. Mitten im Winter 1683/84, dem kältesten seit Menschengedenken, als man auf der Themse Schlittschuh laufen konnte, heiratete er die zwanzigjährige Mary Tuffley. Als einzige Tochter eines begüterten protestantischen Zimmermanns brachte sie eine stattliche Mitgift in die Ehe. Sie gebar ihm nicht nur acht Kinder, von denen sie sechs großziehen konnte, ihr gelang es auch, die Familie selbst in extrem schwierigen Zeiten zusammenzuhalten. Trotz größter Belastungen und gewisser Anzeichen einer späten Krise sollte diese Ehe ein Leben lang Bestand haben.

Für sein Handelsgeschäft wählte Defoe ein Haus in unmittelbarer Nähe der Londoner Börse, für das er eine hohe Miete zu zahlen hatte. Im Erdgeschoss waren die Waren gestapelt, darüber befand sich sein Kontor, die oberen Stockwerke bildeten den Wohnbereich, und die importierten Weine lagerten wohl im Keller. Für Haus und Geschäft leistet er sich fünf Bedienstete. Auch das Bürgerrecht der Londoner City hat er sich gekauft. Zudem hatte er ein Handelsschiff mit dem viel sagenden Namen „Desire“ erworben. Doch leider geriet dies Schiff mitsamt seiner Ladung unter mysteriösen Umständen in Verlust, offenbar weil es gekapert wurde …

Erstaunlicherweise gelingt es Defoe nach einiger Zeit, seine finanzielle Katastrophe zu überwinden. Dafür kam ihm auch die Tatsache zugute, dass er in die Kommission für die Steuer auf Glaswaren gewählt wurde. Hinzu trat später noch das Angebot einer Mitarbeit bei den Lotterien. Es gelang ihm auch, einen Teil seines früheren Landbesitzes bei Tilbury nahe der Themsemündung zurückzukaufen. Dort aktivierte er eine bereits bestehende Ziegelmanufaktur, die neben Backsteinen auch die S-förmigen Dachziegel herstellte, die man bisher aus Holland importiert hatte. Viele Versammlungshäuser der Puritaner wurden gerade mit diesen Ziegeln gedeckt, und man kann daher annehmen, dass er auch lukrative Aufträge von eigenen Glaubensbrüdern erhalten hat. In der Tat florierte die Manufaktur auch einige Jahre. Er bot damit Arbeit für 100 arme Familien und erwirtschaftete einen jährlichen Gewinn von 600 Pfund. So reduzierten sich seine Verbindlichkeiten, ja er konnte sogar den größten Teil seines Schuldenbergs zurückzahlen. Inzwischen hat er auch seinen Namen „Foe“ in „De-Foe“ geändert; es galt, seinen Anspruch auf den Status eines Gentleman zu unterstreichen.“

 

Im Strudel der Politik

 

„Defoes Leben fällt in eine bedeutende Phase der englischen Geschichte. Schon vor einiger Zeit hatten sich zwei große politische Gruppierungen gebildet, die seit 1679 die Namen Tories und Whigs tragen. Die Tories bekannten sich zur Begründung der Monarchie durch göttliches Recht sowie zur Einheit von Kirche und Staat. Einen Widerstand gegen die königliche Gewalt hielten sie für unerlaubt. Anders die Whigs: Sie bestritten die göttliche Legitimation der königlichen Autorität, nahmen protestantischen Widerstand für sich in Anspruch, sie waren bereit, den Dissenters eine politische Heimat zu gewähren, und sie wachten besonders über die Erhaltung der bisher erzielten englischen Freiheiten. Das Misstrauen gegen den König fand eine Berechtigung in der oft undurchsichtigen Politik Karls II., der sich Ludwig XIV., den französischen (und katholischen) Sonnenkönig, der ihm Exil gewährt hatte, zum Verbündeten gegen das protestantische Holland macht und sich heimlich zum Katholizismus bekennt. Sein katholischer Bruder Jakob wagt es sogar, öffentlich die Messe zu besuchen. Musste man daher nicht befürchten, der Katholizismus werde wieder eingeführt, besonders als es hieß, die Katholiken hätten einen Umsturz geplant („Popish Plot“)? Drohte nicht eine Zurücknahme der bisher erreichten politischen Rechte und Freiheiten? Papsttum und Versklavung galten jedenfalls als Synonyme.

Als dann der uneheliche Sohn Karls II., der Herzog von Monmouth, als Protestant einen Anspruch auf die Krone erhob, bekräftigte Karl die traditionelle These: Der König ist nach göttlichem Recht eingesetzt, ihm gebührt daher die absolute Gefolgschaftstreue. Der Herzog musste fliehen, und die Dissenters fühlten sich wieder in hohem Maße gefährdet, auch deshalb, weil sich besonders in Frankreich die Stimmung erneut gegen die protestantischen Hugenotten richtete. Schreckensmeldungen über äußerst brutale Verfolgungen der Hugenotten nach der Aufhebung des Edikts von Nantes gelangten nach England, wo viele verjagte Anhänger dieser Glaubensrichtung Zuflucht gefunden hatten. Vollends gefährlich wurde die Lage für die Dissenters, als Karl II. 1685 starb und ihm sein Bruder als Jakob II. auf dem Thron folgte.

Wie verhielt sich nun der politisch interessierte und engagierte Defoe in dieser äußerst prekären Situation? Er war überzeugt, dass Jakob nicht das Recht auf die Krone beanspruchen konnte. Dennoch blieb er zeitlebens ein Befürworter der Monarchie. Als der Herzog von Monmouth aus seinem Exil zurückkehrte und eine offene Rebellion gegen Jakob anzettelte, schloss sich der junge Defoe dem Kronprätendenten zeitweise an. Dies war äußerst gefährlich; die Truppe des Herzogs wurde denn auch in einer blutigen Schlacht völlig aufgerieben; die Anführer der Rebellion wurden hingerichtet, und auch der Herzog selbst verlor anschließend sein Leben durch den brutalen Racheakt einer öffentlichen Enthauptung. Indem Defoe sich bei dieser Rebellion persönlich engagiert, greift er erstmals direkt in die hohe Politik ein und gibt zugleich eine Probe seines Wagemutes. Allerdings hat er sicher nicht an der entscheidenden Schlacht teilgenommen, sondern hat bei diesem Engagement doch auch Vorsicht walten lassen. Entweder hielt er sich eine Zeit lang versteckt oder zog es vor, was wahrscheinlicher ist, sich mit seiner Frau im von ihm so geschätzten Holland aufzuhalten. Offenbar von Holland aus sucht er dann eigens um Begnadigung an; sein Name wird tatsächlich auch in den königlichen Begnadigungserlass aufgenommen.

Jakob verfolgte insgesamt eine recht unkluge Politik. Er versuchte zwar, die Dissenters auf seine Seite zu ziehen, doch agierte er wie ein absolutistischer Monarch, sodass er selbst die Tories vor den Kopf stieß. Einen gewissen Trost empfand man allgemein darin, dass seine Tochter Maria protestantisch war. Doch plötzlich wurde die Nachricht verbreitet, die Königin erwarte ein Kind. Dies ließ die Furcht vor einem katholischen Thronfolger aufkommen, und Defoe witterte ebenso wie die Protestanten insgesamt dahinter einen glatten Betrug. Die Whigs und die gemäßigten Tones beriefen daher im November 1688 Marias Gemahl, den Holländer Wilhelm III. von Oranien, zum neuen englischen König. Wilhelm landet mit seiner Streitmacht an der englischen Küste. Da Jakob diesmal eine Schlacht für aussichtslos hält, zieht er es vor, mit seiner Familie vorsorglich nach Frankreich zu fliehen. Dort sammelt er ein Heer und stellt sich im Jahr 1690 im vorwiegend katholischen Irland den Truppen Wilhelms von Oranien an einem Fluss namens Boyne, wo er in einer Schlacht geschlagen wird, die die nordirischen Protestanten des Oranierordens bis heute jedes Jahr mit großem Gefühlsaufwand als Sieg feiern.

Wilhelm und Maria regieren gemeinsam. Nicht nur erhalten die Dissenters kirchliche Freiheiten und eine gewisse Sicherheit durch die Toleranzakte, sondern der König unterzeichnet 1689 auch die so genannte Bill of Rights. Damit sollte das Verhältnis von König und Parlament auf lange Zeit geregelt werden. Diese Lösung eines Konflikts ist als „Glorreiche Revolution“ in die Geschichte eingegangen. „Glorreich“ wird sie genannt, weil die Rechte des Volks unblutig durchgesetzt werden konnten.

Nun hatten sich allerdings die Machtverhältnisse zugunsten des Parlaments verschoben. Keineswegs aber hatte dieses damit die uneingeschränkte Souveränität erlangt. Es entstand daher ein langer Streit über die genaue Abgrenzung der Machtbefugnisse von Parlament und König. Der König hatte noch immer wesentliche Rechte; er konnte nach seinem Gutdünken das Parlament einberufen und dessen Sitzungsperiode beenden, er ernannte die Minister, leitete die Außenpolitik und hatte somit auch die Entscheidung über Krieg und Frieden. Den Whigs gingen diese Rechte begreiflicherweise viel zu weit. Dem jungen Defoe erschien andererseits die Macht des Königs noch zu gering; denn obwohl er als Dissenter ein Sympathisant der progressiven Whig-Partei war, konnte er sich an der Spitze der Regierung nur eine willensstarke politische Persönlichkeit vorstellen, die auch notfalls zu einem Krieg bereit war. Er hielt allerdings einen ausreichenden Schutz gegen Machtwillkür für unerlässlich; einen Tyrannen dürfe es auf keinen Fall geben.“

 

Der echte Engländer

 

„In ihrer Absicht, die Rechte des Königs mehr und mehr zu beschränken, nützen die Whigs die Tatsache aus, dass Wilhelm kein Engländer ist. Als Sympathieträger kann man ihn ja nicht gerade bezeichnen: Ihm fehlen Ausstrahlung und politisches Charisma. In dieser Situation greift Defoe mit seiner eigenen Feder erstmals direkt in die politische Willensbildung seiner Zeit ein. Er sieht sich nicht mehr nur als Geschäftsmann, sondern hat den Ehrgeiz, mit seiner journalistischen Begabung, die er mit Pamphleten bereits bewiesen hatte, von nun an die öffentliche Meinung zu beeinflussen, also propagandistisch tätig zu sein. So übt er öffentliche Kritik an der starren Abwehrhaltung der Whigs gegenüber Wilhelm und beschließt, für diesen König Stimmung zu machen. Eine starke, handlungsfähige Regierung sei nötig, nicht zuletzt deshalb, weil Frankreich unter Ludwig XIV. sich als großer außenpolitischer Rivale verhalte und man geradezu eine französische Invasion befürchten müsse, denn Ludwig habe ein Interesse daran, auch in England der katholischen Sache zum Sieg zu verhelfen.

Mit bezeichnender Entschlossenheit geht Defoe in dieser Lage im Jahr 1700 sogar so weit, sich dem König als Berater anzutragen. Defoe lernt ihn schätzen als einen Mann tiefster Frömmigkeit, Aufrichtigkeit und ungeheuchelter Religiosität. Auch Wilhelm muss bald zu ihm Vertrauen gefasst, eine Sympathie muss sich zwischen den beiden entwickelt haben, die wohl auf einer gewissen übereinstimmenden Mentalität basierte. Der gesundheitlich nicht eben robuste Wilhelm ließ sich von dem dynamisch-tatendurstigen und wortgewandten Defoe offenbar schon recht bald überzeugen, dass die entscheidende Voraussetzung für das Gelingen seiner Politik in der Unterstützung durch das Volk lag und dass dies nur durch eine entsprechende Überzeugungsarbeit zu erreichen war. Defoe verfolgte sein Ziel der politischen Beeinflussung mit besonderer Energie. Was heute mit Hilfe der Medien versucht wird, die Einwirkung auf die öffentliche Meinung, wollte Defoe als früher Vertreter des Journalismus mit seinen Pamphleten, dem damaligen politischen Medium, erreichen. Wilhelm hat Defoe bei seinem Versuch einer bewussten Steuerung der öffentlichen Meinung völlig vertraut.

In einigen Schriften hatte Defoe nicht nur vor einer französischen Aggression gewarnt, sondern auch vor der Gefährdung des englischen Handels, insbesondere durch einen möglichen Zugriff Ludwigs XIV. auf die Niederlande. Im Hinblick auf die allgemein gespannte Lage bedeute dies aber auch, dass man auf einen Krieg mit Frankreich vorbereitet sein müsse. Da Wilhelms Außenpolitik, propagandistisch unterstützt von Defoe, auf ein Gleichgewicht der Mächte in Europa zielte, hatte er auf eine Große Allianz zwischen England, den Niederlanden, Österreich, Spanien, Savoyen und einigen Reichsfürsten gegen den 3. Eroberungskrieg Ludwigs XIV. (1688-97) gesetzt. Nach dem Ende des neunjährigen Krieges durch den Vertrag von Ryswick plädiert Defoe weiterhin für große Wachsamkeit und ständige Kampfbereitschaft, weshalb er vehement für die Gründung eines stehenden Heeres argumentiert. Vor einer solchen Konsequenz allerdings fürchteten sich viele Engländer, nicht nur wegen der hohen Kosten, sondern weil sie darin, wie ihre jüngste Geschichte zeigte, eine Macht im Staate erkannten, die auf Dauer die politischen Freiheiten gefährden könne. Defoe aber war alles andere als ein Pazifist, erschien ihm doch die Kriegskunst als eine besonders faszinierende menschliche Errungenschaft. Er plädiert darum für ein solches Heer und bestärkt damit Wilhelms Absichten. Für die Zustimmung der Öffentlichkeit zur Bemühung Wilhelms um eine entscheidende Stellung Englands in Europa hat Defoe seine meinungsbildenden Dienste geleistet, die vom König und den Whigs anerkannt werden.

Da der Oranier Wilhelm in England jedoch noch immer ein unbeliebter König ist, verfasst Defoe noch im ersten Jahr des neuen Jahrhunderts eine berühmt gewordene Dichtung: Der Echte Engländer (The True-Born Englishman). In ihr will er das Volk der Holländer sozusagen aufwerten, indem er die Engländer den anderen europäischen Nationen gegenüberstellt. Er lässt die stereotypen Vorstellungen, die die Völker voneinander hatten, Revue passieren. Demnach galten die Deutschen als Trunkenbolde, die Italiener als Lüstlinge, denn sie leben in der heißen Zone, wo Vergewaltigung und Sodomie verbreitet sind. Die Franzosen erkennt man an unbeherrschter Leidenschaft, sie sind eine tanzende Nation, wetterwendisch und nicht wahrhaftig. Und so geht es weiter in diesem Völkerreigen. Wie nimmt sich dagegen die englische Nation aus? Wer sie beurteilen will, daran erinnert Defoe, sollte nicht vergessen, dass das Land anfangs eine Beute für alle anderen Nationen war, die es überfielen und sich mit dessen Bewohnern vermischten: Jede Nation, die Englands Kräfte schränkte ein,/ Bracht' eigne Sprach' und Sitten neu hinein … Ein unsich‘res, recht ungleiches Volk ist so entstanden,/Indem sich alle Nationen in ihm verbanden … “Ein echter Engländer“ ist ein Widerspruch,/Ironisch' Wort und Wahrheitsbruch. Wie undankbar verhalten sich die Engländer gegen Fremde, vor allem gegen die Holländer und besonders gegen König Wilhelm, vergessen sie doch darüber, dass schon sehr lange viel ausländisches Blut in ihren Adern fließt und sie eine gemischte Nation bilden. Schon deshalb sei die Idee eines waschechten Engländers lächerlich: sie sind doch fast alle Ausländer. Was den Menschen wirklich groß mache, sei gewiss nicht seine Zugehörigkeit zu irgendeiner Nation, sondern - ganz im Sinne des römischen Satirikers Juvenal - nur persönliche Tugend.

Dieser kühn satirische Ton, verbunden mit oft geistreichem sprachlichem Witz und einer bereits aufklärerischen Haltung, brachte Defoe einen ersten großen literarischen Erfolg. Das Werk wurde äußerst populär und erlebte innerhalb weniger Monate zehn Auflagen. Mit gehörigem Stolz blickte Defoe auf diese plötzlich erreichte Bekanntheit, und in späteren Publikationen nannte er sich denn auch den Autor des Echten Engländers. Er war sich aber auch der unerwünschten Nebenwirkung bewusst, dass ihm nun zugleich der Ruf einer berüchtigten Persönlichkeit anhaftete, denn einverstanden mit dieser despektierlichen Charakterisierung des Engländers waren viele natürlich nicht.

Nach dem Tod Königin Marias im Jahre 1694, für deren Begräbnisfeierlichkeiten übrigens Henry Purcell seine bekannte, tief melancholische Trauermusik komponiert hat, regierte Wilhelm III. allein.

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Merklich hatten jedoch seine physischen Kräfte nachgelassen, und daher wurde für ihn, den kinderlosen Witwer, die Thronfolgefrage aktuell. Es war seine Idee, dass nach dem Tod Annas (einer protestantischen Tochter Jakobs II.) das protestantische Haus Hannover gerufen werden sollte, das durch eine Tochter Jakobs I. mit dem englischen Königshaus verwandt war. Defoe engagierte sich sehr für diese Idee Wilhelms. Bei alledem hatte sich die Auffassung des Königtums inzwischen gründlich gewandelt. Eine politische Schrift John Lockes hatte die neue Haltung klar definiert: Der König hat die Krone in einer Art Treuhandschaft erhalten; das Verhältnis von König und Volk ist somit nur noch rein praktischer Natur. Defoe dagegen glaubt zwar auch nicht mehr an ein göttliches Erbrecht der Krone, aber doch noch an einen göttlichen Auftrag des Königs. Diese Auffassung sucht er mit der langen gereimten Dichtung Nach göttlichem Recht (Jure Divino) zu beweisen, an der er etliche Jahre arbeitet.

Noch im Jahr 1701 stirbt Jakob II. im Exil. Sein Sohn Jakob Eduard wird bereits von Ludwig XIV. als neuer rechtmäßiger englischer König anerkannt. Doch das Unterhaus bleibt in dieser Lage untätig. Da versuchen fünf zornige Männer aus der Grafschaft Kent durch eine Petition das Parlament zu einem entschiedenen Engagement zu bewegen. Freilich ohne Erfolg, denn das Parlament mit einer Tory-Mehrheit lässt die Männer ohne gesetzliche Grundlage kurzerhand ins Gefängnis werfen. Dies erbittert Defoe derart, dass er unmittelbar darauf mit einer eigenen Schrift gegen besagte Aktion des Parlaments protestiert. In einem provozierenden Text mit dem kryptischen Titel Denkschrift der Legion (Legion's Memorial) kritisiert er das Unterhaus im Namen der gesamten Wählerschaft. In seiner Argumentation beruft er sich auf das Grundgesetz der Vernunft. Jede Macht, sagt er, die sich über das Gesetz stellt, ist tyrannisch und muss es sich daher gefallen lassen, direkt vom Volk in einer Aktion dieser Art kontrolliert zu werden. Der neue Speaker des Unterhauses, Robert Harley, mit dem Defoe später politisch eng verbunden sein sollte, war bass erstaunt über den aggressiven Ton und die heftige Kritik der anonymen Schrift. Doch Defoe hat Erfolg; die Überbringer der Petition werden sofort aus dem Gefängnis entlassen. Wer der Verfasser der Denkschrift war, galt bald als offenes Geheimnis, und von nun an hielten die Regierenden Defoe für politisch gefährlich. Seine Aktion war ebenso kühn wie seine „Unterschrift“: Unser Name ist Legion, denn wir sind viele. Die damaligen Leser identifizierten sie nämlich unschwer als ein Evangelienzitat - doch was für eines! Man stelle sich vor: Defoe nimmt für sich die Worte eines Oberteufels einer Schar von Dämonen in Anspruch, die Jesus aus einem Besessenen austreibt und die er dann in eine Schweineherde fahren lässt. Es sollte daher auch nicht lange dauern, bis Defoe selbst von seinen Gegnern unter Anspielung auf dieses Zitat das Attribut „Teufel“ als Retourkutsche erhielt. Nach der Auflösung des Parlaments durch den König und nach einer Neuwahl setzt sich die politische Überzeugung, für die Defoe gewirkt hatte, durch, es sei der Einmischung Frankreichs mit Gewalt entgegenzutreten. Voller Stolz konnte er jetzt von sich sagen, dass er zu einem wichtigen politischen Faktor geworden war.“

 

Am Pranger

 

„Nicht lange nachdem Wilhelm das neue Parlament 1702 mit einer wirkungsvollen Rede eröffnet hatte, fiel er unweit des Hampton Court-Palastes vom Pferd und starb wenige Tage später. Was der plötzliche Tod dieses frommen, pflichtbewussten und engagierten Königs für Defoe bedeutete, wie tief er diesen auch persönlichen Verlust empfand, ist kaum überzubewerten. Doch die Weltpolitik nahm ihren Lauf. Auf den Thron folgte, der Nachfolgeregelung entsprechend, Jakobs zweite Tochter Anna. Da sich die Whigs wie die Tories im Widerstand gegen Frankreich nach wie vor einig waren, erklärten England und die mit ihm verbündeten Staaten der zweiten Großen Allianz dem französischen Rivalen sofort den Krieg, einen Krieg, der als der „Spanische Erbfolgekrieg“ in die Geschichte eingehen sollte und bei dem sich der Herzog von Marlborough durch glänzende Kriegführung und eindrucksvolle Siege, vor allem in der Schlacht von Blindheim (engl. Blenheim) auszeichnete. Allerdings musste Defoe bald erkennen, dass sich, nicht zuletzt wegen eines Zugewinns der Tories bei Parlamentsneuwahlen, die innenpolitische Situation verändert hatte und sein politischer Einfluss durch Wilhelms Tod mit einem Mal entscheidend geschwächt war. Denn Anna zeigte sich von Defoe völlig unbeeindruckt; sie neigte entschieden den Tories zu.

In der veränderten politischen Lage musste man mit einer lang andauernden Tory-Mehrheit im Unterhaus rechnen. Dies bedeutete für die Dissenters erneut eine größere Bedrohung, sie wurden stärker als bisher vom öffentlichen Leben ausgeschlossen durch ein neues, ihre politische Aktivität erschwerendes Gesetz. Zudem wurde die Stimmung gegen sie noch durch einen populistischen, ja extremistischen Tory-Geistlichen angeheizt. Dieser hatte die Church of England aufgefordert, „die Dissenters mit der blutigen Flagge des Widerstandes zu konfrontieren“. Wiederum fühlte sich Defoe zum Eingreifen mit seiner wichtigsten Waffe, dem Pamphlet, aufgerufen. Doch war es wirklich nur die Sorge um die Zukunft der Dissenters, die ihn erneut zur Feder greifen ließ? Bot sich nicht in einer Zeit, da Religion und Politik noch nicht strikt zu trennen waren, wiederum eine Möglichkeit zu politischer Einflussnahme und zu einem weiteren Auftritt auf der politischen Bühne? Diese Fragen stellen sich, weil er für seine Replik auf den Hetzprediger eine äußerst provokante Form wählt: Er schlüpft in die Rolle eines anglikanischen Feindes der Dissenters und plädiert für ihre Vernichtung oder Vertreibung. Die Leser dieses Pamphlets mit dem aggressiven Titel Kurzen Prozeß mit den Dissenters! (The Shortest Way with the Dissenters) trauten ihren Augen nicht, und auch heute noch weckt es höchstes Erstaunen, wenn man darin liest, nur durch brutale Härte werde man das Dissenter-Problem lösen können; wer sich nicht bekehrt, gehört ausgerottet. Mit seiner Aufforderung, die religiöse Frage mit Gewalt zu lösen, sorgte dieser Text, der reißenden Absatz fand, für einen beispiellosen Sturm der Entrüstung. Als wenig später Defoe als Autor entlarvt war, gerieten die Dissenters in Zorn darüber, dass einer der Ihren einen solchen Text verfassen konnte, und auch die Tories erboste die Tatsache, dass der Autor es wagte, mit ihren geheimen Wünschen sein Spiel zu treiben.

Defoe war über diese Reaktion entsetzt, denn er sah sich völlig missverstanden, wollte er doch durch die Strategie satirischer Übertreibung die Absurdität einer konsequenten Verfolgung der religiösen Abweichler bewusst machen. Dabei machte er jedoch den entscheidenden Fehler, dass er in seinen Text zu unauffällige Signale für eine satirische Decodierung einbaute. Ja, schlimmer noch: Defoe sucht in seinem Pamphlet sogar noch die Argumente zu entkräften, die gegen ein solch radikales Vorgehen sprechen. Und er wirft den Dissenters vor, sie selbst hätten äußerste Brutalität gezeigt durch die Hinrichtung eines englischen Königs. Die Leser erinnerten sich ferner daran, dass sich Defoe auch sonst in dieser oder jener Frage gegen die Dissenters gestellt hatte. Indem er als Abweichler von der Sprachregelung der Dissenters auftrat, hatte er sich schon vor dem Erscheinen dieses Pamphlets bei ihnen unbeliebt gemacht. Konnte man daher aus all den genannten Gründen und wegen einer oft unklaren Metaphorik diesen Text mit seiner Aufforderung zur Bekämpfung der Dissenters anders als Aufforderung zu brutaler Gewaltanwendung verstehen? Wie Defoe aber betont, konnte er nicht daran zweifeln, dass die Thematik und die Wahl des Stils die Vorstellung unmöglich machten, daß der Text anders als ironisch zu verstehen sei. Sein großer Rivale Jonathan Swift, der Autor von „Gullivers Reisen“, der aus der Schicht des Landadels kam und politisch den Tories zuzurechnen ist, verstand sich besser auf diese Schreibweise, als er etwa 25 Jahre später seine Satire mit dem Titel „Ein bescheidener Vorschlag“ verfasste, mit der er ebenfalls zu einem gesellschaftspolitischen Problem Stellung zu nehmen suchte. Der Verfasser gibt vor, aus philanthropischer Sorge um den Bevölkerungsüberschuss Irlands sich um eine Lösung dieses Problems intensiv bemüht zu haben. Sie liege darin, den Geburtenüberschuss von 120.000 Babys armer Eltern für die menschliche Ernährung zu verwenden. Denn: „Von einem sachverständigen Amerikaner meiner Bekanntschaft in London ist mir versichert worden, dass ein junges, gesundes, gutgenährtes Kind im Alter von einem Jahr eine äußerst wohlschmeckende, nahrhafte und bekömmliche Speise sei, gleichviel, ob geschmort, gebraten, gebacken oder gekocht, und ich zweifle nicht, daß es in gleicher Weise zu Frikassee oder Ragout taugt.“ An diesem Text ist zweifelsfrei zu erkennen, dass er nur satirisch gemeint sein kann. Aber auch Swift bekam trotz dieser satirischen Eindeutigkeit Schwierigkeiten. Defoe hingegen schrieb sich mit seinem Kurzen Prozeß buchstäblich in die schwerste Krise seines Lebens hinein. Zwar hat er nur auf die Hetze eines Tory-Geistlichen geantwortet, aber der Text hat, unbeabsichtigt, sein eigenes Leben schicksalhaft verändert. Dies jedoch nicht nur im negativen Sinne, denn er hat auch eine positive Voraussetzung für seine spätere literarische Laufbahn geschaffen, nämlich die Ausbildung seiner Kunst der Fiktionalisierung.

Da sich Defoe durch sein Pamphlet Kurzen Prozeß mit den Dissenters! zu viele Feinde gemacht hat und daher fürs Erste öffentlich untragbar geworden ist, taucht er unter und wird alsbald mit folgender Beschreibung steckbrieflich gesucht: „Er ist mittelgroß, hager, etwa 40 Jahre alt, hat eine bräunliche Hautfarbe und dunkelbraune Haare, trägt aber Perücke; Hakennase, spitzes Kinn, graue Augen und ein großes Muttermal in der Mundgegend.“

Es traf ihn begreiflicherweise besonders hart, dass er gerade auch aus Kreisen der Dissenters heftig geschmäht wurde. Einer seiner Glaubensbrüder bot sich sogar persönlich an, den Dienst des Henkers zu übernehmen. Zeitweilig fand er Unterschlupf bei einem Londoner Weber; er wollte von dort die Regierung versöhnlich stimmen, indem er seine wahre Absicht zu erklären und ein Wiedergutmachungsangebot zu offerieren suchte. Doch ohne Erfolg. Als ihm in London der Boden zu heiß wurde, floh er in die Ferne, offenbar nach Schottland, natürlich unter einem Pseudonym, wobei er die Hauptstraßen, bekannte Städte und Plätze mied. In Schottland war er damals noch vor dem Zugriff des englischen Rechts sicher. Die Nachrichten, die ihn dort ereilten, waren freilich alles andere als ermutigend. Sein höchst anstößiges Pamphlet wurde öffentlich verbrannt. Er musste erkennen, dass auch seine private Situation äußerst prekär zu werden begann. Was sollte aus seiner Familie mit den zahlreichen Kindern werden, wo er doch noch immer Schulden hatte? Und seine Ziegelei - würde sie jetzt nicht nur seine Abwesenheit, sondern auch die Stornierung von Aufträgen der Dissenters für Material zum Bau ihrer Versammlungshäuser zu spüren bekommen? Ferner befürchtete er zu Recht, dass sein gesamter Besitz konfisziert würde, falls er ihn nicht auf seine Frau oder eine Vertrauensperson überschreibt. Wegen der nötigen Unterschriften entschließt er sich offenbar, heimlich nach London zurückzukehren. Danach überlegt er sich einen neuen Weg ins Exil, doch seine Kräfte und Nerven beginnen zu versagen, er sieht sich erneut gezwungen, sich bei dem Weber in Spitalfields zu verstecken. Doch das auf ihn ausgesetzte Kopfgeld hat schließlich den Verrat seines Unterschlupfs zur Folge. Eine von einer Wache eskortierte Kutsche bringt ihn in das berüchtigte Londoner Gefängnis Newgate.

Welch niederschmetternde Schande dies für ihn bedeutet haben muss, ermisst man, wenn man die Beschreibung dieses Gefängnisses durch seine Romanfigur Moll Flanders liest: Der höllische Lärm, das Brüllen, Fluchen und Schreien, der Gestank und der Schmutz und all das Furchtbare, das ich täglich sah, ließen mir den Ort wie ein Sinnbild der Hölle erscheinen, (jedenfalls) eine Art Vorhof dazu. Zunächst kam er in das allgemeine Gefangenenlager dieser Anstalt („The Condemned Hold“), unerträglich nicht nur durch die quer über den Hof und offen hindurchfließende Kloake, sondern auch durch die Tuchfühlung mit Schwerverbrechern und verlausten Dieben, die vor ihrer Hinrichtung standen. Die Zahlung einer Geldsumme bewirkte, dass er in einen besseren Teil des Gefängnisses („The Press Yard“) verlegt wurde; fern von den gröbsten Belästigungen bekam er eine Einzelzelle mit einem kleinen, doch dicht verriegelten Fenster. Hier konnten ihn seine Familie, sein alter Vater und seine Freunde besuchen. Nach vierzehn Tagen wurde er bis zur Gerichtsverhandlung gegen eine hohe Bürgschaft freigelassen, zu der einige ihm nahe stehende Menschen beitrugen und vielleicht auch Personen, die fürchten mussten, von ihm verraten zu werden. Doch Versuchen, ihn durch eine in Aussicht gestellte Strafmilderung zum Verrat von politisch subversiv tätigen Freunden zu bewegen, hat Defoe tapfer widerstanden. Da er in einer früheren Schrift an einigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens satirische Kritik geübt hatte, musste er allerdings befürchten, dass der eine oder andere Richter jetzt die Gelegenheit benutzen würde, für diese Angriffe Rache zu nehmen.

Defoe wurde wegen Verleumdung und Volksverhetzung angeklagt. Obwohl man ihm versprach, wenn er sich für schuldig erkläre, könne er eine milde Strafe gewärtigen, und obwohl er sich zu seiner Tat bekannte, fiel das Urteil sehr hart aus. Nicht nur wurden ihm eine längere Haft in Newgate und eine hohe Geldstrafe auferlegt, nein, er musste auch eine Bürgschaft für sieben Jahre Wohlverhalten hinterlegen und wurde verurteilt, an drei Tagen je eine Stunde an verschiedenen öffentlichen Plätzen Londons an den Pranger gestellt zu werden. Diese Demütigung, dieser Fall vom Berater des Königs zum Gesellschaftsfeind Nummer eins, noch dazu an einem Ort, der nur ein paar Meter von seiner früheren Wohnung in der City entfernt war, traf ihn besonders hart. Aus einem seiner Briefe wissen wir, wie sehr er die gesellschaftliche Ächtung durch den Pranger fürchtete. Gefängnis, Pranger und Ähnliches, mit dem man mich so sehr bedroht hat, haben mich davon überzeugt, dass es mir an Mut zum Erdulden fehlt. Daher unternahm er größte Anstrengungen, dieser Demütigung zu entgehen. Ein Gnadengesuch an Königin Anna blieb jedoch erfolglos. Auch ein Versuch seines Freundes William Penn, des späteren Begründers von Pennsylvania, ihm diese Schmach zu ersparen, schlug fehl. Da er auf den Pranger noch circa zwei Wochen warten musste, konnte er immerhin die Zeit dazu nutzen, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass ihm, dem Missverstandenen, übel mitgespielt werde. Die öffentliche Demütigung musste er dennoch erdulden …

Diese Hymne an den Pranger war ein neues Gedicht Defoes, eine Zeitsatire, in der er sich damit tröstete, dass schon andere Berühmtheiten das gleiche Schicksal zu erleiden hatten; daher sein Hohn auf das staatliche Machtorgan des Prangers gleich zu Beginn der Hymne: Sei mir gegrüßt, großmächt'ger Apparat des Staats,/ Geschaffen, drin die Phantasie zu strafen! Mit Staatsapparat übersetzt Heym treffend Defoes Bild der „Staatsmaschine“ und kann damit in seinem sehr interessanten Text „Die Schmähschrift oder Königin gegen Defoe. Erzählt nach den Aufzeichnungen eines gewissen Josiah Creech“ im Rückblick seine Situation gegenüber dem politischen Establishment der DDR-Regierung indirekt mit jener der Dissenters in Beziehung setzen. Der Pranger wird zum Symbol für jede repressive staatliche Institution. Das Volk jubelte und prostete Defoe zu, es ehrte ihn mit Blumen, und seine Bücher und Schriften fanden reißenden Absatz. Es war ihm gelungen, die öffentliche Meinung zu seinen Gunsten zu beeinflussen und zugleich eine für ihn bedrohliche Situation sogar zu einem persönlichen Triumph umzuformen.

Völlig durchnässt wurde er nach dem dritten Tag am Pranger wieder ins Newgate-Gefängnis eingeliefert. Dort musste er nun noch lange ausharren, bis es ihm endlich gelang, die hohe Geldstrafe aufzubringen. Seine Lage ist katastrophal, denn durch seine lange Abwesenheit von seiner Ziegelei schreibt diese keine schwarzen Zahlen mehr, und ein neuerlicher Bankrott zeichnet sich ab. Wird er sich je aus dieser finanziellen Misere wieder befreien können? Wie er sich fühlte, beschreibt er später aus der Rückschau: Was sollen wir (zu dieser Katastrophe) sagen? - Laß mich nicht in Armut fallen, damit ich nicht stehle, sagt der weise Salomo ... Ich sage Euch allen, meine Herren, wenn Ihr die Armut erlebt, werden sogar die Besten unter Euch ihren Nachbarn berauben - nein, ich gehe weiter (und sage) … Ihr werdet Euren Nachbarn nicht nur ausrauben, sondern, in größter Not ihn auffressen und nach dem Essen noch das Dankgebet sprechen. Was ihn letztlich rettete, war einmal sein unerschütterlicher Optimismus, der ihn stets vor dem Verzweifeln bewahrte, zum anderen verließ ihn nie seine fast übermenschliche Energie, die er einmal in den griffigen Satz fasste: Der Gott, der mir Verstand gab, wird mir Brot geben.

So beginnt er bereits im Gefängnis wieder intensiv zu schreiben; Besucher tragen seine Texte zum Drucker. Auch benützt er die Gelegenheit, das Schicksal einzelner Gefangener in Erfahrung zu bringen. Dadurch öffnet sich ihm eine neue Welt … Seine Neugier, mit der er interessante aktuelle Ereignisse erkundet, lässt es jedoch nicht dabei bewenden; sie erstreckt sich auch auf den Bereich des Okkulten, für das er seit je ein Faible hatte. Mit besonderer Aufmerksamkeit hört er daher einen Bericht über die angebliche Erscheinung einer Toten bei ihrer früheren Bekannten, Mrs. Veal. Diesen Wahren Bericht über die Geist-Erscheinung einer gewissen Mrs. Veal nach ihrem Tod (A True Relation of the Apparition of one Mrs. Veal) erzählt Defoe dann so detailliert und „realistisch“ nach, dass er später den Ruf erlangen sollte, Autor der besten Gespenstergeschichte im 18. Jahrhundert zu sein.“

Jonathan Swifts „Ein bescheidener Vorschlag“ ist in einem bescheidenen Beitrag des Wurms nachzulesen: http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/307-ad-usum-delphini.html

Auszüge aus dem von Wolfgang Riehle erwähnten Buch von Stefan Heym folgen weiter unten.

 

Spionage

 

„Bringt eine Publikation wie Der Sturm dringend benötigtes Geld, so wird Defoe künftig vor allem auch mit der Überlegung schreiben: Was wird sich gut verkaufen? Aus seiner desperaten Lage hätte er sich indes nicht selbst befreien können, wenn ihm nicht ein wichtiger Politiker zu Hilfe gekommen wäre und für seine Entlassung aus dem Gefängnis nach fünf nicht enden wollenden Monaten gesorgt hätte. Es ist Robert Harley, den wir bereits als Speaker des Unterhauses kennen gelernt haben, und der nun einer von Tories dominierten, gemischten Regierung vorstand. Zum zweiten Mal hat Defoe nach seiner Förderung durch Wilhelm III. das Glück, einem Menschen zu begegnen, mit dem ihn manches verband: Harley und Defoe vertreten eine maßvolle politische Position. Beide haben eine starke Vorliebe für strenge Geheimhaltung ihrer politischen Absichten. Zwar hatte Defoe mit seiner Denkschrift der Legion auch indirekt Harley attackiert. Doch hatte sich Defoe ihm, der selbst früher zu den Whigs gehörte und nun als gemäßigter Tory Politik machte, anzunähern versucht. Und Harley empfand es als Verschwendung eines Talents, dass ein politisch so versierter Autor wie Daniel Defoe sein Dasein im Gefängnis fristen sollte, nur weil ihm ein Pamphlet missraten war, von dem jedenfalls Harley nicht glaubte, dass er es wörtlich gemeint hatte. In der Überzeugung, Defoe könne ihm als politisch kompetenter, der Masse der journalistischen Schreiberlinge weit überlegener Autor für die Regierungsarbeit nützlich sein, veranlasste er seine Freilassung. Allerdings verschaffte Harley ihm nicht einen Posten mit fixem, garantiertem Salär, sondern hielt den gesellschaftlich schwer Angeschlagenen in seiner Abhängigkeit. Doch Defoe hatte nun eine neue Chance, in der Politik mitzuspielen. Er macht sich zunächst bei Harley als allgemeiner politischer Berater interessant und erinnert ihn daran, dass Popularität für einen Politiker sehr wichtig ist. Die Popularität, von der ich gerade spreche, ist ein politisches Verhalten Eurerseits zwischen Scylla und Charybdis der Parteien, um von ihnen allen allgemeine Achtung zu erlangen. Obwohl man dieses Verhalten Heuchelei nennt, bin ich mit einer solchen Bezeichnung einverstanden … (denn) diese Heuchelei ist eine Tugend, und mit ihr werdet Ihr … als treuer Diener Eures Herrschers vom Volk geliebt sein.

Die Regierung hatte sich schon unter König Wilhelm ein neues großes Ziel gesteckt, die Vereinigung Englands mit Schottland zum Königreich Großbritannien, nachdem ja seit 1603 bereits mit dem schottischen König Jakob, der zugleich Nachfolger der englischen Königin Elisabeth war, eine Personalunion bestanden hatte. Da Defoe wohl schon gemerkt hat, dass Harley wie er selbst Geheimaktivitäten liebt, macht er einen Vorschlag, zu dem er durch ein französisches Vorbild angeregt wurde. Dort habe man unter der Leitung des großen Kardinals Richelieu ein Spionagesystem für die Vorgänge im Inneren Frankreichs und für das Ausland aufgebaut. Ein derartiges Agentennetz benötige auch England; denn man müsse über die politischen Pläne eines Nachbarlandes Bescheid wissen, bevor diese in die Tat umgesetzt würden. Besonders dringend sei aber der Aufbau eines Spionageringes in Schottland, um alle Schwierigkeiten zu beseitigen, die sich der geplanten Vereinigung mit England entgegenstellten. Dafür bietet Defoe seine speziellen Dienste an. Harley überträgt ihm nun diese Aufgabe. Da bekannt war, dass sich in Schottland teilweise heftiger Widerstand gegen eine Eingliederung in das Reich der britischen Krone regte, war die Geheimagententätigkeit Defoes ebenso nötig wie gefährlich. Aber Defoe schrieb Harley aus Schottland, dass er als echter Spion agiere, hin und wieder inkognito reise und seine Identität durch permanentes Rollenspiel verberge: Ich rede mit jedermann auf seine eigene Weise ... So war er der richtige Mann für diese Aufgabe. Er baut einen Spionagestützpunkt an jedem Ort auf und verbringt nicht weniger als fünfzehn Monate in Schottland. Als im Jahre 1707 unter Königin Anna das Vereinigte Königreich Großbritannien ausgerufen wurde, war dies nicht zuletzt durch Defoes vorbereitende Arbeit möglich geworden. Er ist somit dieses Mal an einer hoch bedeutsamen politischen Entscheidung beteiligt, die bis heute ihre Gültigkeit behalten hat. Und ihrer Bedeutung entsprechend verfasste er ein ganzes Buch über die Geschichte der Vereinigung Englands mit Schottland (The History of the Union of Great Britain).”

 

Projekte

 

„Aber Harley war an ihn noch mit einem anderen Anliegen herangetreten. Er hatte die Gründung einer Zeitschrift vorgeschlagen. Ihr sollte die Aufgabe zufallen, die Regierungsarbeit indirekt zu unterstützen. Als er dieses Angebot annahm, handelte Defoe keinesfalls als Opportunist. Vielmehr erkannte er, wie wichtig es war, diesen Minister zu stärken, um die Schwäche der regierenden Königin Anna auszugleichen. Indem Defoe in dieser Zeitschrift, die anfangs stark gegen Frankreich gerichtet war und daher ursprünglich den Titel A Review of the Affairs of France trug, Artikel über Religion, Politik, Familie, Handel, bürgerliche Sitten usw. publizierte und dabei eine maßvolle Position vertrat, verfolgte er sogar eine whiggistische Tendenz. Daher galt für ihn, der als Sympathisant der Whigs jetzt für die Tories arbeitete: Der Zweck heiligt die Mittel. Er hat diese Zeitschrift, bekannt unter dem verkürzten Titel The Review, von 1704 bis 1713 mehr als neun Jahre lang ganz allein verfasst, manchmal in Konkurrenz oder im Dialog mit den bekanntesten Wochenschriften, und dabei ist sie meist dreimal wöchentlich erschienen, auch in seiner Abwesenheit von London - allein dies eine stupende Arbeitsleistung! Er hat diese Art Zeitschrift zwar nicht erfunden, aber er hat in ihr neue Ideen journalistischer „Aufmachung“ durchgesetzt, die bis heute fortwirken, wie die Diskussion gesellschaftlicher Skandale in den Klatschspalten und nicht zuletzt die Einbeziehung und Beantwortung der Textsorte Leserbriefe. Auch das Werbe-Inserat gibt es schon; dabei nimmt man beim Durchblättern der einzelnen Folgen das Paradoxon amüsiert zur Kenntnis, dass der Puritaner Defoe in schöner Regelmäßigkeit die Reklame für ein angebliches Medikament gegen Syphilis wiederholt. Schon das Review-Unternehmen des ersten großen Journalisten beweist Defoes „Unbeirrbarkeit in der Verfolgung eines Ziels, seine Findigkeit und seinen Mut“. Darüber hinaus gründete er später noch weitere Zeitschriften und wirkte an zahlreichen anderen mit.

Kein Wunder, dass Robert Harley unserem Autor die Idee einer neuen Zeitschrift unterbreitete, denn sechs Jahre zuvor war Defoe mit seinem ersten Buch Ein Essay über Projekte (An Essay upon Projects) an die Öffentlichkeit getreten, und dieses hatte sein Interesse an konstruktiven Verbesserungen in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen bewiesen. Dieses Buch war auch die erste Publikation, zu der sich Defoe öffentlich bekannte. Es spiegelt in besonderer Weise den Fortschrittsoptimismus jener Zeit wider, die bereits von der „Machbarkeit“ jedweder Idee fasziniert war. Was taucht da nicht alles an progressiven Vorstellungen auf: Er schreibt über die Verbesserung der Verkehrswege, über eine Krankenversicherung, über Spezialversicherungen, zum Beispiel für den gefährlichen Beruf des Seemanns, wobei er Vorschläge dafür macht, wie viel jeweils für den Verlust eines einzelnen Körperteils als Versicherungsprämie zu zahlen sei. Überhaupt konnte man sich schon zu seiner Zeit, wie Defoe sagt, gegen alles versichern. Auch stellt er die schon sehr modern anmutende Konzeption einer Sozialversicherung vor: Durch sie sollte (später im Notfall) auch der erbarmungswürdigste und ärmste Mensch einen Mindestunterhalt beanspruchen können, damit er ihn nicht als Almosen erbetteln muss. Nun sind zwar seine Vorschläge im sozialen und ökonomischen Bereich nicht gerade völlig neu, und in vielem ist bei ihm sogar ein konservativer Zug zu erkennen. Doch hat er das Talent, die Ideen prägnant und zündend vorzutragen. So erklärt sich etwa, dass seine reformerischen Schriften bis nach Amerika befruchtend gewirkt haben. Kein Geringerer als Benjamin Franklin gesteht in seiner „Autobiographie“, dass Defoes Essay über Projekte wesentliche Ereignisse in seinem eigenen Leben beeinflusst habe.

In diesem Buch präsentiert Defoe auch die Idee von Akademiegründungen. Eine Akademie zur Pflege der englischen Sprache liege besonders nahe, da das Englische die Sprache mit der größten Ausdrucksbreite sei. Schließlich besitzt Frankreich bereits eine solche Akademie durch die Initiative des großen Richelieu, den er sehr bewundert. Die Akademie solle auch sprachregelnd eingreifen, denn sie habe für die Reinheit und Angemessenheit des Stils zu sorgen. Dabei sei vom Sprachgebrauch auszugehen; er orientiert sich ganz am gesprochenen, kolloquialen Englisch und hält einen lebendigen Sprachrhythmus für äußerst wichtig. Sein Stilideal ist, wie er im Buch Der vollkommene englische Handelsmann (The Complete English Tradesman) ergänzt, demokratisch: Allgemein verständlich muss man schreiben, exotische Wendungen, affektierte und schwierige Begriffe sind daher ebenso zu vermeiden wie Bombastisches in der Dichtung. Defoe macht sich somit zum Sprachrohr des Erfolgsmenschen neuen Typs, des aufstrebenden bürgerlichen Mittelständlers („homo novus“). Er betrachtet die klassisch-humanistische Bildung nicht mehr als unabdingbare Voraussetzung, um in der Gesellschaft zu reüssieren. Nicht die Gelehrten oder Juristen dürfen daher in einer solchen Akademie die Maßstäbe setzen, denn sie werfen mit Spezialbegriffen um sich, schreiben zum Horror des Lesers lange und sehr unmusikalisch klingende Sätze. Man ist verblüfft, welch hohes, differenziertes, rhythmisch anspruchsvolles Stilideal Defoe besitzt, dessen Texte man oft als bloß in Eile geschrieben abqualifiziert hat.

Besonders interessant aber ist Defoes Plan zur Gründung einer Bildungsakademie für Frauen. Hier haben wir einen schönen Beweis dafür, dass Defoe einen ausgeprägten Sinn für die sozial Benachteiligten hatte, und dazu gehörte die Frau. Wie die Quäker ist er überzeugt von der Gleichheit der Geschlechter. Es sei eine Schande, dass den Frauen eine höhere Bildung verwehrt werde, gerade sie hätten es doch verdient, entsprechend gefördert zu werden: Was hat denn die Frau getan, daß sie das Privileg der Bildung verloren hat? … Die Fähigkeiten der Frauen gelten als größer, ihre Sinne als feiner denn jene der Männer; und wozu sie gebildet werden könnten, ist ersichtlich aus einigen Beweisen weiblichen Esprits, den dieses Zeitalter durchaus zu bieten hat. Dies bringt uns zu Recht den Vorwurf der Ungerechtigkeit ein und erweckt den Anschein, als ob wir den Frauen die Vorteile der Bildung vorenthielten aus bloßer Furcht, sie würden mit ihrem erworbenen Können mit den Männern konkurrieren.

Doch auch Defoes Ansichten zur Situation der Frau sind im Grunde weniger originell, als sie auf den ersten Blick erscheinen, sind sie doch nicht lange zuvor von verschiedenen Seiten vertreten worden. So schließt er sich zustimmend einer Schrift der zeitgenössischen Frauenrechtlerin Mary Astell an, die schon emanzipatorische Gedanken geäußert hatte. Auch Aphra Behn hatte sich als Autorin von Romanen und Dramen bereits einen Namen gemacht. Obwohl Defoe in seinem Projekt einer Frauenakademie, wie gesagt, keine eigentlich neuen Thesen vorbringt, besticht dennoch die Klarheit und Eindeutigkeit, mit der er für eine neue Beurteilung der sozialen Position der Frau plädiert. Auch unterdrückt er keineswegs eine gewisse Sympathie für feministische Gleichheitsforderungen. Diese findet freilich dort ihre Grenze, wo die patriarchalische Vormachtstellung des Mannes in Frage gestellt zu werden Gefahr läuft.

Doch zurück zu Defoes prekärer Lage. Für ihn wird die Zeit, als er ein gesellschaftlich Ausgestoßener war, sehr schwer zu ertragen gewesen sein. Immer wieder bittet er Harley um konkrete Aufträge, denn er möchte auf jeden Fall nützlich sein. Seine familiäre Situation hatte sich in den ersten Jahren nach Harleys Rettungsaktion noch keineswegs gefestigt. Noch immer lastete ein Schuldenberg auf ihm, und Gläubiger versuchten vehement, zu ihrem Geld zu kommen. Hinzu kam, dass Harleys Gehaltszahlungen immer wieder lange, allzu lange auf sich warten ließen. Wie bitter war es doch, die Abhängigkeit von einem einzigen Mann spüren zu müssen. In vielen erhaltenen Briefen erleben wir mit, wie Defoe sich in die demütigende Lage eines Bittstellers versetzt sieht. Seine Kleidung ist fast schon schäbig, überwindet er sich anzudeuten. In einem dieser Briefe an Harley erlaubt er sich zu bemerken, dass ihm seine Frau schrieb, sie sei zehn Tage ohne Geld gewesen. Ein andermal erfahren wir, wie er darunter leidet, kaum die Kinder erziehen zu können und das Vermögen seiner Frau vertan zu haben. Dabei habe er eine große Familie mit guten Zukunftsaussichten, seine Frau sei tugendhaft und einzigartig, eine hervorragende Mutter für ihre sechs hübschen und vielversprechenden Kinder. Sein Vater und eine Tochter Mary waren inzwischen gestorben, zu versorgen war eine große Familie mit Benjamin und Daniel, Hannah, Henrietta, Sophia und Martha, die allerdings 1707 starb. Benjamin vernachlässigt sein Jura-Studium und wird daher von Defoe nach Hause zurückgeholt. Die private Situation bleibt somit recht desolat, auch wenn er gelegentlich seine finanzielle Notlage übertreibt.

Im Jahr 1708 verliert auch noch Robert Harley sein Ministeramt, da die Whigs die Wahlen gewonnen hatten, doch sein Nachfolger nimmt Defoe ebenfalls in seine Dienste, bis wiederum zwei Jahre später nach einem Wahlsieg der Tories Harley nochmals an der Macht ist, der Defoe erneut für sich arbeiten lässt. Defoe findet nichts dabei, Harley, der ein Attentat überlebte, in seiner Tory-Politik zu bestärken. Aber vehement weist er den Vorwurf seiner Gegner zurück, er habe sich durch Harley bestechen lassen, nie habe dieser ihm vorgegeben, was er schreiben solle. Er unterstützt ihn vor allem wegen seiner Bereitschaft, sich für den Erben des Hauses Hannover als möglichen englischen Thronfolger einzusetzen. Dafür konnte sich Defoe im Spanischen Erbfolgekrieg sogar mit einem Friedensschluss mit Frankreich abfinden, doch empfand er die Entlassung des Herzogs von Marlborough im Jahr 1711 als Demütigung. In dieser schwierigen Zeit, da die englische Nation in zwei Lager gespalten war, bedeutete Defoes politische Betätigung ein hohes Risiko. Doch hält er oft mit seiner Meinung nicht zurück. Nicht gerade taktvoll ist der folgende Titel eines Pamphlets: Und wenn die Königin stirbt - was dann? (What if the Queen Should Die?). Die Dissenters werden jetzt völlig schwarz gemalt, auch ihre Akademien, denen er doch seine eigene Erziehung verdankt, bleiben von seiner Kritik nicht verschont. Kein Wunder, dass er in beiden politischen Lagern als Gegner galt und von ihnen verfolgt wurde. Mehrmals fand er sich daher im Gefängnis wieder, sogar kurzzeitig in Newgate, Verleumdung und Verrat hießen die Anklagepunkte. Verblüffend ist aber auch, wie oft es ihm gelingt, einer angedrohten Bestrafung für diese Vergehen zu entkommen. Einmal hieß es, er habe sich seiner Verhaftung durch eine Falltür in seinem Haus entzogen. Seine Feinde verunglimpfen ihn persönlich. Sie bringen etwa das vielleicht doch nicht ganz unwahre Gerücht in Umlauf, er habe mit der Frau des Webers, bei dem er Unterschlupf gefunden hatte, ein Kind gezeugt. Während seine Gesundheit sich lange Zeit unverwüstlich erwiesen hatte und auch durch das Gefängniserlebnis nicht wesentlich beeinträchtigt worden war, ist er nun des Öfteren krank und hätte einen Kuraufenthalt nötig, der aber wegen seiner finanziellen Misere undenkbar ist. In dieser Lebensphase steht er kurz davor, in die Resignation zu flüchten.

Wieder ändert sich die politische Lage: Als die Tories im Jahre 1714 die Wahl verlieren, muss Harley zurücktreten. Zudem stirbt auch noch Königin Anna. Nunmehr beherrschen die Whigs jahrzehntelang die Bühne. Defoe scheut sich nicht, sich jetzt mit ihnen zu arrangieren. Defoe ein Wendehals? Man wird ihm, der gleichzeitig auch weiter für ein Tory-Blatt arbeitete, den Vorwurf des Opportunismus nicht ganz ersparen können; denn in diesem Tory-Organ wird von ihm auf einmal die anglikanische Staatskirche in den höchsten Tönen gepriesen. In jener Zeit verfasst er auch den Text Für Ehre und Gerechtigkeit (An Appeal to Honour and Justice), in dem er sein bisheriges Verhalten und seine jetzige Arbeit für die Whigs zu rechtfertigen sucht, ohne es freilich mit der Wahrheit allzu genau zu nehmen. Allenfalls wäre zu Defoes Verteidigung darauf hinzuweisen, dass es ihm immer darauf angekommen war, mäßigend auf die Parteien einzuwirken, und dass er eigentlich immer über den Parteien stehen wollte. Schon im Jahr 1712 zog der Zweiundfünfzigjährige in einem Review-Artikel das folgende Resümee seiner politischen Erfahrungen und bewies dabei wieder viel Mut: Ich habe das Innerste aller Parteien bis in den hintersten Winkel kennengelernt, bis in den hintersten Winkel aller ihrer Gaukeleien und bis in den fadenscheinigen Boden ihrer Aufrichtigkeit … alles ist bloße Komödie, leere Fassade und erbärmliche Heuchelei, bei jeder Partei, in jedem Zeitalter, unter jeder Regierung und bei jedem Regierungswechsel; Heuchelei der Opposition, um in die Regierung zu kommen, und Heuchelei der Regierung, um ihren eigenen Sturz zu verhindern.

Mit dem Lauf der Jahre tritt indes in Defoes Verhältnissen eine Beruhigung ein, die unermüdliche schriftstellerische Tätigkeit bringt auch einigen Gewinn. Er bezieht ein geräumiges Haus mit großem Garten im Londoner Außenbezirk Stoke Newington. Seine beiden Söhne müssen ihm helfen, indem sie vor allem die von ihm korrigierten Druckfahnen zum Drucker tragen. Das Verhältnis zu ihnen dürfte in jener Zeit allerdings nicht ohne Spannung gewesen sein; es fällt jedenfalls auf, dass nun Fragen des familiären Zusammenlebens zum Thema eines neuen Werkes erhoben werden. So entsteht seine puritanische Familienunterweisung (The Family Instructor). Sie gibt in mehrfacher Weise zum Erstaunen Anlass: Die Probleme und Konflikte zwischen den Generationen werden in lauter wörtlich wiedergegebenen Dialogen zwischen den Familienmitgliedern vorgetragen. Hier erweist sich ganz besonders Defoes große dramatische Begabung, mit der er es versteht, sich mit der jeweiligen Position einer Figur voll zu identifizieren und zudem sehr realistische Dialoge zu schreiben. In seiner Familienunterweisung will ein Vater dem Sohn den Theaterbesuch als etwas Unmoralisches verbieten, worauf der Sohn entgegnet, die Haltung des Vaters sei unerträglich. Diese Kritik und das offene Bekenntnis des aufmüpfigen Sohnes zum Atheismus erregt den Vater derart, dass er ihn fast umbringt: Die Argumente und Emotionen werden also nicht, wie zu erwarten, gedämpft, sondern voll zugelassen.

Auch die Tochter verhält sich sehr unbotmäßig, denn sie beschwert sich darüber, dass die Mutter ihr verbietet, sonntags nachmittags in den Park zu gehen, und dass sie wegen ihres Protestes sogar geschlagen wurde. Anschließend muss sie auch noch feststellen, dass die Mutter alle ihre Bücher, mit Ausnahme der religiösen, ins Feuer geworfen hat. Eine Bücherverbrennung aus religiösem Fanatismus! Die Tochter kann im Verbot der Mutter kein vernünftiges Argument erkennen, und sie will deren Verhalten auch nicht als Vorbild akzeptieren. So bleibt sie strikt bei ihrem Widerstand und fragt höchst verwundert in die Runde: Was ist denn bloß mit euch allen los? Daraufhin überlässt Defoe dem Leser die Beurteilung dieser kritischen Familiensituation, nachdem er zuvor freilich seine christlich-puritanische Position völlig klar gemacht hatte.

Doch dürften auch manche Zeitgenossen der widerspenstigen Tochter wenigstens eine gewisse Sympathie entgegengebracht haben. In seinen Romanen wird Defoe bald in verstärktem Maße die Kunst beherrschen, eine Figur einen Standpunkt verteidigen zu lassen, auch wenn er ihn selbst durchaus nicht akzeptiert.

Von Defoe stammt auch ein anderes größeres Werk mit dem Titel Die gefiederte Flugmaschine oder Der Weg zur Klarheit (The Consolidator), ein Text, geschrieben in der Tradition der fiktiven Reisen zum Mond. Dort heißt es, wer eine von den Chinesen erfundene Flugmaschine für eine Mondreise benützt, erkennt, dort oben angekommen, nicht nur eine hoch entwickelte Zivilisation, die sogar über Denkmaschinen verfügt; er macht auch die für den Europäer entwaffnende Erfahrung, dass den Mondbewohnern die Erde nicht anders als den Erdbewohnern ihr Mond erscheint. Betrachtet man vom Mond aus die Erde, dann entdeckt man darum die Relativität der Realität. Man bemerkt aus der Distanz die Schwächen der irdischen Gegebenheiten und Institutionen - die satirische Zielscheibe ist vor allem das englische House of Commons - und sieht zugleich, wie sich alles im Leben in ständiger Bewegung und Veränderung befindet.“

 

Die ganze Welt im Blick

 

„Der unermüdlich aktive Schriftsteller Defoe wendet sich erneut - und nun im Zeichen eigener mäßiger Prosperität - seinem Lieblingsthema zu, dem Handel und der Wirtschaft. Der Handel, so formuliert er einmal, war die Hure, in die ich wirklich vernarrt war. Überall florieren die Geschäfte, überall wird gebaut, verändert, modernisiert, es entstehen Neugründungen der unterschiedlichsten Art, die britische Wirtschaft boomt. Aber Defoe weitet den Blick aus in weltwirtschaftliche Dimensionen. Durch den Handel ergänzen sich die einzelnen Länder und Erdteile: ... jede Nation hat etwas, was sich von ihr holen läßt und etwas, womit sie mit einer anderen tauschen kann. Sie besitzt etwas im Überfluß, was eine andre benötigt ... Der Handel, ein Wechselspiel von Export und Import, kann sogar Berge versetzen, kann sie übers Meer in andre Länder schaffen. Welch ein großer Teil der „Terra Firma“ wurde nicht von Newcastle in Form von Kohle weggeführt, deren Asche sich in den meisten Ländern der Welt mit dem dortigen Boden vermischt hat? Man spüre hier geradezu das natürlich ordnende Walten der Natur. Man fühlt sich außerdem bereits bestens informiert über die Gegebenheiten in anderen Kontinenten, ohne dorthin reisen zu müssen, denn: Nichts ist berühmt oder wertvoll in der Welt, das der Gentleman nicht in seinem Blick hätte durch die Lektüre von Büchern, das Studium geographischer Karten oder von anderem Informationsmaterial.

Für Defoe garantiert der Handel soziale Stabilität und Wohlstand, in ihm erkennt er darum auch den Lebensnerv einer Nation. Er macht sich zum Verfechter der merkantilistischen Wirtschaftskonzeption mit den beiden Eckpunkten Seehandel und Kolonialisierung, die letztlich dem Ziel der Kapitalvermehrung dienen sollen. Dabei nimmt er allerdings keinen Laissez-faire-Standpunkt ein, sondern plädiert ganz merkantilistisch für ein gewisses Maß an staatlicher Regulierung des Handels; denn die dem Menschen angeborene materielle Gier müsse gebremst werden. Neue technische Erfindungen sind ihm nicht sehr willkommen, denn dadurch befürchtet er die Gefährdung von Arbeitsplätzen. Er weiß auch, wie sehr Probleme des Handels die Außenpolitik bestimmen. Diese muss verhindern, dass andere Länder, vor allem Spanien, sich zu einem Handelskonkurrenten aufschwingen oder gar England die Vorrangstellung streitig machen. Völlig Recht hat Defoe mit der Annahme, dass Englands Handel auch deshalb floriert, weil es durch seine starke Flotte die Meere beherrscht. Wie aus Defoes Schriften freilich ebenfalls hervorgeht, denkt man damals auch schon global, in weltwirtschaftlichen Zusammenhängen. Zum Beispiel bedrohte die Einfuhr sehr billiger Baumwollprodukte aus Indien („Calico“) die heimische Textilindustrie, sodass der Import solcher Waren schließlich verboten wurde.

Zugleich erkennt Defoe in der Überproduktion von Waren ein großes Problem, und deshalb befasst er sich mit dem Gedanken einer Erweiterung der Absatzmärkte. Diese Möglichkeit sieht er besonders in den Kolonien gegeben, und daher befürwortet er die Kolonialisierung in einem schon imperialistischen Sinne. Die Rechtfertigung wird gleich mitgeliefert: Die Kolonien haben nicht nur ihrerseits die Möglichkeit, ihre eigenen erwirtschafteten Güter als Tausch für britische Waren zu verwenden, sondern sie gewinnen auch aus dem Handel mit den europäischen Kulturnationen ein hervorragendes Zivilisierungspotenzial. Mit dieser ideologischen Fundierung wird der im Welthandel tätige Kaufmann geradewegs zu einem Helden stilisiert, der die Zivilisation befördert. Begreiflicherweise ist Defoe zugleich mit der Gründung von weiteren Kolonien in der Neuen Welt befasst. In seinem Buch Eine neue Reise um die Welt (A New Voyage Round the World) schlägt er mit bewegten Worten die Gründung einer südamerikanischen Kolonie Patagonien vor. Er schätzt die amerikanischen Kolonien auch deshalb hoch ein, weil sie, wie er glaubt, jenen Existenzen, die in England gescheitert sind, den Galgen vermeiden helfen und ihnen die Möglichkeit eines völligen Neuanfangs bieten. Doch bei einer derartigen Verklärung der Kolonien war wieder der Wunsch der Vater des Gedankens; die Realität sah nämlich anders aus. Viele Deportierte starben bereits während der Überfahrt oder gingen in den Kolonien als Sklaven zugrunde. Was indes die „Neger“-Sklaven betrifft, so sind sie nach Defoes Ansicht zur Arbeit für die Weißen heranzuziehen, freilich müsse man sie wie Menschen behandeln, präzisiert eine seiner Romanfiguren; ein Widerstand von ihrer Seite ist aber nicht zu dulden. Gar nicht erst gestellt wird die Frage, wie Sklaverei mit Menschenwürde vereinbar ist. Da der Sklavenhandel den Wohlstand der Nation fördert, ist er zu tolerieren. Doch Defoe attackiert andererseits auch den Sklavenhandel im Hinblick auf Auswüchse und verurteilt Exzesse der Grausamkeit, er gibt sogar zu, dass die spanischen Eroberer eine weit größere Unmenschlichkeit als selbst die Kannibalen bewiesen haben.

Von Anfang an hat sich Defoe für die 1711 zum Zwecke des (Sklaven-)Handels mit Spanisch-Amerika gegründete Südseegesellschaft (South Sea Company) interessiert. Sie verdankte ihre Entstehung der Annahme, dass sich nach dem Ende des Spanischen Erbfolgekriegs große Handelsvorteile ergeben würden. Defoe hat sich aber in Sorge und mit Kritik gegen ihr Finanzgebaren gewendet. Diese Gesellschaft schüttete stattliche Gewinne aus und verlockte damit zu einer riesigen Börsenspekulation (dem „stock-jobbing“). Dabei übernahm sie aber auch noch hohe Staatsschulden. So war es auch nicht allzu überraschend, dass dieses ganze Spekulationsabenteuer 1720 wie eine „Seifenblase“ platzte („South Sea Bubble“) und viele Kleinaktionäre ruinierte. Da Defoe auch ein kritischer Zeitgenosse ist, erfüllt ihn das sich ausbreitende kapitalistische Gewinnstreben mit Sorge. Und diese ist geeignet, seine satirische Ader zu aktivieren. Das Ergebnis ist sein großer, rhetorisch brillanter Review-Artikel Money. Darin sieht Defoe in alter satirischer Tradition im Geld den Gott dieser Welt, denn alles Glück und Unglück des Menschenlebens liegt darin, ob du da bist oder fehlst. Was tun die Menschen nicht, um dich zu erlangen? Was für Risiken gehen sie nicht ein, was für Schurkereien führen sie nicht um deinetwillen aus! Für dich werden Könige zu Tyrannen, Untertanen unterdrückt, Völker zerstört, Väter gemordet, Kinder aufgegeben, Freunde verraten … für dich läßt sich die Jungfrau entehren, verkommt der Ehrenmann, wird der Weise zum Narren, der Aufrechte zum Schurken, der Freund zum Verräter, der Bruder zum Fremden. Aus Christen werden Heiden, aus Menschen Teufel ... Du bist das große Ruder, das den Kurs der Welt bestimmt, das riesige Scharnier, in dem sich der Globus dreht.

Aber Defoe ist weit davon entfernt, ein Korrektiv gegen die Dominanz des Geldes einzubringen. Er rechtfertigt es auch als notwendiges Übel und als Basis für was wir Gesetz, Freiheit und Eigentum nennen sowie sogar als Grundlage für die menschliche Ordnung. Macht man sich klar, dass diese vielfältigen ökonomischen Interessen jene eines puritanischen Protestanten sind, so entdeckt man auch ein diesem Puritanismus innewohnendes Paradoxon, eine tiefe Widersprüchlichkeit, die im Grunde auch unauflösbar ist: Auf der einen Seite verlangt der Puritanismus nach innerer Einkehr und weltabgewandter Askese, auf der anderen Seite aber fordert die von ihm praktizierte Ökonomie eine starke Bereitwilligkeit zur wirtschaftlichen Erschließung der Welt und zum Konsum von Waren, ja geradezu ein Bedürfnis nach Luxus, damit die Wirtschaft florieren kann. Die Anerkennung dieses Widerspruchs ist hingegen für die Calvinisten kein Problem, denn sie betrachten ja den materiellen Erfolg im Leben als Beweis für die göttliche Erwähltheit.“

 

Eine Reise durch die ganze Insel Großbritanniens (A Tour thro‘ the Whole Island of Great Britain)

 

„In diesem neuen, zwischen 1724 und 1726 erschienenen Buch lässt Defoe nicht eine fiktive Person von erfundenen Reisen und Abenteuern erzählen, sondern er tritt hier selbst als Autor in Erscheinung. Er berichtet vielfach eigene Eindrücke von und Erkenntnisse über Großbritannien, die jedoch bereits geraume Zeit zurückliegen. Feldstudien zur Erforschung der aktuellen Physiognomie Großbritanniens hat er für diesen Zweck sicher nicht unternommen. Doch erinnert er sich an die Reiseberichte eines John Macky, und darüber hinaus verweist er teilweise auf Geschichtswerke und Reiseführer, deren Informationen er nicht wiederholen will; er hat anderswo auch mal ohne Quellenangabe abgeschrieben, und manches Detailwissen hat er nur aus zweiter Hand. Aber ohne Zweifel ist ihm ein großer Text bester Reiseliteratur gelungen.

Daher folgen wir ihm gerne als „Reiseführer“. Was ihn speziell interessiert, ist die dynamische industrielle Energie, die auf der Insel vielerorts Neues entstehen lässt und die vor allem die Wirtschaftstätigkeit durch intelligente Erfindungen und effizientere Produktionsverfahren steigert. So erscheint ihm, der schon manche Länder gesehen hat, das Inselkönigreich als das blühendste und reichste Land der Welt. Der reisende Defoe fühlt sich in einer luxuriösen Zeit, mit den Kennzeichen Wandel und Aufbruch, in der Menschen nach kapitalistischen Mechanismen sehr reich werden, in der sie aber auch durch Spekulation und Misswirtschaft in plötzliche Armut abstürzen können. Besonders interessieren ihn die unterschiedlichen Produktionsweisen der einzelnen Industriezweige, wie die Textilindustrie und Wollverarbeitung, die Lebensmittelerzeugung, Fischerei sowie die Landwirtschaft. Seine Neugier richtet sich darauf, wie die Dinge gemacht werden. Vor allem aber fasziniert ihn, den Londoner, wie die Metropole vom ganzen Land mit Lebensmitteln, Waren und Gütern der verschiedensten Art versorgt wird und wie die Stadt London ihrerseits das Land mit ihrem Reichtum befruchtet, indem sie den Menschen Arbeit gibt. Im Grunde ist dieses industrialisierte England, das die eigentliche industrielle Revolution ja noch vor sich hat, gut, geradezu wunderbar. Die Satire tritt hier merklich zurück. Regelrecht ins Schwärmen kommt Defoe, wenn er das Panorama Londons und seiner näheren Umgebung vom anderen Themseufer aus betrachtet: Wie viele Prachtbauten reicher Bürger im neopalladianischen Stil! Wie gut verbinden sie sich mit der natürlichen Umgebung zum glorreichsten, unvergleichlichen Anblick! Die Umgebung Londons - was ist sie anderes als reine Natur, die den Eindruck von Kunst erweckt? Vor lauter Begeisterung lässt Defoe hier die Tatsache außer Acht, dass, was er als reine Natur in Londons Umgebung zu genießen meint, bereits die gestaltende Hand des Menschen erfahren hat.

Nach dem großen Brand von London hatte, wir haben dies bereits gesehen, eine gewaltige Bautätigkeit eingesetzt. Die Straßen wurden nun, schon aus Feuerschutzgründen, wesentlich großzügiger angelegt. Als Defoe seine Großbritannien-Reise schreibt, steht für ihn fest: Keine Stadt der Welt kommt (London) gleich. Mit dem Neubau der St Paul's-Kathedrale durch den ihm persönlich bekannten Sir Christopher Wren hat man auch dem Petersdom in Rom als dem Zentrum des Katholizismus Paroli geboten. Zwar ist, so bemerkt er, durch das protestantische Einfachheitsgebot eine mit dem Petersdom vergleichbare Prachtentfaltung im Innern der Kathedrale unmöglich gewesen, aber die Kuppel von St Paul's ist die richtige Antwort auf den Petersdom.

Beim Besuch des Schlosses Hampton Court erwähnt Defoe, dass es der von ihm zeitlebens verehrte und kunstliebende König Wilhelm III. umbauen ließ, und eine seiner Umbaumaßnahmen diente speziell auch einer würdigen Aufstellung der großen Kartons Raffaels, die biblische Szenen aus den Evangelien und der Apostelgeschichte darstellen. Wie ein Tourist steht Defoe gerührt vor diesen Kartons (die sich heute im Londoner Victoria and Albert Museum befinden und die einen großen Einfluss auf die Kunstgeschichte Englands ausgeübt haben). Seine sparsame Kommentierung dieser Kunstwerke enthält einen indirekten, aber interessanten Hinweis: Die Darstellung des Themas, nämlich Szenen um Petrus und Paulus, sei so natürlich, die Leidenschaften seien so „nach dem Leben gezeichnet“, dass der Betrachter sie selbst nacherlebe. Indem er Raffaels Malstil charakterisiert, definiert er indirekt auch das Prinzip seines eigenen Stils, zu dem eine realistische Erzählweise wesentlich gehört.

Als architektonischer Connaisseur beschreibt er auch einige über das Land verstreute Schlösser und Herrenhäuser. Einen Höhepunkt bildet etwa sein Kommentar zu Blenheim House (Blenheim Palace), das für John Churchill, den berühmten Herzog von Marlborough, als Monument nationaler Dankbarkeit für seinen Sieg im Spanischen Erbfolgekrieg erbaut wurde. Es wird, so bemerkt Defoe, in die Geschichte eingehen als Symbol für die großzügige Haltung, oder wie es sonst die Nachwelt zu nennen beliebt, der englischen Nation gegenüber dem Mann, den zu ehren ihnen eine Freude war. Doch allzu weit her ist es mit der Dankbarkeit nicht, denn die Tories entließen den siegreichen Herzog aus der Regierung, und prompt wurden die Arbeiten an Blenheim House gestoppt. Drei Jahre später ging der Bau weiter - doch auf des Herzogs eigene Kosten! Einen vergleichbaren Wandel der öffentlichen Gunst erlebte viel später sein ebenfalls siegreicher Nachfahre Sir Winston Churchill, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Premier abgewählt wurde.

Auch Reminiszenzen an Englands Geschichte gehen Defoe auf seinen Reisen durch den Kopf. Schließlich hatte er selbst ja ein sehr wichtiges Werk, die Memoiren eines königstreuen Offiziers (Memoirs of a Cavalier), verfasst, in dem er einen fiktiven Offizier mit beträchtlicher Tatsachenkenntnis vom Dreißigjährigen Krieg erzählen lässt. Zu den Bewunderern dieses Buches gehörte kein Geringerer als Winston Churchill. In diesen Memoiren werden die Taten des von Defoe bewunderten schwedischen Königs Gustav Adolf gleichsam dem englischen Bürgerkrieg, der in der Enthauptung König Karls I. gipfelte, kontrastierend gegenübergestellt. Aber in der Reisebeschreibung seiner Tour verweilt Defoe nie lange bei historischen Details, denn es drängt ihn immer weiter.

Überhaupt bleibt in dieser unternehmerischen Zeit, die der unsrigen schon in vielem ähnelt, nicht viel für Erinnerung, für Gedanken an Vergänglichkeit und Tod übrig. Wenn Defoe bei einem Bauwerk den einsetzenden Verfall bemerkt, wendet er dies interessanterweise mit dem Trick eines Paradoxons ins Positive: Es zeigt für ihn die schöne Vollkommenheit des Verfalls, wobei er sich eines Zitats des von ihm so geschätzten Grafen Rochester bedient.

Weitgehend ausgeklammert wird von Defoe trotz seines sonstigen Interesses an den niederen Schichten auch die Tatsache, dass in dieser Zeit des wirtschaftlichen Fortschritts zugleich ein Proletariat entstanden ist. Eine Ausnahme ist allerdings etwa die Schilderung der kümmerlichen Existenz eines schottischen Bergknappen, der mit seiner Familie in einer Höhle haust, wie er überhaupt gerade in Schottland den Armen einige Aufmerksamkeit zuwendet.

Genüsslich schildert er andererseits etwa den berühmten Badekurort Tunbridge Wells, ist er doch ein beliebter Treffpunkt der High Society. Lebhaft skizziert Defoe das gesellschaftliche Treiben, die Lust der Menschen, zu sehen und gesehen zu werden. Die einzige Beschäftigung der Leute, die man dort findet, ist Geselligkeit und gute Unterhaltung, und Defoe fährt fort mit einem Bonmot fast von der Art eines Oscar Wilde, der diesen Ort ebenfalls schätzte: ... die Leute, die nirgends sonst etwas zu tun haben, scheinen die einzigen zu sein, die etwas in Tunbridge zu tun haben.

Seine Reise führt ihn auch über Stratford-upon-Avon, das jedoch noch nicht zu einem englischen „Nationalheiligtum“ avanciert ist. Auf dem Programm steht für ihn lediglich der Besuch der Pfarrkirche, um das Denkmal des alten Shakespeare zu betrachten, das wurde dem berühmten Dichter ... dessen dramatische Werke ihm unter den englischen Dichtern eine besondere Stellung garantieren ... vielleicht bis ans Ende der Zeiten gesetzt. Das Einzige, was er bezeichnenderweise über den Ort Stratford selbst berichtet, ist die Tatsache, dass der Fluss Avon bis Stratford schiffbar ist.

Ist der Fluss Avon nur ein kleiner Schiffsweg, so widmet Defoe überhaupt einen beträchtlichen Teil seines Reiseberichts den Wasserstraßen der Insel und ihrer Bedeutung, die sie durch ihre Verbindung mit dem Meer für den Handel besaßen. Entsprechend erfährt man auch viel über die Beschaffenheit von Landstraßen und Wegen. Defoe hatte immer ein besonderes Interesse an den Verkehrswegen, denn sie sind die Venen und Arterien eines Landes, ohne die die Handelsaktivitäten überhaupt nicht möglich wären. Defoe plädiert nun entschieden dafür, die Hauptstraßen mit ihren zahlreichen Löchern und Wasserpfützen zu verbessern und mindestens auf ein technisches Niveau zu bringen, über das bereits die alten Römer verfügten. Als Fortschritt wird ausdrücklich begrüßt, dass mancherorts zur Finanzierung der Verbesserung von Verkehrswegen eine Straßenbenutzungsgebühr erhoben wurde.

Wie wir gesehen haben, liegt Defoe besonders die detaillierte Beobachtung. Mit großer Ausführlichkeit widmet er sich etwa der Nahrungssuche und den Wanderflügen der Schwalben, wobei seine Detailkenntnisse erstaunlich sind. Und mit der Beschreibung ihres Flugverhaltens setzt er sich ab von den zum Teil abstrusen Vorstellungen der „Experten“. Ferner gibt er in seiner Reise durch die ganze Insel Großbritanniens eine schöne Schilderung der Kunst des Wildentenfangs. Wir erfahren, wie man Enten als Lockvögel züchtete, die, wie man annahm, bis Holland oder Deutschland flogen. Dort berichten sie, so schreibt Defoe, in ihrer eigenen Sprache den fremden Wildenten von ihren guten Futterplätzen, um sie zu überreden, ihnen nach England zu folgen. Auf diese Weise hierher gelockt, werden sie dann nach kurzer Eingewöhnungszeit von einem Hund aus dem Riedgras am Rande eines Teiches in dessen Mitte getrieben. Daraufhin wird ein über den Teich zwischen Bäumen gespanntes großes Netz zum Fang der Wildenten schnell heruntergelassen, während die dressierten Lockenten, die Verräter, noch die Gelegenheit haben, rasch aus der Falle zu entkommen.

Da Defoe auch bei der Landschaft die Möglichkeit ihrer Nutzung für wirtschaftliche Produktion interessiert, kommt ihre Schönheit nur ganz selten in seinen Blick. Er ist besonders durch die hohe, massive Bergwelt von Wales völlig irritiert, und er vergleicht sie mit den Alpen. Ihr Anblick ist jedoch schrecklich und zum Fürchten; durchaus begreiflich, denn bis der Mensch die Schönheit der alpinen Bergwelt entdeckte und sie zu schätzen verstand, sollten noch ein paar Jahrzehnte vergehen.

Defoes Großbritannien-Reise, die den Anspruch erhebt, nur Neues zu berichten, ist nicht so originell, wie er behauptet. Dennoch ist sie ein hochrangiges und bahnbrechendes Werk, eine Fundgrube für die Lebenswirklichkeit im frühen 18. Jahrhundert, geschrieben von einem journalistisch höchst begabten, genau beobachtenden und sein Metier bestens beherrschenden Schriftsteller.“

 

Am Ende

 

„Der letzte Abschnitt in Defoes Leben ist rasch erzählt. Durch die Einkünfte aus dem Verkauf vor allem seiner Romane war es ihm und seiner Familie gelungen, einige Jahre ein beschauliches, von Schulden und finanziellen Sorgen freies Leben in seinem Haus in Stoke Newington zu führen. Da er gern in seiner großen Bibliothek las, konnte er sich nicht nur in die bedeutenden Beschreibungen früherer Pest-Epidemien, wie etwa in Boccaccios „Decamerone“, vertiefen, sondern nahm vor allem auch Notiz von der Literatur seiner eigenen Zeit. Zugleich erfreute er sich an seinem Garten.

Die meiste Zeit ist er freilich mit Schreiben beschäftigt, denn er hat noch Projekte der verschiedensten Art. Dieser erstaunlich anregende Autor fühlt sich nach wie vor berufen, sich als Mahner und Ratgeber Gehör zu verschaffen. In dem drei Jahre vor seinem Tod erschienenen Buch London als Stadt der Städte (Augusta Triumphans) tritt er nochmals mit Vorschlägen an die Öffentlichkeit, mit denen er dazu beitragen möchte, Londons Ansehen noch zu steigern. Dazu gehört für ihn die Gründung eines Findelheims nach Hamburger Muster, um die Tötung Neugeborener zu unterbinden, und ein solches wurde später auch eingerichtet. London solle, so schlägt er vor, außerdem ein Zentrum der Wissenschaft werden und selbstverständlich auch eine Universität erhalten. Er plädiert für die Gründung einer englischen Musikakademie, denn dies entspreche dem Niveau der eigenen nationalen Musik, die er in vorzüglicher Weise in dem großen Komponisten Henry Purcell repräsentiert sieht. Dass Defoe unmusikalisch gewesen sein soll, ist übrigens ein unbegründetes Vorurteil, hat er doch mindestens die Violine zu spielen gelernt. Und als Stilideal für seine Prosa nennt er mehrfach die Musik; er hat dies auch in seinen Hauptwerken in überzeugender Weise verwirklicht.

Abgesehen von weiteren Büchern zum Handel - darunter auch ein Atlas Maritimus -, einer Schrift über das Ideal des Gentleman und außer einem bereits früher entstandenen Werk über das zu seiner Zeit nicht unwichtige Problem einer Christliche(n) Gattenwahl (Religious Courtship) verfasst er auch einen sehr interessanten Text mit dem eigentümlichen Titel Unzucht in der Ehe (Conjugal Lewdness). Mit hoher sprachlicher Meisterschaft, mit seiner Begabung, dramatische Dialoge kolloquial exakt und wirklichkeitsnah zu schreiben, verbunden mit sehr genauer Charakterzeichnung, schildert er in diesem Buch recht bewegend etwa das Unglück von Ehen, die man als Hölle bezeichnen könnte. Wohl gab es auch einen konkreten biographischen Anlass für dieses Werk, die Ehe seines älteren Sohnes Benjamin. Dessen Frau hatte in neunzehn Ehejahren nicht weniger als siebzehn Kinder geboren, von denen nur drei die Kindheit überlebten. Defoe entschloss sich zu diesem Werk offenbar auch deshalb, weil er in dieser Ehe die für ihn sehr wichtige Lebensregel des Maßhaltens verletzt sah. So wendet er sich direkt dem tabuisierten Thema ehelicher Sexualität zu und diskutiert sehr offen übliche wie pervertierte sexuelle Praktiken. Grundvoraussetzung für den ehelichen Verkehr ist natürlich die Liebe, denn in einer Ehe ohne Liebe wird lediglich die Prostitution legalisiert, und die Frau verfügt über keinerlei Freiheit, eine für seine Zeit erstaunliche Betrachtungsweise.

Zu Defoes Zeit gibt es allerdings bereits Ansätze für eine Verbesserung der materiellen Position der Frau. Es wurde immerhin nach Möglichkeiten gesucht, ihr nach der Verehelichung weiterhin die Verfügungsgewalt über ihren Besitz zu belassen. Dies sollte sich nun gerade für Defoes eigene Frau als großer Vorteil erweisen. Denn es wäre Defoe hochwillkommen gewesen, wenn er auf Marys Erbe von ihrem Bruder hätte zugreifen können. Doch der Schwager hatte stattliche Werte nicht der Defoe-Familie, sondern ausschließlich Defoes Frau als seiner Schwester vermacht und einen Verwalter bestimmt. Defoe ging also leer aus; doch wie sehr hätte er dieses Geld gebraucht. Denn in seiner letzten Lebensphase setzte sich erneut ein bekanntes Lebensmuster durch: Er hat offenbar nichts aus seinen früheren finanziellen Katastrophen gelernt und will sich, obschon ein alter Mann, ein zweites Mal in der Geschäftswelt als Kaufmann engagieren. Statt einen Lebensabend bei gutem Auskommen zu genießen, investiert er wieder in ein teures Projekt, da er nochmals eine Ziegelfabrik gründen will. Erneut muss er Kredite aufnehmen, die er nicht zurückzahlen kann, und bekommt ein letztes Mal die Unehrlichkeit von Geschäftspartnern zu spüren …“

1731 stirbt Daniel Defoe.

 

Die Schmähschrift oder Königin gegen Defoe – Erzählt nach den Aufzeichnungen eines gewissen Josiah Creech von Stefan Heym“

 

Hiermit ist Stefan Heym ein zeitloses Meisterwerk gelungen, das für Meinungsfreiheit eintritt und sich gegen staatliche Willkür und gegen den staatlichen Spitzel-Apparat richtet. Bei allen Staaten. Auszüge aus dem Buch:

„Doch keiner unter den Zuschauern, ich selbst natürlich ausgenommen, erwartete die Strenge des Urteils, welches der Oberste Richter am Ende verlas, auf Zahlung einer Buße von 200 Mark gesetzlicher englischer Währung, und am Pranger zu stehen, einen Tag in Cornhill nahe der Londoner Börse und am folgenden Tag in Cheapside in der Nähe des dortigen Wasserbrunnens, den dritten Tag in Fleet Street vor Temple Bar, und zwar je eine Stunde zwischen elf Uhr vormittags und zwei Uhr nachmittags, dies nach eigener Wahl, mit einem Papier über dem Kopf auf welchem seine Vergehen geschrieben stehen, und daß der besagte Daniel Ffooe alias DeFoe sichere Bürgschaften stelle für sein gutes Verhalten während der nächstfolgenden sieben Jahre.

Die Hand meines Lords Nottingham zeigte sich in der Feinheit, daß dem Verurteilten gestattet wurde, die Stunde seiner Qual selbst zu bestimmen. Mein Lord hatte gesiegt; und während Mr. DeFoe nach Newgate zurückgebracht wurde, um dort im Gewahrsam des Sheriffs von London zu verbleiben, brauchte mein Lord nur abzuwarten, bis des Gefangenen Willenskraft brach ...

29. Juli 1703

… Konstabler und einiges Militär in den Seitenstraßen des Cornhill placiert, und überzeugte mich, daß die Kommandeure wohl instruiert waren, und verteilte darauf die Mehrzahl des für die Gelegenheit angeheuerten Gesindels nahe der Königlichen Börse in Wurfweite des Prangers. Der Anführer unter ihnen war Lemuel Finney; dieser hatte sich mit einem Sack voll Eiern und stinkendem Fisch und Tomaten und angefaulten Krautköpfen ausgerüstet, als Gewürz dazu ein paar Pflastersteine, und versicherte mir, daß das Fehlen eines Auges die Zielsicherheit nicht nur nicht minderte, sondern im Gegenteil sogar steigerte.

Bereits eine halbe Stunde vor Beginn des Ereignisses begann alles mögliche Volk sich auf der Straße zu drängen, so daß trotz ihrer Breite binnen kurzem weder Kutschen noch andere Fahrzeuge passieren konnten und berittene Garde herbei mußte, um dem Karren einen Weg zu bahnen, auf welchem der Gefangene, wenige Minuten vor der Mittagsstunde, zum Schafott gefahren wurde. Mr. DeFoe hatte es vorgezogen zu stehen; seine Hände waren nicht gefesselt, so daß er sich am Querholz festhalten konnte; er blickte mit sichtlicher Besorgnis über die Masse der Gesichter hin, die ihm in plötzlichem Schweigen zugewandt waren. Einige hörten ihn dem Karrenmann für die Fahrt Dank sagen; dann stieg er vom Karren direkt aufs Schafott, und der öffentliche Henker klomm nach ihm hinauf. Der Henker schloß ihm die Klötze rasch um Hals und Handgelenke, so daß das Gesicht, auf dem sich große Tropfen Schweiß bildeten, hübsch eingerahmt war wie auf einem Bilde, und über dem Kopf wurde ein Papier angeheftet, auf dem zu lesen stand: Daniel Ffooe, wegen der Abfassung und Veröffentlichung einer aufrührerischen Schmähschrift ‚Das kürzeste Verfahren mit den Abweichlern‘.

Das sonderbare Schweigen hielt an, während Mr. DeFoe sich der beschwerlichen Konstruktion des Querbalkens anzupassen und so viel von dessen Last wie möglich auf den Stützpfosten zu verlagern suchte. Robin Mastschwein, der trotz seiner Gicht nach Cornhill gepilgert war, kam auf mich zugehinkt. „Mr. Creech“, flüsterte er, sich die Stirn wischend, „mir schwant, Sie werden Schwierigkeiten haben.“

Da schrie eine Frau auf; und ein Hochruf erscholl: „DeFoe!“, und diesem schlossen sich weitere an, „Ffooe!“ und „DeFoe!“ und „Hallo!“, und dazu das Echo von den hohen Häusern beiderseits der Straße, so daß es über den ganzen Platz hin hallte, als wäre ein ungeheures Raubtier aus dem Käfig gebrochen und brüllte uns drohend entgegen. Die Pferde der Garde wurden unruhig, die Konstabler besorgt, und ich hielt es für besser, die Menge von dem Schafott abdrängen zu lassen, jedoch nicht zu weit, damit der für später geplante Einsatz meiner Bande von Lumpen und Spitzbuben nicht ohne Wirkung bliebe. Bis dahin, hoffte ich, würden die anwesenden Vertreter der Geistlichkeit und der besseren Stände dem Mann am Pranger die Hölle heiß machen. Allein statt dessen erschienen von überallher Weiber, die meisten jung, und mehr als eine von zweifelhafter Tugend, welche bunte Blumensträuße und Kränze mit sich führten. Die nichtsahnenden Soldaten ließen die Frauenzimmer passieren; worauf diese unter dem Heißa und Hussa der Menge und unter den schlüpfrigsten Witzen auf Kosten von Kirche und Richterschaft das Schafott zu bekränzen begannen. Zur gleichen Zeit kamen aus den Schenken und Wirtshäusern in der Nähe diverse Leute und sammelten sich beim Pranger, wo sie ihre Krüge und Flaschen erhoben und dem Gefangenen oben zutranken und ihn als einen tapferen Burschen und mutigen Kerl hochleben ließen und ausriefen: „Nur weiter so, Mr. DeFoel“ und „Wir sind mit Euch, Mr. DeFoe!“ und „Das kürzeste Verfahren ist das beste!“.

Robin Mastschwein humpelte wieder herbei. „Mr. Creech“, sagt er, auf seinen Stock gestützt, „dies hat alle Anzeichen, als ob es gegen uns ginge; wenn Sie zuzuschlagen beabsichtigen, dann jetzt oder nie.“

„Ein wenig Geduld, Mr. Stephens“, sage ich, „wir haben viereinhalb Monate gebraucht, den Mann zu fassen, aber wir haben ihn; lassen wir ruhig noch ein paar Minuten verstreichen; die Masse ist ein wankelmütiges Ding, und die Hosianna schrien, werden bald genug Kreuziget ihn! rufen.“ Und da in dem Augenblick Finney geschlichen kam und verstohlen wissen wollte, was ich zu unternehmen wünsche, befahl ich ihm, seinen Leuten durchzusagen, sie sollten auf den Schlag der halben Stunde nach Mittag den Gefangenen zu beschimpfen und zu bewerfen beginnen.

Mr DeFoe, dies konnte ich beobachten, fühlte sich trotz der verschiedenen Sympathiebeweise nicht sehr wohl; die Sonne brannte ihm auf den Pelz, der Schweiß stach ihn ins Auge; Fliegen und Mücken ließen sich auf Gesicht und Händen nieder, ohne daß er sie abwehren oder sich kratzen konnte. Außerdem mußte ihm klar sein, daß die Blumen und Vivats nicht die einzigen ihm zugedachten Begrüßungen sein mochten; unter Schmerzen wandte er den Kopf zwischen den Klötzen und blickte um sich, als versuchte er zu erkennen, von wo aus der nächste Streich erfolgen werde. Da es gerade ruhig war, vernahm ich sein Stöhnen; allein schon im nächsten Moment teilte sich die Menge, und durch sie hindurch drang von der Börse her eine Horde junger Burschen, Schürzen vor dem Bauch, Druckerlehrlinge und dergleichen, welche Körbe voll Pamphlete und Flugblätter trugen und aus voller Lunge auszurufen begannen: „Das Neueste vom Verfasser des Echten Engländers!“ - „Hymne an den Pranger!“ - „Speziell für den heutigen Tag geschrieben und gedruckt!“ - „Sowie eine Neuausgabe des Kürzesten Verfahrens!“ - „Kauft, lest, gebt's weiter!“ Die Konstabler und ein Teil der Soldaten machten Jagd auf die Jungen; diese verkauften ihre Ware, während sie flüchteten; mehrere auch, statt die Druckschriften beschlagnahmen zu lassen, zerstreuten dieselben über den Köpfen der Menge, so daß das Papier aufflatterte wie weiße Vögel und die Pferde der Garde verschreckte; die Tiere bäumten sich laut wiehernd auf und trugen zu dem allgemeinen Tohuwabohu bei; und hoch über dem Volk, von einem Laternenpfahl aus, las ein junger Mann mit heller, durchdringender Stimme der Menge vor:

Sei mir gegrüßt, großmächt‘ger Apparat des Staats

Geschaffen, drin die Phantasie zu strafen!

Wer Mannes ist, ein Mann zu sein, fühlt keinen Schmerz in dir;

Fühlt nur Verachtung für dich!“

Darauf brach Gelächter aus, und die Lippen des Gefangenen verzogen sich zuckend zu einem Lächeln. Der junge Mann befand sich in zu großer Höhe, um von den Konstablern herabgeholt zu werden, und so fuhr er fort zu deklamieren; doch der Lärm der Soldaten, welche den Druckerlehrlingen noch immer nachjagten, die Rufe der Zuschauer, welche die ungesetzliche Ware zu erwerben wünschten, die Schreie der Frauen, welche gedrängt und gestoßen wurden, sowie erneuter Beifall für den Gefangenen ließen nur Bruchstücke des Gedichts das Ohr erreichen. Wie es schien, zählte der Verfasser darin all jene auf, die er an seiner Statt am Pranger wissen wollte: die Staatsmänner, die uns mit unsichrer Hand führen! die Soldaten; die stets zum Empfang von Geld, nicht aber zum Kampf bereit! die Obristen, die gefälschte Mannschaftslisten vorlegen! die feigen Kapitäne der Flotte!

Die Menge brüllte vor Lust und verlangte nach mehr, und der junge Mann klomm höher hinauf auf seinem Laternenpfahl und las:

Die Börsenmakler und die Spekulanten ...

Daß sie am Pranger bleiben müßten,

Bis sie dies Wunder uns erklären:

Wie Kurse sinken, wenn Verdienst die Kosten übersteigt,

Und wieder steigen, wenn die Schiffe sinken ...

Kirchliche Würdenträger dann gehörn in dein Gestühl,

Die Demut predigen, welche sie nie hatten ...

Dann bring vor deine Schranke das Juristenpack!

Schaumschläger, staatlich approbiert,

Die mit der Zunge jederlei Verbrechen zeugen ...

Und nicht zuletzt die Bullen der Regierung

Drauf abgerichtet, Unschuld'ge zu Tod zu hetzen!...“

Das traf gefährlich nahe, und ich blickte mich nach Robin Mastschwein um, der fassungslos, wie vom Blitz getroffen, dastand. Der junge Mann, nach dem Klang seiner Stimme zu urteilen wohl ein Schauspieler, war trotz des Tumults wieder zu hören:

Doch Recht bedeutet nichts, solang'

Derart gesetzlich Instrument,

Statt Missetäter peinlich zu bestrafen,

Die Ehrlichen in Schrecken hält!“

Das war zuviel; und ich wußte, was mein Lord Nottingham zu sagen haben würde, wenn man dem Treiben nicht Einhalt gebot. Ich gab dem Hauptmann der berittenen Garde ein Zeichen, und an der Spitze seiner Leute ritt er eine der prächtigsten Attacken, die ich je gesehen; die Garden packten vom Sattel aus den jungen Mann bei den Beinen und zerrten an ihm, bis er von dem Laternenpfahl abließ und durch den Knall, mit dem er auf dem Pflaster landete, einen vernehmlichen Schlußpunkt hinter seinen letzten Vers setzte.

Darauf wurde es still ringsumher. Nur eine oder zwei Minuten fehlten bis zur halben Stunde, und ich vermeinte, die Zeit für Finneys Geschosse akkurat richtig gewählt zu haben, denn diese würden in die geeignete Stimmung fallen; doch da erhob sich eine neue Stimme, rissig, heiser, verzerrt, gespenstisch fast - die Stimme des Gefangenen:

Sag an, wer ist's, der da am Pranger steht,

So schwer beschuldigt, doch so bar der Furcht?

Von dem Papier an seinem Hut

Laß alle Welt erfahren, was er tat! ...

Sag ihnen denn, er war zu kühn!

Er sprach gewisse Wahrheiten, die besser ungesprochen!

Sag ihnen, daß er da erhöhet steht,

Weil er verkündete, was wir nicht hören wollten! ...

Und so ward als Exempel statuiert,

Damit Angst herrscht vor jedem offnen Wort ...“

Die Stimme schien zu versagen, aber sie kräftigte sich wieder und sprach, beinahe im Flüsterton, hörbar nur einem Teil der Menge:

Sag ihnen: die ihn aufs Schafott gestellt,

Sind eine Schmach für unsre Zeit!

Unfähig, Schuld an ihm zu finden,

Sind sie noch weniger imstand zu tun, was er getan!“

Die Glocke schlug die halbe Stunde. Aber nichts von dem, was ich geplant und vorbereitet, geschah. Die schreckliche Stille dauerte an. Ich blickte mich nach Lemuel Finney um und sah ihn, den Sack in der Hand, auf mich zukommen: „Mr. Creech“, sagt er, „es geht nicht. Wir haben eine Kollektion von Halsabschneidern und Halunken um uns gesammelt, wie außerhalb von Newgate selten eine vereint war; allein keiner von ihnen will's wagen, gegen diese Stimmung des Volks zu sprechen oder auch nur einen Fischschwanz zu werfen.“

„Dann beginnen Sie gefälligst, Finney“, sage ich. „Es bedarf eines braven Mannes, um ein Beispiel zu geben, und Sie selbst haben erklärt, daß Sie als Einäugiger besser ins Ziel treffen als jeder andere.“

„Mr. Creech“, sagt er, „ich treffe die Fliege auf dem Schnurrbart, ohne die Nase zu streifen. Aber der Schütze ist noch.nicht geboren, der tausend Kerle mit einem Wurf umlegt.“

„Dann reichen Sie mir den Sack, Finney“, sage ich. „Ihre Munition wenigstens darf ich bitte benutzen.“

Er gehorchte mit Freude, und ich fand einen Pflasterstein, der mir gut in der Hand lag, und hob den Arm zurrt Wurf, wobei ich rief: „Hier eine Rose für den großen Schriftsteller ...“

Das war das letzte, dessen ich mich entsinne, außer dem dumpfen Schlag auf den Schädel und Schauern von Sternen ...

3. August 1703

... langsam die Augen öffnend erblickte ich, wie durch Nebel, das fette Gesicht, die wirre Perücke, den schnupftabaksfleckigen Rockkragen des Robin Mastschwein. Das Gesicht näherte sich mir; der Mund öffnete sich besorgt und ließ zwei Reihen schmutzfarbener, aber ungemein großer und brauchbarer Zähne sehen. „Nun, Mr. Creech“, sagt er, „es scheint, Sie wollen eine neue Perückenmode kreieren, ganz aus Groblinnen, und eng anliegend am Kopfe, und bis zur Braue herab und über die Ohren. Ein hübsches Bild, meiner Treu, eines wackeren Manns und ehrlichen Dieners der Regierung, in recht guter Verfassung trotz eines Hiebs auf den Schädel, durch welchen empfindlichere Geschöpfe zur ewigen Ruhe eingegangen wären.“

„Ich bitte Sie, Mr. Stephens“, sage ich, „welches Datum schreiben wir heute?“

„Den dritten August“, sagt er, „und ein sonniger Tag, kein Wölkchen am Himmel, wir haben einen außergewöhnlich schönen Sommer.“

Ich begann im stillen nachzurechnen und fragte ihn dann: „Habe ich die ganze Zeit geschlafen, Mr. Stephens?“

„Wie ein satter Säugling, Mr. Creech“, sagt er. „Kein Mucks kam von Ihnen, auch nicht der leiseste Pieps, seit wir Sie von der Börse am Cornhill nach Hause gebracht.“

„Cornhill“, sage ich, mir stückweise die Ereignisse ins Gedächtnis rufend, „ich nehme doch an, man hat nach meinem Unfall gebührlich mit Mr. DeFoe verfahren?“

„Gebührlich verfahren?“ sagt Robin Mastschwein. „Wenn's gebührlich ist, daß einer, der Schmähschriften und zweifelhafte Reime verfaßt, über Religion und rechtmäßige Autorität triumphiert, war's wohl gebührlich. Wenn's gebührlich ist, daß so einer nach einer vollen Stunde am Pranger unter dem Jubel der Menge herabsteigt und als ihr Held und Symbol begrüßt wird, war's wohl gebührlich. Wenn's gebührlich ist, daß man auf der Straße die einfache Silbe Foo nicht aussprechen kann, ohne daß einem erklärt wird, da ist ein wirklicher Mann, und welch schurkische Regierung wir doch haben, und ob es nicht an der Zeit wäre, an eine neue Revolution zu denken, dann war's wohl gebührlich.“

„Aber die andern zwei Male?“ sage ich. „Sie wollen doch nicht behaupten, Mr. Stephens, daß die Sache am folgenden Tag in Cheapside und am Tag darauf bei Temple Bar genauso skandalös ausging? Daß Mr. DeFoe in Glanz und Ehren dastand statt in Schande? Daß er König der Menge war statt ihre Zielscheibe und daß Aufruhr und Ketzerei auf diese Weise noch belohnt statt bestraft wurden? Wo waren die vielen Boten der Königin, wo der mächtige Arm des Gesetzes? Wo die geheimen und nicht so geheimen Agenten, die Schar der Spitzel und Denunzianten und Schläger und Zuhälter, auf die der Staat sich verläßt in seinem Kampf gegen den Geist des Aufruhrs und die er mit seiner Gunst überschüttet?

„Ach, Mr. Creech“, sagt er mit einem Seufzer, „es war, als hätte mit dem Verlust Ihrer werten Person die ganze Regierung den Kopf verloren. Lord Nottingham geriet über den Fall in Streit mit dem Lordsiegelbewahrer und mit Lord Godolphin: waren sie von Mr. DeFoe getäuscht worden oder nicht; war Ihrer Majestät gedient gewesen durch den Prozeß oder nicht; und war es besser, Mr. DeFoe zwei Drittel seiner Strafe zu erlassen und so die Ungerechtigkeit des Urteils öffentlich zuzugeben, oder ihm zu gestatten, sich noch zweimal an den Pranger zu stellen und so die rechtmäßige Kirche sowie die Regierung noch zweimal vorm Volke anzuprangern; oder war es das beste, das Militär aufmarschieren und die Soldaten auf die Köpfe des irregeführten Publikums einprügeln zu lassen? Und während sie diese und verwandte Fragen disputierten, ergriffen Ihre Lordships überhaupt keine wirkungsvollen Maßnahmen, und die Angelegenheit nahm ihren beweinenswerten Lauf.“

Worauf Robin Mastschwein, da ihm die Kehle ausgetrocknet, sich auf die Suche nach einer Flasche Wein, einem Krug Bier oder irgend etwas Trinkbarem begab; er fand nichts, doch fiel sein Auge dabei auf einen Brief, welcher auf der Anrichte lag und während meiner langen Bewußtlosigkeit eingetroffen sein mußte. „Mr. Creech“, sagt er, „ich glaube, ich erkenne das Siegel; der Brief kommt von Seiner Lordship.“

Da ich erwartete, der Brief werde eine Botschaft des Beileids zu meinem Unglück oder der Aufmunterung, vielleicht gar des Lobes enthalten, bat ich Mr. Mastschwein, das Siegel zu brechen, um mir den Inhalt des Schreibens vorzulesen. Was er denn auch tat, obwohl seine gichtigen Finger nur schwer gehorchen wollten; darauf räusperte er sich und ließ sich vernehmen: „Mr. Josiah Creech, et cetera et cetera. In Anbetracht Ihres offenbaren Versagens in Sachen ‚Königin gegen DeFoe‘, dessen Folgen ich Ihnen wohl nicht zu erläutern brauche, wird es für ratsam gehalten, daß Sie mit dem heutigen Datum aus meinem Dienstbereich ausscheiden. Gezeichnet, Nottingham.“

„Und das ist alles, Mr. Stephens?“ sage ich.

„Mr. Creech“, sagt er, „das ist alles.“

 

Vera Lengsfeld im Jahr 2016: „Das vom Verlag Der Morgen herausgegebene Bändchen mit neckischen Illustrationen von Horst Hussel war in der DDR purer Sprengstoff.

Es war wie ein Stromschlag: Ich erinnerte mich, mit welcher Erregung ich das Bändchen, das in einer abgelegenen Buchhandlung neben der Akademie der Wissenschaften für mich unter dem Ladentisch bereitgehalten worden war, in die Hand nahm. Ein Autor hatte gegen die Hetzjagd auf Andersdenkende, die damals Staatsdoktrin war, rebelliert …

Er schildert eine Begebenheit aus England zur Zeit von Queen Anne, die den Schriftsteller Daniel Defoe wegen einer aufwieglerischen Satire verfolgen ließ. Aber allen war klar, dass nicht Queen Anne, sondern das Politbüro gemeint war.

Sätze wie, dass es an der Zeit ist, „die Nation von der Schlangenbrut zu befreien…und das ketzerische, aufrührerische Unkraut auszurotten, das den Frieden der Kirche so lange gestört, das gute Korn vergiftet hat“, wurden als Beschreibung des Angriffs gelesen, den die Genossen auf ihr Volk eröffnet hatten.

„Wenn ein strenges Gesetz erlassen und pünktlich durchgeführt würde…sollten wir bald genug ein Ende der Sache sehen. Zu diesem Zweck hat die Vorsehung uns ein solches Parlament ! einen solchen Adel ! und eine solche Königin ! gegeben, wie wir sie nie zuvor hatten.“

Was ich mir nach dem Zusammenbruch der zweiten deutschen Diktatur nicht vorstellen konnte, ist, dass ich diese Sätze vierzig Jahre später wieder als aktuell empfinden würde.

Aber die große Kampagne gegen Abweichler von der offenbar wieder sakrosankten Regierungsmeinung, ist bereits angekündigt. Aus dem Mund der Fraktionschefs Thomas Oppermann (SPD) und Volker Kauder (CDU) tönte, dass die Große Koalition zu Beginn des nächsten Jahres so genannte Fake News, von denen niemand weiß, was das ist und wer darüber entscheiden soll, streng bestraft werden sollen. Den sozialen Medien, die nicht schnell genug löschen, wird mit einem Bußgeld von bis zu 500 000 Euro gedroht, den Verbreitern droht man sogar mit Haft, wie unser Justizminister bereits angekündigt hat.

In Heyms Büchlein machen sich die Büttel der Königin erfolgreich auf die Suche nach dem Verfasser der Schmähschrift. Nachdem Defoe gefasst und eingekerkert wurde, wurde er vor die Wahl gestellt, entweder zu widerrufen, oder an den Pranger gestellt zu werden.

„Mr. Defoes Schultern senkten sich, als trügen sie bereits die schweren Querbalken. „Kann Euer Lordship denn nicht verstehen, dass der freie Gedanke des Menschen nicht wie ein Stock ist, den der Hund auf seines Meisters Befehl apportiert? Oder ist Euer Lordship so festgefahren auf den Wegen der Orthodoxie, dass Ihnen jede nicht amtlich gebilligte Idee notwendig als Teil eines aufrührerischen Komplotts erscheint?“

Danach musste der Aufrührer mit dreimaligem Pranger bestraft werden. Die Büttel hatten alles gut vorbereitet. In der Menge, die herbeigeströmt war, um das Spektakel zu beobachten, waren willige Helfer verteilt, die stinkenden Fisch, faulenden Kohl, aber auch Ziegelsteine bereit hielten, um sie auf den Abweichler zu schleudern.

Vereitelt wurde der Plan von den Anhängern Defoes. Erst kamen Frauen, um die Richtstätte mit Blumen zu bekränzen, dann wurden von den Versammelten Hochs auf Defoe ausgebracht. Kein inoffizieller Mitarbeiter der Krone wagte, den ersten Stein zu werfen. Sie mussten sich dem entschiedenen Volkswillen beugen.

Fazit: Wenn sich genügend Menschen finden, die der Tyrannei widerstehen, sind die eben noch Mächtigen machtlos. Die Oppermanns, Kauders und Maas´ lieben uns doch alle. Sie wollen nur unser Bestes, unsere Freiheit, aber die müssen wir ihnen nicht geben!“

https://vera-lengsfeld.de/2016/12/19/die-schmaehschrift-oder-koenigin-gegen-defoe/

 

Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge (A Brief History of the Poor Palatine Refugees)

 

Geschichte ist das, was die Gegenwart an ihr interessiert.

In der Fülle der Werke von Daniel Defoe hat Wolfgang Riehle diese Schrift aus dem Jahr 1709 entweder nicht gekannt oder sie war für ihn nicht interessant genug. Mittlerweile ist sie mehr als 300 Jahre nach Erscheinen mit der europäischen Flüchtlings-Krise sehr interessant geworden. In deutscher Sprache erstmals 2016 in der Literatur-Zeitschrift „Sinn und Form“ erschienen, wurde sie 2017 in Buchform veröffentlicht. Obwohl es zwischen beiden Ereignisse große Unterschiede gibt, lohnt es sich dennoch, Daniel Defoes Schrift zu lesen. Vor allem für jene, die selbst aus der (damaligen) Pfalz stammen. Gerne verweist der Wurm auf seinen Beitrag wg. Auswanderung http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/38-fragen-eines-lesenden-kinogaengers.html Die englische Prinzessin, die im frühen 17. Jahrhundert den Kurfürsten von der Pfalz geheiratet hatte und deren Nachfahren später in Personalunion Könige von Hannover und England sein sollten, ist im Beitrag http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/332-terra-deserta.html erwähnt.

Zuerst möchte der Wurm das Vorwort aus dem Jahr 1964 von John Robert Moore zitieren:

„Im Frühsommer 1709 trafen weiterhin Flüchtlinge aus der Unterpfalz in England ein - des Englischen nicht mächtig und ohne Aussicht auf Broterwerb, fast oder völlig mittellos. Ein Hungerjahr, die Verheerungen durch die französischen Truppen oder religiöse Verfolgung hatten viele aus ihren Orten in der Rhein-Neckar-Region vertrieben.

Über ihre Religion und ihre Herkunftsländer bestand Unklarheit. Ein englischer Beobachter, der ihr Lager auf Blackheath bei London besucht hatte, berichtete, sie „kamen nicht wegen religiöser Verfolgung herüber, denn die meisten von ihnen lebten unter der Herrschaft protestantischer Fürsten“. Eine beträchtliche Anzahl der aus der Unterpfalz Gekommenen erwies sich als katholisch; und da viele von ihnen vermutlich ehemalige Protestanten waren, die ihren Glauben aufgrund von Zwang oder Überredung seitens des Kurfürsten gewechselt hatten, legte man ihnen nahe, der Church of England beizutreten, anstatt sich zurückschicken zu lassen. Doch im Sommer 1709 war die allgemeine Meinung, dass die meisten Flüchtlinge aus der Unterpfalz stammten und wegen ihres protestantischen Glaubens Verfolgung gelitten hatten.

Als Pfälzer bezeichnete man alle, die den Rhein hinunter zur holländischen Kanalküste zogen und von dort nach England übersetzten. Mit einer einfachen Alliteration nannte man sie „poor Palatines“, arme Pfälzer. Bei den Anhängern von Godolphins Ministerium - zumeist Whigs, Low-Church-Mitgliedern und Dissentern - deutete diese Bezeichnung auf Mitgefühl mit ihrem Ungemach. Bei Godolphins Gegnern - zumeist Tories und High-Church-Mitgliedern - war sie mehr eine Erinnerung, dass sie keinen materiellen Reichtum nach England gebracht hatten und Objekte öffentlicher und privater Wohltätigkeit waren.

Viele Engländer (darunter Defoe), erinnerten sich daran, dass eine wunderschöne und beliebte englische Prinzessin vor fast hundert Jahren den Kurfürsten von der Pfalz geheiratet hatte und dass sie und ihr Mann die Kurwürde durch die Feigheit und Torheit ihres Vaters, Jakobs I., verloren hatten. Eine Tochter des unglücklichen Paares lebte noch als Sophie, Kurfürstin von Hannover, designierte britische Thronfolgerin und Mutter Georgs, des künftigen Königs von Großbritannien. Im Spanischen Erbfolgekrieg, in dem Großbritannien von der deutschen Grenze bis zu den Feldern Spaniens operierte, hatten pfälzische Soldaten einen glänzenden Ruf.

Für die Ankunft der Pfälzer wurden damals unterschiedliche Gründe genannt. In den Vorjahren hatte William Penn um deutsche Siedler für Pennsylvania geworben; doch in letzter Zeit war er in juristischen und finanziellen Schwierigkeiten gewesen, sodass er 1709 nicht in der Lage war, sie wirkungsvoll zu unterstützen, obwohl das Einbürgerungsgesetz, das er vor allem wegen der französischen Hugenotten befürwortet hatte, am 23. März in Kraft getreten war. Agenten der Carolina Proprietors luden deutsche Auswanderer auch dann noch ein, als London die Pfälzer bereits zur Rückkehr drängte. Königin Anne selbst hatte durch ihr Wohlwollen gegenüber in Not geratenen Lutheranern den Glaubensgenossen ihres verstorbenen Mannes Zuspruch erwiesen. Nach dem Sturz von Godolphins Ministerium berichtete ein feindlich gesonnener Unterhaus-Ausschuss, in der Pfalz werde ein Buch mit dem Porträt der Königin als Frontispiz verbreitet, als Ermutigung, nach England zu kommen, um sich nach Carolina oder in eine andere Kolonie schicken zu lassen.

Flüchtlinge strömten weiterhin nach England, im Ungewissen über ihren letztlichen Bestimmungsort. Königin Anne beteiligte sich großzügig an den Kosten für Beförderung und Ernährung. Und fast zum letzten Mal verschaffte Godolphins zu Ende gehendes Ministerium der Königin eine persönliche Befriedigung, indem es zur Unterstützung der Pfälzer die Finanzen der Regierung schwer belastete. Am 14. Juni ließ der britische Sekretär in Den Haag verlauten, „bei Fortsetzung von Ihrer Majestät Freigebigkeit oder irgend sonst einer Ermutigung, kann man, wenn man möchte, halb Deutschland haben, denn sie fliegen alle weg, nicht nur aus der Pfalz, sondern auch aus allen anderen Staaten im Rheinland“.

Den Vereinigten Niederlanden fiel es schwer, ihre zahlreichen Gäste zu ernähren, die auf die Beförderung nach England warteten. Und der Kurfürst von der Pfalz, ein Verbündeter Großbritanniens im Krieg gegen Frankreich, empörte sich über die Flucht so vieler Untertanen. Im Juli war der Strom der Auswanderer am Rhein und in den Niederlanden weitgehend eingedämmt; doch England stand vor dem Problem von 10.000 Ausländern, die auf Blackheath und in Camberwell in Hütten oder Heereszelten kampierten. Öffentliche oder private Subskriptionen hatten reichliche Spenden erbracht, und die offizielle Gazette rief zu Vorschlägen für die Unterbringung der Flüchtlinge auf. Doch für deren ständige Ansiedlung oder Beschäftigung waren keine geeigneten Regelungen getroffen worden.

Godolphins Ministerium und die Sympathisanten der Pfälzer mussten auf Schritt und Tritt Schwierigkeiten gewärtigen. Die meisten Flüchtlinge wollten nach Amerika - doch dies war nicht die Zeit zum Entsenden der üblichen Flotten, Begleitschiffe waren in Kriegszeiten hoffnungslos knapp, und 10.000 Pfälzer zu befördern, war schlicht unmöglich. Großbritannien blockierte rivalisierende Industrien in der Neuen Welt, und amerikanischer Tabak traf auf einem übersättigten europäischen Markt auf neue Konkurrenz vom Kontinent. Einige Arbeitskräfte konnte man für besondere Projekte wie die Herstellung von Teer und anderem Marinebedarf in den Wäldern New Yorks hinüberschicken. Doch solche geringfügigen lokalen Tätigkeiten boten keine wirkliche Lösung. Defoe befürwortete jahrelang eine englische Ansiedlung am Unterlauf des Rio de la Plata in Südamerika. Doch die Ansiedlung derart vieler Flüchtlinge in so großer Entfernung war in Kriegszeiten unerschwinglich, und deutsche Flüchtlinge (die kein Englisch konnten, das Projekt ablehnten und mit Großbritannien nicht durch Treuebande verknüpft waren) wären von Anfang an eine ausländische Kolonie.

Viele Flüchtlinge pochten darauf, sie hätten sich nach Nordamerika eingeschifft und kein Interesse, woandershin geschickt zu werden. Wenn man sie in etablierten Industrien in England unterbrächte, wären sie eine Konkurrenz für die einheimischen Arbeiter. Auf Gütern würden sie die Löhne der Landarbeiter drücken und (in künftigen guten Erntejahren) vermutlich einen Überschuss produzieren, den die englischen Landwirte gerade zu vermeiden suchten. Das meiste Ackerland lag in traditionellen Sprengeln, deren Amtsträger jede neue Verpflichtung für die Armen oder Arbeitslosen fürchteten. Öffentliche Besitzungen wie der New Forest waren durch Übergriffe immer mehr beschnippelt worden, sodass die Grundherren Futter und Brennstoff aus den umliegenden Wäldern in den Pachtzins einrechneten.

In Irland hatten das Parlament und Einzelpersonen Hunderte Pfälzer zur ständigen Ansiedlung eingeladen, doch Ausländer zum Einschiffungshafen nach Chester zu bringen, war schwierig. Nur wenige Sprengel waren bereit, den Fremden ohne Garantie, sich nicht aufzuhalten, den Durchgang zu erlauben; jeder Konflikt mit den Einheimischen wurde aufgebauscht und den Auswanderern angelastet. Der Bericht eines High-Church-Mitglieds von einer Auseinandersetzung zeigt die Vorurteile des waschechten Engländers:

„26. Aug. (Frei) Da die Regierung es für richtig befunden hat, viele Tausende armer Pfälzer im Königreich aufzunehmen, damit sie hier durch Abgaben unterhalten und in allen Sprengeln Englands angesiedelt werden, können wir uns auf die Folgen dieser Gewährungen anhand eines kürzlichen Beispiels vom Betragen etwa 40 dieser armen Menschen in einer Ortschaft, etwa 2 Meilen von Harrow on the Hill, gefasst machen: Als dort offenbar 3 oder 4 rechtschaffene Engländer zusammensaßen und ein oder zwei Kannen Ale tranken, sahen sie besagte Pfälzer vorbeikommen, und natürlich machten sie ein paar Bemerkungen über die Aufnahme dieser Leute im Königreich; und als einer der Pfälzer das hörte, gab er seinen Gefährten ein Zeichen, und sogleich kamen alle in den Raum, verprügelten die Personen grausam und unmenschlich und hätten ihnen die Kehle durchgeschnitten, aber da der Konstabler gerufen und eine Anzahl Leute geholt wurde, wurden sie bei ihrem Anschlag überwältigt; aber anstatt eine angemessene Bestrafung zu erhalten, als sie von einem Friedensrichter vernommen wurden, kamen sie mit einer Verwarnung davon, und die Begründung für ihre milde Strafe war, dass sie als Ausländer die englischen Gesetze nicht kennen und es eine Unmenschlichkeit wäre, sie denselben dennoch zu unterwerfen.“

Die „Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge“ erschien am 11. August 1709 bei John Baker, der seit Kurzem Defoes hauptsächlicher Verleger war. Ein Jahr später übernahm Baker die Review, und bis 1717, als er starb, war er an mindestens 88 weiteren Publikationen Defoes beteiligt. Dieses Traktat ist für Defoe besonders typisch und, abgesehen von seinen eher fragmentarischen Bemerkungen in der Review, der zeitgenössischen Diskussion dieses Themas einzigartig überlegen. Das ursprüngliche Traktat ist nur in dem Exemplar des British Museum bekannt. Die Lilly Library der Indiana University besitzt einen Nachdruck aus Dublin vom selben Jahr.

In seinen ökonomischen und politischen Schriften präsentierte Defoe sein Material gern von einem von zwei ganz bestimmten Standpunkten - was er oft „ohne Türen“ und „innerhalb von Türen“ nannte. 1709 beschäftigte sich seine Review wochenlang vor allem mit der vorgeschlagenen Ansiedlung der Pfälzer, und seine Aussagen zeigen, dass er hierfür viele derselben Notizen verwendete wie für die „Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge“. Als intelligenter Engländer mit Erfahrung im Kaufmännischen und in öffentlichen Angelegenheiten behandelte er allgemein bekannte und beachtete Dinge, und er schlug Lösungen vor, die auf offensichtlichen Wahrheiten der Ökonomie und Staatslehre beruhten. Aber als anonymer Autor dieses Traktats hatte er Zugang zu offiziellen Dokumenten und Insiderinformationen. Er zitierte eine exakte Statistik der Pfälzer mit Zahlen der in allen Gewerken und Berufen Beschäftigten; er wusste, welche Engländer in Ausschüssen mitgewirkt hatten und zu welchen Entscheidungen man gelangt war; er kannte Namen, Daten und Vorschläge. Er erhob nicht den Anspruch auf offizielle Zustimmung, doch selbst ein flüchtiger Leser müsste in der „Kurzen Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge“ ein Weißbuch erkennen, das von Lord Godolphins Ministerium, ebenjenem, das Defoe als seinen aktivsten Pamphletisten und Agenten beschäftigte, genehmigt - oder zumindest gebilligt - worden war.

Wer mit Defoes Traktaten vertraut ist, erkennt zwei Merkmale seines Werkes: (1) Als praktizierender Journalist schrieb er in „Clustern“, und man darf daher erwarten, dass er einen Stoff unter verschiedenen Aspekten erörtert, solange er ein Thema von allgemeinem Interesse bot; (2) als Sozialhistoriker bewahrte er in seinem Denken und Schreiben eine Kontinuität, sodass dieselben Probleme und oft dieselben Lösungen wiederkehren, solange er das Wort an die Öffentlichkeit richtete. In beiden Punkten ist dieses Traktat typisch für Defoe. Aber wenn 1709 Harley und nicht Godolphin Lord Treasurer gewesen wäre, dann besäßen wir viele Briefe, in denen Defoe sein Wirken für die Pfälzer umreißt - denn Harley hat einen Großteil seiner Korrespondenz mit ihm aufbewahrt, während Defoes zahlreiche Briefe an Godolphin fast alle verloren gingen. Einige Briefe vom Sommer 1709 lassen sich zum Teil aus einer langen Mitteilung rekonstruieren, die Defoe fünfzehn Jahre später in einer anonymen Schrift veröffentlichte, in der er einen detaillierteren Vorschlag für die Ansiedlung der Pfälzer im New Forest unterbreitete. Der erste Abschnitt lautet:

„Hier darf ich nicht den Vorschlag des jüngst verstorbenen Ersten Lords der Schatzkammer Godolphin zur Repeuplierung des Forest unerwähnt lassen, über den ich mich aus mancherlei Gründen ausführlicher als sonst ein noch Lebender äußern kann, weil ich die Ehre hatte, den Plan zu entwerfen, und ihn vor diesem Edlen Herrn zu begründen, sowie vor einigen anderen, die damals hauptsächlich damit befasst waren, sie herüberzubringen, oder vielmehr damit, sie zu versorgen, als sie hier waren, die armen Bewohner der Pfalz; eine an sich löbliche Sache, aber als sie in Angriff genommen wurde, zur Schande für England und zum Unglück für diese armen Menschen gemacht wurde.“

Was die Kontinuität betrifft, so ist das Traktat ein Ausdruck seines zentralen Themas. Als Urenkel kontinentaler Einwanderer und Verteidiger eines ausländischen Königs erinnerte sich Defoe besonders gern daran, dass er der Autor des „True-Born English-Man“ war, eines Gedichts, das mit diesen Zeilen endet:

Fame of Families is all a cheat,

'Tis personal virtue only makes us great.

(Familienruhm ist nichts als Trug

Nur eigene Tugend macht uns groß.)

Robinson Crusoes Vater war aus Norddeutschland nach Yorkshire gekommen, und Crusoe sagte später von sich, dass er auf einer ganz anderen Insel „eingebürgert“ worden sei.

Schon 1697 hatte er sich in einem Traktat, das ihm erst kürzlich zugeschrieben wurde, für die allgemeine Einbürgerung von Ausländern ausgesprochen. 1698 erwähnte er die Unfähigkeit Englands, den Protestanten in der Pfalz zu helfen, und trat dafür ein, alle ausländischen Protestanten aufzunehmen, aus denselben Gründen, die er elf Jahre später anführte. Vor dem Zustrom im Jahre 1709 antizipierte seine Review mehrmals seine späteren Argumente. In einem Traktat von 1706 vertrat er exakt dieselbe Wirtschaftsauffassung: „Es ist unmöglich, dass Britannien zu viele Menschen haben sollte, sollten 3 Millionen Fremde herkommen und sich hier ansiedeln; ja, und ob sie gleich nichts mitbrächten als ihre Hände, würden sie doch unser Nationalvermögen vermehren, da durch die Arbeit dieser Menschen und ihre Ausgaben für Lebensbedürfnisse das Grundkapital erhöht, das Wachstum unseres Landes verstärkt und unsere Waren konsumiert würden.“ 1713 und abermals 1717 äußerte er sich positiv über die Pfälzer, und 1718 verwies er auf zwei Berichte von den Verheerungen der Pfalz durch französische Truppen. 1728 erklärte er, Alt-Spanien könne noch vier oder fünf Millionen mehr Menschen ernähren, „wenn Spaniens Regierung ausländische Nationen ermutigen würde, sich bei ihnen anzusiedeln, indem sie ihnen Land gibt, das jetzt brachliegt, damit sie es bewohnen und bebauen“.

Falls Defoe seine Kampagne für die Pfälzer fortzusetzen gedachte, war dazu keine Gelegenheit. Als dieses Traktat erschien, befand er sich schon im Geheimauftrag Godolphins auf dem Weg nach Schottland. Im September schrieb er aus einem Ort 150 Meilen nördlich von Edinburgh. Vor Februar 1710 wurde er nach London zurückgerufen, zu spät, um seine Gönner noch vom Prozess gegen Sacheverell abzubringen, der das Ende ihres Ministeriums besiegelte. Im August 1710 wurde Godolphin von Harley verdrängt, dem viel an dem unentbehrlichen Defoe als Pamphletisten und Agenten lag, der aber keine Lust hatte, zu weiterer Werbung für die Pfälzer anzuspornen.

Rückzugsgefechte mochten noch von einem Pro-Whig-Schreiber wie Francis Hare ausgetragen werden, der das abgelöste Ministerium zu verteidigen suchte, indem er historische Präzedenzfälle für die Aufnahme von Ausländern zitierte. 1711 stimmte das Oberhaus für die Aufhebung des „Einbürgerungsgesetzes“ von 1709, aber das führte nicht zu einer Abstimmung im Unterhaus. Im selben Jahr brachte ein Unterhaus-Ausschuss ein langes Gutachten ein, das so endete: „Da wir uns vergewissert haben, dass, wer immer auch die armen Pfälzer in dieses Königreich herübergebracht hat, ein Feind der Königin und dieses Königreiches, war.“ Aber 1711 war diese vehemente Entschiedenheit in erster Linie ein Angriff gegen den aalglatten Grafen von Sunderland (Minister des Southern Department, als die Pfälzer herüberkamen), und wie so viele Angriffe gegen Sunderland wurde er ohne weitere Aktion eingestellt.

Als Georg 1714 auf den Thron kam und die Whigs im Amt bestätigt wurden, wurde Großbritannien ein erklärter Anwalt der in ihrem Land unterdrückten Pfälzer. 1720 geriet Defoe vorübergehend in Schwierigkeiten, weil er (als heimlicher Zensor Jakobitischer Zeitschriften für die Regierung) Mists Artikel gegen die Einmischung Georgs zugunsten der protestantischen Untertanen des Kurfürsten von der Pfalz nicht verhindert hatte.

Knapp ein Jahr vor seinem Tod druckte Defoe einen begeisterten Bericht aus Pennsylvania über 6.208 Einwanderer im Jahre 1729, von denen 243 „pfälzische Passagiere“ waren. Aber da waren die meisten der 10.000 Flüchtlinge, die er in Blackheath und Camberwell gesehen und gesprochen hatte, in alle Winde verstreut - verhungert, auf den Kontinent zurückgekehrt, angesiedelt in England oder Irland, vor allem aber neu angesiedelt in den nordamerikanischen Kolonien.

Noch heute gibt es eine unverkennbare pfälzische Ansiedlung in Irland, und Nachfahren der Pfälzer sind in etlichen Teilen Englands anzutreffen. Und doch sind es Pennsylvania, New York, die beiden Carolinas, die Staaten des Mittleren Westens und weit dahinter die Pazifikküste, wo der Einfluss von Defoes „armen pfälzischen Flüchtlingen“ am meisten ins Auge fällt. In unzähligen privaten oder öffentlichen Dingen in Amerika haben sie ihre Prägung hinterlassen, und ihr Charakter und ihre Leistungen haben Defoes Vertrauen in ihre Fähigkeiten oft gerechtfertigt. Die „Pennsilfaanisch Deitsch“ haben diesem Engländer ausländischer Herkunft viel zu verdanken, einem Schriftsteller, der (mehr als jeder andere englische Autor) aufrichtige Plädoyers für ihr Wohlergehen in der Gegenwart und ihre Chancen in der Zukunft hielt.“

Daniel Defoe: „Die Mehrheit der Bevölkerung sind Protestanten, die seit der Nachfolge des Herzogs von Neuburg, eines Papisten, in die Kurwürde sowie durch die barbarischen Einfälle der Franzosen sehr behindert wurden.

Die meisten unserer pfälzischen Flüchtlinge wohnten in der Nähe von Heidelberg, Mannheim, Frankenthal, Speyer, Worms und in anderen Teilen der Unterpfalz entlang des Rheins, welche diejenigen, die diese Gegend bereist oder von ihr in Gesprächen gehört haben, als eine der schönsten Europas kennen; aber nachdem sie fast hundert Jahre lang Kriegsschauplatz war und alles erduldete, was das Haus Österreich ihr anzutun vermochte, hat das Haus Bourbon ihren Ruin vollendet.

Dieses herrliche Land war eine Zeit lang nur von Protestanten bewohnt, doch, wie oben dargetan, fiel es nach dem Erlöschen der böhmischen Linie an das Haus Neuburg, was, da dieses der papistischen Religion angehört, der Grund ist, dass es in diesem Land jetzt so viele Papisten gibt; ein paar davon (was nicht zu verhindern war) haben sich unter die protestantischen Flüchtlinge gemischt, die nun in England sind. Jedoch, das kann man wirklich zu ihren Gunsten sagen, sind sie alles andere als französisierte oder spaniolisierte Papisten, denn da zumeist Protestanten oder Kinder von Protestanten, bewahren sie noch eine Spur der väterlichen Religion, die sie nur aufgegeben hatten, um der Verfolgung und Verachtung zu entgehen und den Befehlen zu gehorchen und dem Beispiel ihres Landesherrn zu folgen; ein Fehltritt, fürwahr, doch einer, dessen sich auch andere schuldig gemacht haben, die nie solchen Versuchungen wie sie ausgesetzt waren, und in Ländern, die viel näher sind als die Pfalz. Dieses sind daher sehr unbedeutende Ursachen, einige von ihnen sind bereits zur Kirche herübergekommen, und weitere sind gewillt, ihrem Beispiel zu folgen, durch den Eifer und die Mühe einiger ehrenwerter Geistlicher aus Deutschland und der Schweiz, die ihnen das anglikanische Gebetsbuch in ihrer Sprache derart vorlasen, dass alle oder die meisten dieser Flüchtlinge, ein paar Papisten sowie Calvinisten und Lutheraner diesen Gottesdienst fleißig, andächtig und freudig besuchen; und das würden noch mehr der wenigen Papisten, wenn die Prediger eines gewissen ausländischen Ministers und andere von derselben Sorte, die sich unter römischen Verkleidungen verbergen, nicht mehr auf sie einzuwirken versuchten.

Wie sie in diese elenden Umstände gerieten, Sir, ist Ihre nächste Erkundigung, die ich nur erörtere, um Ihren Forderungen zu genügen; und Sie daher ersuche zu lesen, was dieselben über sich in einer Druckschrift mit dem Titel Die pfälzische Sache, &c. sagen:

„Wir, die armen bedrängten Pfälzer, deren völliges Verderben angerichtet wurde durch die grausame Gewalt eines blutrünstigen Feindes, der Franzosen, deren überlegene Macht vor einigen Jahren wie ein reißender Strom in unser Land einbrach und uns sogleich überwältigte; und nicht zufrieden mit Geld und Nahrung für ihre Bedürfnisse, nahmen sie uns nicht nur allen Unterhalt, sondern brannten auch unsere Häuser unmenschlich bis auf den Grund nieder, und nun jeglichen Schutzes beraubt, wurden wir auf das offene Feld hinausgetrieben und zogen dort, mit unseren Familien, umher, um irgendeinen Schutz zu finden, genötigt, den kalten Boden zu unserem Quartier und die Wolken zu unserer Bedeckung zu machen. In dieser erbärmlichen Lage schickten wir unsere demütigen Bitten und unser Flehen zu Gott dem Allmächtigen, der versprochen hat, zu erretten all jene, die auf ihn vertrauen; dessen Güte wir so reichlich erfahren haben, da er die Herzen frommer Fürsten geneigt machte zu christlichem Mitgefühl und Nächstenliebe für uns in diesem elenden Zustand, welch selbe durch ihre königlichen Gaben und reichlichen Schenkungen und die beispielhaften Wohltaten der Adligen, Gentlemen und anderer, uns und unsere Kinder vor dem Verderben bewahrt haben, besonders seit unserer Ankunft in diesem glücklichen Königreich von Großbritannien, das nicht nur, wie das Land Kanaan, reich ist an allem Lebensnotwendigen, sondern auch an gottesfürchtigen Menschen, die den Bedrängten um Christi willen großzügig geben, so, wie ihnen vom Allmächtigen Geber gegeben wurde all das, dessen sie jetzt genießen. Gesegnetes Land und glückliche Menschen! Regiert von der nährenden Mutter Europas und der besten aller Königinnen!, deren grenzenlose Barmherzigkeit und Nächstenliebe uns von weither gekommene jämmerliche Fremdlinge aufgenommen hat in ihr Reich, wo wir versorgt wurden mit allem, was für unser gegenwärtiges Dasein nötig; wofür wir den Allmächtigen Gott rühmen und preisen, wie auch Ihre Erhabene Majestät nebst Ihren guten Untertanen, vom höchsten bis zum geringsten Rang, und geloben aufrichtig und getreulich, uns in Zukunft mit ganzer Kraft Gott dankbar und Ihrer Majestät und all Ihren guten Untertanen dienstbar zu zeigen, wie auch immer es Ihrer Güte gefallen möge, über uns zu verfügen, und unterdessen dringlich zu beten, dass Gott die Nächstenliebe so wohlgesonnener Menschen ihnen in ihrer eigenen Brust tausendfach vergelte, was der ganze Lohn ist, den wir arme bedrängte Protestanten, wir Pfälzer, geben können.“

Doch um in der Sache dieser armen protestantischen Unglückseligen genauer zu sein, gab ich Ihnen eine kurze Liste der hauptsächlichen Orte, aus denen sie kamen; und um nicht alle Miseren zu rekapitulieren, in die sie während eines fast hundert Jahre währenden Krieges gerieten, will ich Ihnen nur dartun, wie die genannten hauptsächlichen Städte in den jüngsten Kriegen verwüstet wurden. Speyer, wo sich das Kaiserliche und Reichskammergericht befindet, wurde von Gustav Adolf, dem König von Schweden, eingenommen, der die dortigen Befestigungen schleifte, weil er keine ausreichende Garnison für ihre Verteidigung abstellen konnte. Es gab viele prächtige Häuser und Kirchen in dieser Stadt, ehe sie niedergebrannt wurde; die Hauptkirche war der mit vier Türmen verzierte Dom. Die Bürger haben ihn zum Teil wieder aufgebaut, aber es wird lange dauern, bis er seinen alten Glanz zurückgewinnt. Die Zerstörung zwang viele Einwohner, sich in den umliegenden Dörfern anzusiedeln, von denen viele in späteren Kriegen zerstört wurden.

Philippsburg, das als die erste Stadt der Pfalz gilt, wurde sechs Mal eingenommen, nämlich 1633 von den Kaiserlichen, ein Jahr später von den Schweden und 1636 von den Kaiserlichen, 1644 vom Herzog von Enghien, dem späteren Prinzen Condé, vom Reichsheer 1676 und vom Dauphin an seinem Geburtstag, am 1. November 1688, und ging aber durch den Frieden von Rijswijk wieder an das Heilige Römische Reich. Der jetzige französische König, der durch den Frieden von Münster in den Besitz der Stadt gelangte, ließ über dem großen Stadttor die folgende stolze Inschrift einmeißeln (aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt):

Zur Verteidigung des Rheinlands ließ Ludwig der XIV., Allerchristlichster König von Frankreich und Navarra, nachdem er die Kriege in beiden Deutschland beendet und den Frieden überall wiederhergestellt hatte, diese Festung auf Seine eigenen königlichen Kosten mit Wällen und Mauern verstärken, als ein Denkmal seiner Tapferkeit und der Wiederherstellung der deutschen Freiheit. 1666. Er vollendete sie zum Schrecken seiner Feinde, zur Unterstützung seiner Verbündeten und zur Sicherheit für die Franzosen, da es das zweite Bollwerk Frankreichs diesseits des Rheins war und ein Schlüssel nach Deutschland, niedrig in der Lage, aber nicht in Stärke. Was er zuschließt, macht keiner auf; und was er öffnet, macht keiner zu.

Als sie von den Kaiserlichen 1676 abermals eingenommen wurde, ließ der Kaiser die Inschrift auskratzen und direkt gegenüber eine neue anbringen.

Philippsburg hat während der Bürgerkriege in Deutschland viel gelitten, aber am meisten 1693 durch die Unmenschlichkeit der Franzosen, die das prächtige Schloss, die Kirchen zerstörten und in der großen Kirche Frauen vornehmsten Standes brutal schändeten, welche dort Schutz gesucht hatten, als die Franzosen die Stadt durch die Niedertracht oder Feigheit des Gouverneurs einnahmen, eines Ritters des Deutschen Ordens, der danach aber zu Recht degradiert und mit anderen Zeichen von Schimpf und Schande öffentlich gebrandmarkt wurde.

Worms gilt als die zweite Stadt der Pfalz. Munster sagt, zu seiner Zeit lagen zweihundert Städte, Marktflecken und Dörfer so dicht bei Worms, dass man Esswaren dorthin bringen und am Abend schon wieder zu Hause sein konnte. All diese Orte litten während der Bürgerkriege in Deutschland gleichermaßen, am meisten jedoch durch die Franzosen im Jahre 1693, als diese binnen drei Stunden viele prächtige Gebäude niederbrannten, die das Werk von Jahrhunderten gewesen waren. Die Papisten sind hier zahlreich und haben den Dom, aber die Ratsherren und die meisten Einwohner sind Lutheraner. Die Stadt liegt in einer sehr fruchtbaren Gegend, ist so groß wie Frankfurt, aber ungenügend peupliert wegen der schlimmen Nachbarschaft der Franzosen, die das angrenzende Land so verheerten und, wohin sie kamen, eine solche Tyrannei über die Einheimischen geübt haben, dass man sich in ihrer Reichweite ebenso wenig ansiedeln mochte, wie Sklave in der Türkei sein.

Mannheim, etwa zweiundzwanzig Meilen von Heidelberg entfernt, am Zusammenfluss von Rhein und Neckar, wurde vom letzten Kurfürsten aus der alten Familie durch mehrere Bollwerke und zwei Zitadellen befestigt. 1688 wurde es von den Franzosen eingenommen, die, da sie dieselbe im folgenden Jahr aufgeben mussten, die Festungswerke und einen Teil der Stadt schleiften und das umliegende Land verwüsteten. Frankenthal, und seine Umgebung, auf der Westseite des Rheins, erlitt ein noch schlimmeres Schicksal und wurde von den Franzosen 1688 niedergebrannt und die Gegend entvölkert.

Oppenheim, das auf einem Hügel am Rheinufer steht, etwa zweiundzwanzig Meilen von Worms und elf von Mainz, wurde von den Franzosen 1693 zerstört. Es wäre eine endlose Mühe, Sir, alle einzelnen Orte in der Pfalz aufzuzählen und zu beschreiben, die verwüstet wurden; und deshalb stelle ich mich, und Sie, und viele andere, zufrieden, indem ich sage, dass ihre Heimat im jüngsten und jetzigen Krieg am allermeisten unter den häufigen Invasionen, Überfällen und wiederholten Eroberungen der Franzosen gelitten hat, die mehr als zweitausend ihrer größten Städte, Marktflecken und Dörfer niedergebrannt und schier zur Wüste gemacht, ihre Weinstöcke vernichtet und vielerorts herausgerissen haben, mit der Absicht, eine so tödliche Wüstenei zu schaffen, dass ihr Land nie wieder bevölkert oder bewohnt werden könnte. Ungeheure Scharen dieser Menschen sind in Wäldern und Höhlen unter wilden Tieren zugrunde gegangen, durch Hunger, Kälte und Blöße. Diese armen Flüchtlinge sind ihre Überlebenden, welche, in einem kurzen Zwischenfrieden, ein paar Hütten errichtet hatten und ihr verödetes Land wieder bebauten, voller Hoffnung auf ein Auskommen; aber durch die jüngsten Einfälle der Franzosen sind sie nun in noch schlimmerer Not als zuvor; denn die Franzosen, nicht zufrieden mit ihren früheren Grausamkeiten, haben ihr Land abermals verheert und die Bewohner an den Bettelstab gebracht, indem sie ihr Vieh wegtrieben und sie so um den Lohn ihrer Arbeit brachten, und erhoben dennoch bis auf den heutigen Tag ungeheure Kriegskontributionen von ihnen ...“

 

Ein Bericht vom Pestjahr (A Journal of the Plague Year)

 

Im Jahr 1665 forderte die Pest ca. 70.000 Todesopfer in London. Ein erstklassiges Zeugnis darüber gibt Daniel Defoe mit seinem „Bericht vom Pestjahr“ aus dem Jahr 1722.

Ernst Gerhard Jacob in seinem Nachwort aus dem Jahre 1965: „Noch lange wird Defoe Erzählungen über die Pest aus dem Munde derer gehört haben, die sie überlebten, und in seinem puritanischen Elternhause wird das Gespräch auch oft darauf gekommen sein im Rahmen der großen Unsicherheit alles Irdischen und Vergänglichen mit seinem Bedürfnis nach Gebet und Buße. Defoe war unermüdlich und unübertroffen im Zuhören. Mit fremden Ohren und Augen konnte er sich so in vergangene Zeiten versetzen, daß seine Berichte darüber wie die eines Augen- und Ohrenzeugen aus jener Zeit selbst anmuten.

Diese erstaunliche Anpassungsfähigkeit Defoes, sein vielgestaltiges, proteusartiges „alter ego“ (hier im Bericht von der Pest der Sattler) ist das, was wir die „impersonation“, die Selbstdarstellung Defoes, nennen und als den Wesenskern seines universalen literarischen Schaffens erkennen. Defoe war ein begnadeter Journalist. Er konnte von allem ein lebendiges Bild entwerfen, ob er nun selbst dabei war oder nicht. Der englische Historiker Trevelyan schreibt über Defoe, daß dieser „als erster die Kunst der Reportage zur Vollendung gesteigert hat“ und daß selbst die Romane aus seiner Feder wie Robinson Crusoe (1719) und Moll Flanders (1722) „aus der Phantasie geschöpfte Reportagen über das tägliche Leben“ sind.

Bei Defoes Pestbericht (1722) ist es nicht anders. Defoe hielt sich an Tatsachen, soweit sie ihm zur Verfügung standen; wo nicht oder wo nur mangelhaft, erfand er sie und zwar mit derart sicherem Griff ins Wirkliche, daß es oft schwer ist, festzustellen, wo die Wahrheit endet und die Erfindung beginnt. Das alte Defoe-Robinson-Problem, wie es in der angelsächsischen Welt durch die Formel „fact and fiction“ (Tatsache und Erfindung) umrissen wird, zeigt sich auch im Buch von der Pest.

Walter Scott, der Defoe aus dem Dunkel der Vergessenheit auf seinen heutigen Ehrenplatz als einen der Väter und Meister des Prosaromanes erhoben hat, bekannte, daß Defoe, hätte er seinen Robinson nicht geschrieben, für sein Pestbuch die Unsterblichkeit verdient haben würde. Defoe und Scott besaßen beide in einem seltenen Maße die Gabe, in die historische Vergangenheit derart einzudringen, daß sie sich mit den von ihnen beschriebenen Romanhelden völlig zu identifizieren wußten. Defoes oft geltend gemachter Anspruch, daß seine Erzählungen wahr seien, ist durchaus nicht bloß ein Trick, um den Absatz seiner Bücher zu steigern und dem Bedürfnis seiner spätpuritanischen Leser nach Wirklichkeitsberichten zu entsprechen; in einem weiteren Sinne des Wortes sind seine Geschichten wirklich wahr. Defoe machte nicht nur Gebrauch vom besten verfügbaren Quellenmaterial, sondern er besaß auch einen lebendigen Sinn für die jeweils gegebene Wirklichkeit, die ihm zur zweiten Natur (alter ego) wurde. Der vollendete Ausdruck für dieses Selbstaufgehen in der neuen Umwelt ist nach unserem Dafürhalten die von Defoe bevorzugte Ich-Form der Erzählung, durch die er die Glaubwürdigkeit seiner Geschichten ebenso erhöht wie durch die stark betonte Detailschilderung aller Vorgänge und Zustände.

Lange Zeit wurde Defoes Bericht von der Pest als ein zeitgeschichtliches Dokument angesehen. Schon bald nach Erscheinen hielt es einer der bedeutendsten Ärzte jener Zeit, Dr. Mead, für eine authentische Quelle. Noch im Jahre 1841, also 120 Jahre nach seiner Veröffentlichung, wurde es von William Harrison Ainsworth als historische Quelle für seinen Roman „Old Saint Paul's“ benutzt …

Nach Defoes Tode (1731) wurde das „Journal“ im Laufe des 18. Jahrhunderts dreimal neugedruckt. Nach seiner Aufnahme in die von Walter Scott besorgte Gesamtausgabe der Defoeschen Werke wurde seine Verbreitung noch größer, vor allem auch, als ein frommer Buchhändler in Bath 1820 den Inhalt des Berichts in einem nur 23 Seiten umfassenden chapbook (Volksbuch) zusammenfaßte und dieses für einen Penny auf dem Lande verkaufen ließ. Das „Journal“ ist nächst dem „Robinson Crusoe“ das am meisten wieder aufgelegte und übersetzte Werk Daniel Defoes ...

Den unmittelbaren Anlaß für die Abfassung seines „Journals“ fand Defoe in dem allgemeinen Interesse, das damals auf jene Krankheit durch den Ausbruch der Pest in Marseille 1720/21 gelenkt wurde. Von Defoes zeitgenössischen Quellen sei hier nur auf den hervorragenden Arzt Dr. Nathaniel Hodges (im Tagebuch unter dem Namen Dr. Heath) und sein Werk Loimologia (1720) hingewiesen. Defoe hat sicher auch die „Anordnungen des Lord Mayor von London“ für die Pest gekannt und in seinem Tagebuch verwertet. Das Material für seine Schriftstellertätigkeit bestand aus einer Menge von Büchern, Manuskripten, Korrespondenzen, amtlichen Berichten, Unterredungen und persönlichen Beobachtungen und Notizen. Dieses Material hatte er stets bei der Hand und zog es ganz nach Bedarf heran. Er schrieb manche Bücher und legte sie wieder beiseite, weil die Nachfrage nach ihnen fehlte. So hätte er z. B. auch sein „Journal“ schon zehn Jahre früher schreiben können.

In den oben erwähnten „Anordnungen“ fanden sich viele Einzelheiten hinsichtlich der Wachmänner, der Schließung der infizierten Häuser, der Straßenreinigung, der Lüftung der Mietskutschen, der Kontrolle über die Bettler, die Kneipen, die Bärenhatz und dgl. All diese Einzelheiten, die durch Zeugenaussagen und Defoes eigene Phantasie noch ergänzt wurden, finden sich im ersten Teil des Berichts in gebührender Länge abgedruckt und erwecken beim Leser den Eindruck der Glaubwürdigkeit, solange er nicht bedenkt, daß die „Anordnungen“ eine frühere Epidemie betrafen und von Defoe selbst mit des Lordbürgermeisters Unterschrift versehen wurden.

Defoes „Journal aus dem Pestjahr“, das wie fast alle seine Werke anonym erschien, trägt den Untertitel: „Beobachtungen oder Erinnerungen der bemerkenswertesten Ereignisse, öffentlicher wie privater, beinhaltend, die sich in London während der letzten großen Heimsuchung im Jahre 1665 zutrugen. Niedergeschrieben von einem Bürger, der die ganze Zeit in London verbrachte. Nie zuvor veröffentlicht.“ Das Journal aus dem Pestjahr ist kein Tagebuch im eigentlichen Sinne. Es enthält keine Eintragungen unter bestimmten Daten, sondern verschiedene schriftliche Berichte über zurückliegende Zeiten („damals“, „in jener Zeit“ mit amtlichen Statistiken und Verordnungen, vielen, auf wahren Begebenheiten beruhenden Anekdoten, z. B. von Solomon Eagle, dem Schwarmgeist, oder von der Geldbörse im Posthof, die wegen der Ansteckungsgefahr niemand anzufassen wagte; ferner: viele gute Ratschläge zur Verhütung weiteren Übels, moralische, soziale und handelspolitische Betrachtungen über die Pest und ihre Folgen. Das Ganze liest sich fesselnd und spannend wie ein Roman trotz mancher Weitschweifigkeiten, Flüchtigkeiten, Widersprüchen und Wiederholungen, die sich auch hier aus der Hast und Eile erklären, mit der Defoe, der für seine Frau und sieben Kinder sorgen mußte, zu schreiben pflegte.

Neben der minutiösen Detailschilderung, durch die der Eindruck der größten Realistik erhöht wird, ist es auch das Stilmittel der Dramatisierung, z. B. bei der Erzählung von der vor der Pest fliehenden Drei-Männer-Wandergruppe, durch die eine große Lebhaftigkeit und Anschaulichkeit erzielt wird. Auch die psychologische Auswirkung der Seuche ist treffend geschildert …

In der medizingeschichtlichen Literatur hat Defoes „Journal“ von jeher eine große Rolle gespielt. Kurz nach Beendigung des zweiten Weltkrieges schrieb mir der frühere Direktor des Institute of the History of Medicine an der John Hopkins University (Baltimore), Prof. Henry E. Sigerist: „Defoe ist zweifellos für die Geschichte der Medizin von großem Interesse. Seine Schilderung der Pest ist äußerst lebendig und seine sozialen Essays sind sehr bedeutungsvoll“ …

Aus der neueren Literatur sei vor allem auf Johannes Nohl (Der schwarze Tod. Eine Chronik der Pest 1348 bis 1720, Potsdam 1924), verwiesen, der unter Benutzung zeitgenössischer Quellen ein vollständiges Bild von der „Pest und ihren gesellschaftlichen Folgen“ zu geben versucht und Daniel Defoe nicht weniger als siebenmal als Kronzeugen zitiert. So schreibt er z. B.: „Defoe erzählt, daß die Pestbeulen … wenn sie sich verhärteten und nicht aufbrechen wollten, so fürchterliche Schmerzen verursachten, daß sie der ausgesuchtesten Tortur gleichkamen, und daß sich viele, die diese Qualen nicht zu ertragen vermochten, aus den Fenstern stürzten, sich erschossen oder auf andere Weise das Leben nahmen. Sehr oft wurden die Erkrankten auch durch Angst und Schmerzen wahnsinnig. Eingehüllt in ihre Bettdecken, rannten sie nach den Totengruben und stürzten sich hinein, um sich, wie sie sagten, selbst zu begraben. Berühmt geworden ist in der Literaturgeschichte die Anekdote Defoes von dem lustigen Pfeifer, der schlafend im Totenkarren hinausgefahren wird und plötzlich fragt: „Ich bin doch nicht tot oder bin ich's?“ …

Das Interesse Defoes, der - wie sein Sattler in seinem Bericht von der Pest - aus der „middle dass“ stammte, war stets auf den soziologischen Unterbau der Gesellschaft, d. h. nicht auf die oberen 4.000, sondern auf die Masse der 4 Millionen gerichtet, im Gegensatz zu Addison und Steele, deren Interesse vor allem den „social scenes“ der höheren Gesellschaftsschichten galt. Es ist in diesem Zusammenhang charakteristisch für Defoe, daß er sich in seinem Pestbuch besonders auch mit den Folgen der Seuche für die Arbeitskraft des Volkes eingehend beschäftigt. So nennt er uns ausführlich die Klassen der Bevölkerung, die am meisten von der Arbeitslosigkeit durch die Pest betroffen wurden.

Von all den vielen Büchern und Schriften verschiedensten Inhaltes, die damals über die Pest erschienen, sind die beiden von Defoe, seine „Due Preparations for the Plague” und sein fingiertes „Journal” die einzigen, die heute noch ihren großen Wert als wahrheitsgetreue Zeitgemälde besitzen und denen wir, wie die moderne Forschung festgestellt hat, wegen ihrer unvergänglichen Lebensfrische und Lebensnähe fast ausschließlich unsere Kenntnis jener damaligen Zustände und Vorgänge verdanken. Auch sie setzen dem großen Schriftsteller und Menschen Daniel Defoe ein monumentum aere perennius, das dem allzeit „public-spirited man“ gilt, das heißt, dem mit dem nötigen Fingerspitzengefühl für die Fragen des öffentlichen Wohles begabten und begnadeten, echten Journalisten, der mit seinem erdichteten und erlebten „Journal“ mehr für die Menschheit leistete als alle gelehrten und halbgelehrten Abhandlungen seiner Zeitgenossen ...

Defoe aber, der z. B. mit seinem Robinson Crusoe das Lebensbrevier für ungezählte Scharen von Auswanderern nach Amerika und für die verschiedensten Übersee-Pioniere schrieb, zeigt sich auch in seinem „Journal“, dessen Erlebnisse er von einem Londoner Sattler, einem Manne seiner kleinbürgerlichen Gesellschaftsschicht berichten läßt, als der geniale Schriftsteller, der mit dem Herzblut seines Lebens schrieb und somit „in persona ad personam“ bis in unsere Tage wirkt: es ist gewiß kein Zufall, daß Albert Camus ein Wort von ihm vor seinen Roman „Die Pest“ (1950) gestellt hat.“

 

Daniel Defoe schildert alle nur denkbaren Aspekte bis hin zu Auswirkungen auf den Außenhandel. Er lobt die Bürokratie, die dafür sorgt, dass immer frische und preiswerte Lebensmittel in der Stadt sind, dass die Straßen sauber sind und die „unsauberen“ Dinge wie Beerdigungen in Massengräber in der Nacht durchgeführt wurden. Für solche Arbeiten gab es immer noch genug Arme, die das Risiko in Kauf nahmen, angesteckt zu werden, nur um etwas Geld verdienen zu können.

Zu jener Zeit war noch nicht bekannt, wie die Pest zustande kam, aber Daniel Defoe und die Behörden waren auf dem richtigen Weg:

„… Deshalb stand es für mich außer Frage, daß das Unheil durch Ansteckung verbreitet wurde; d.h. durch irgendwelche Dämpfe oder Dünste, die von den Ärzten effluvia genannt werden, durch den Atem, Schweiß oder die eiternden Wunden der Kranken oder auf eine andre Weise von ihnen ausgehend, welche vielleicht die Ärzte selbst nicht fassen können; diese effluvia griffen auf die Gesunden über, die bis zu einem bestimmten Abstand in die Nähe der Kranken kamen, drangen sofort in die inneren Organe der besagten gesunden Personen ein, versetzten ihr Blut in sofortige Fäulnis und verwirrten ihren Geist so, wie man ihn verwirrt fand; und die neu Angesteckten übertrugen die Krankheit auf die gleiche Weise auf andre. Dafür werde ich Beispiele anführen, die jeden, der ernsthaft die Dinge betrachtet, überzeugen müssen; und ich muß mich einfach wundern, daß es Leute gibt, die jetzt, da die Seuche vorüber ist, von ihr sprechen als von einem unmittelbar vom Himmel kommenden Schlag, der ohne Mitwirkung irgendeines Mittels den und jenen bestimmten zu treffen hatte und niemand sonst, eine Meinung, die man nur voll Verachtung als den Ausdruck offenkundiger Unwissenheit und unklarer Schwärmerei betrachten kann …

Weiter muß ich an dieser Stelle erwähnen, daß nichts für die Bewohner der Stadt verhängnisvoller war als ihre eigene gleichgültige Nachlässigkeit, denn obwohl sie lange vorher von der auf sie zukommenden Heimsuchung wußten und gewarnt waren, trafen sie doch keinerlei Vorsorge, legten keine Vorräte an Nahrungsmitteln und anderm Lebensnotwendigem an, welche es ihnen ermöglicht hätten, eingezogen in ihren Häusern zu leben, wie es andre taten und durch diese Vorsichtsmaßnahme, wie erwähnt, weitgehend bewahrt blieben; auch waren sie, nachdem sie die Gewöhnung noch gleichgültiger gemacht hatte, beim Umgang miteinander nicht mehr zurückhaltend wie anfangs, selbst wenn sie schon angesteckt waren und das auch wußten.

Ich muß bekennen, daß ich auch zu jenen Gedankenlosen gehörte, die so wenig Vorräte angelegt hatten, daß ich meine Bediensteten außer Haus schicken mußte, um jede Kleinigkeit groschen- oder pfennigweise einzukaufen, genau wie früher, und selbst als die Erfahrung mich meine Dummheit einsehen ließ, dauerte es bis zum einsichtigen Handeln noch eine ganze Weile; so daß ich schließlich kaum noch Zeit hatte, mich für einen Monat mit dem uns Nötigen einzudecken."

„… bin ich doch der Meinung, daß, wenn jeder, der fliehen will, erst einmal weg ist, die Zurückbleibenden, die sie über sich ergehen lassen müssen, steif und fest bleiben sollen, wo sie sind und nicht von einem Ende oder Viertel der Stadt zum andern hin- und herziehen; denn das bringt Unheil und Verderben für alle, denn sie schleppen selbst in ihren eigenen Kleidern die Pest von Haus zu Haus.

Wozu sonst war befohlen worden, alle Hunde und Katzen zu töten, wenn nicht deshalb, weil sie mit den Menschen zusammenleben und gern von Haus zu Haus, von Straße zu Straße laufen und dadurch die effluvia oder ansteckenden Ausdünstungen befallener Menschen sogar im Fell oder Haar weitertragen? Das war der Grund dafür, daß nach dem Ausbruch der Seuche vom Lord Mayor und der Stadtverwaltung eine Verordnung erlassen wurde, nach der, dem Rat der Ärzte folgend, alle Hunde und Katzen sofort getötet werden mußten, und jemand wurde mit der Durchführung beauftragt.

Es ist unglaublich, falls man sich auf den Bericht verlassen kann, eine wie unerhört große Zahl dieser Tiere vernichtet wurde. Ich meine, man sprach von vierzigtausend Hunden und fünfmal soviel Katzen, da kaum ein Haus ohne Katze war, manche hatten mehrere, manchmal bis zu fünf und sechs. Es wurden auch alle Anstrengungen unternommen, die Mäuse und Ratten zu vernichten, vor allem letztere, gegen die man Rattenvertilgungsmittel und andere Gifte auslegte, und auch von ihnen wurde eine außerordentliche Menge vernichtet.“

 

Religiöser, esoterischer und astrologischer Wahn sind den Menschen aller Zeiten zu eigen. Daniel Defoe schildert das folgendermaßen:

„Zu diesen sich vor jedermann abspielenden Vorgängen kamen die Träume alter Weiber, genauer, was alte Weiber aus den Träumen andrer herausdeuteten; diese machten eine Menge Leute völlig verrückt. Manche hörten warnende Stimmen, daß sie fliehen sollten, denn die Pest würde in London so furchtbar werden, daß die Lebenden nicht mehr die Toten begraben könnten. Wieder andere hatten Erscheinungen; und es sei mir erlaubt, von beiden zu sagen, ohne das Gebot christlicher Nächstenliebe zu verletzen, daß sie Stimmen hörten, die nicht sprachen, und Dinge sahen, die nicht da waren; aber die Menschen hatten die Kontrolle und Herrschaft über ihre Phantasie verloren. Und es ist gar kein Wunder, daß diejenigen, die nur noch auf die Wolken starrten, dort Gestalten und Bilder, Zeichen und Erscheinungen sahen, die doch nur Schall und Rauch waren. Da sahen sie angeblich ein flammendes Schwert, das eine aus den Wolken ragende Hand hielt, dessen Spitze direkt über der Altstadt hing. Dort sahen sie Leichenwagen mit Särgen, auf dem Weg zur Beerdigung. Und dort wieder Haufen von unbeerdigten, herumliegenden Toten, und manches andere, wie es die Einbildungskraft den armen, schreckerfüllten Menschen gerade eingab.

So bildet sich der Hypochonder ein

am Himmel Flotten, Schlachten, Heeresreihn;

bis stetes Aug den trüben Dunst durchdringt

und alles so zurück zur Wolke bringt.

Ich könnte diesen Bericht leicht mit all dem seltsamen Zeug füllen, was die Leute tagtäglich von ihren Erscheinungen erzählten; und jeder war so davon überzeugt, daß er wirklich gesehen hätte, was er doch nur sich einbildete, daß man keinem widersprechen konnte, ohne es mit ihm zu verderben oder als ungehobelt und unhöflich sowohl, wie auch als ungläubig und verstockt zu gelten. Vor dem Ausbruch der Pest (aber nachdem sie in St. Giles schon wie erwähnt aufgetreten war), es war wohl im März, sah ich einmal einen Menschenauflauf auf der Straße, und ich gesellte mich ihm zu, um meine Neugier zu stillen; sie starrten alle in die Luft, um auch zu sehen, was eine Frau als deutliche Erscheinung schilderte, nämlich einen weißgekleideten Engel mit einem feurigen Schwert in der Hand, das er über dem Kopf schwang oder kreisen ließ. Sie beschrieb jede Einzelheit der Gestalt so genau, jede seiner Bewegungen, und die Menschen gingen so eifrig und willig mit, daß sie ausriefen: „Ja, nun seh' ich's auch genau!“ - „Da ist das Schwert, ganz deutlich!“ Einer sah den Engel, einer gar sein Gesicht, und er rief, was er doch für eine hehre Gestalt sei. So sah der eine dies, der andre jenes. Ich schaute ebenso aufmerksam wie alle andern, wenn auch nicht so willig, mir etwas vormachen zu lassen; und so sagte ich denn, daß ich nichts sehen könne als eine weiße, auf der einen Seite von der Sonne hell erleuchtete Wolke. Das Weib bemühte sich, auch mir die Erscheinung zu zeigen, doch ich hätte wahrhaftig lügen müssen, hätte ich gesagt, daß ich sie auch sähe. Dann wandte sich die Frau mir zu, schaute mir ins Gesicht und meinte, ich lache, auch dies durch ihre Einbildung vorgespiegelt, denn ich lachte wirklich nicht, dachte vielmehr ernsthaft darüber nach, wie diese armen Menschen durch ihre wuchernde Phantasie sich selbst Angst einjagten. Sie jedoch wandte sich von mir ab und nannte mich einen Spötter und einen Ungläubigen, verkündete mir, daß es die Zeit des göttlichen Zorns sei und schreckliche Strafgerichte auf uns zukämen, und daß solche Gotteslästerer wie ich in ihr Verderben rennen sollten.

Die Menschen um sie herum waren. ebenso über mich erbost wie sie selber; und ich sah, daß sie nicht davon zu überzeugen waren, daß ich mich nicht über sie lustig machte; ja, daß sie mich eher verprügelt hätten, als daß ich sie von ihren Einbildungen hätte befreien können. So ging ich fort, und die Erscheinung wurde für ebenso wirklich gehalten wie der Komet.

Ähnliches erlebte ich noch einmal, und zwar auch am hellichten Tag, und zwar, als ich einmal einen schmalen Durchgang von Petty France zum Friedhof von Bishopsgate passierte, an einer Reihe von Armenhäusern vorbei. Zur Kirche und Gemeinde Bishopsgate gehören zwei Friedhöfe; den einen überquert man, wenn man von dem Platz mit Namen Petty France in die Bishopsgate Street geht, wobei man direkt an der Kirchentür herauskommt. Der andere ist seitlich des schmalen Durchgangs, an dessen linker Seite die Armenhäuser stehen, während sich rechts eine kleine Mauer mit einem Staketenzaun drauf befindet und noch weiter rechts dahinter die Stadtmauer.

In diesem schmalen Durchgang also steht ein Mann und schaut durch den Staketenzaun auf den Friedhof, und um ihn herum so viele Menschen, wie die Enge des Durchgangs Platz läßt, ohne daß andre am Vorbeigehen gehindert werden, und er redete voll Eifer auf sie ein und zeigte mal hierhin, mal dorthin und versicherte ihnen, daß er auf einer der Grabplatten einen Geist habe wandeln sehen. Er beschrieb dessen Gestalt, Haltung und Bewegung ganz genau, und war von der größten Verwunderung darüber ergriffen, daß die anderen das Gespenst nicht auch gesehen hatten, wie er. Dann rief er plötzlich wieder aus: „Da ist es, es kommt hierher!“, dann: „Nun wendet sich's ab!“, und schließlich waren die Menschen selber so fest davon überzeugt, daß erst der eine, dann der andere sich einbildete, selbst das Gespenst zu sehen. Und so kam der Mann jeden Tag und bewirkte in der doch so engen Passage einen großen Auflauf, bis die Uhr der Bishopsgate Kirche elf schlug, und dann schien der Geist sich wegzubewegen und mit einem Schlag zu verschwinden, als ob ihn jemand riefe.

Ich schaute immerfort aufmerksam in die Richtung, wohin der Mann deutete, konnte aber auch nicht das geringste von einer Erscheinung entdecken; aber der Mann wirkte so überzeugend, daß die Menschen eine tiefe Bedrückung überkam und sie zitternd und furchterfüllt davongingen; schließlich wagten nur noch wenige, die davon wußten, durch diesen Gang zu gehen, und bei Nacht mied man ihn auf jeden Fall.

Dieser Geist, behauptete der Mann, deutete auf die Häuser, auf die Erde und auf die Leute, um eindeutig damit anzuzeigen, mindestens legte man es so aus, daß eine Unzahl Menschen auf dem Friedhof begraben werden würde, wie es dann wahrhaftig auch geschah. Trotzdem, muß ich gestehen, glaube ich nicht, daß der Mann eine solche Erscheinung hatte, ich hatte ja auch nichts sehen können, obwohl ich doch angestrengt hingeschaut hatte, um sie wenn möglich zu erkennen.

An solchen Ereignissen kann man sehen, wie die Menschen allen möglichen Täuschungen erlagen; und da sie von dem Herannahen der Heimsuchung wußten, zielten all ihre Voraussagen auf eine fürchterliche Pestepidemie, welche die Stadt, ja das ganze Land verwüsten und alles, Menschen und Tiere, vernichten würde.

Zu all dem kamen, wie von mir schon erwähnt, die Astronomen, mit ihren Geschichten von bösartigen und Unheil ausstrahlenden Planetenkonjunktionen, von denen die eine im Oktober stattfinden sollte, was auch geschah, und die andere im November; und sie redeten den Leuten die Köpfe voll über die Bedeutung dieser himmlischen Anzeichen, daß diese Konjunktionen Dürre, Hunger und Pestilenz verkündeten. Was jedoch die beiden ersten Vorhersagen betrifft, so waren sie völlig falsch, denn das Jahr wurde nicht trocken, wir hatten am Anfang einen scharfen Frost, der von Dezember bis fast in den März hinein dauerte, dann angenehmes Wetter, nicht zu heiß, mit frischem Wind, im ganzen, kurz gesagt, durchweg günstiges Wetter, sogar mit einigen großen Regenperioden dazwischen.

Man ergriff zwar einige Maßnahmen, den Druck solcher Bücher, die den Menschen Furcht einjagten, zu unterbinden, und die Händler, von denen einige verhaftet wurden, von deren Verbreitung abzuschrecken; aber soweit ich weiß, geschah nichts weiter, da die Regierung die Bevölkerung, die sowieso schon völlig durcheinander war, nicht noch mehr aufbringen wollte.

Auch kann ich jene Pfarrer nicht von Schuld freisprechen, die in ihren Predigten die Herzen der Zuhörer mehr ent- als ermutigten. Zwar taten dies zweifellos viele, um den Willen der Menschen zu stärken, und vor allem sie zur Buße zu führen; aber sie erreichten sicher nicht, was sie wollten, mindestens nicht in dem Maß, um den auf der anderen Seite dadurch eintretenden Schaden aufzuwiegen. Und wie Gott doch durch die ganze Heilige Schrift die Menschen mehr lockt, indem Er sie einlädt, zu Ihm zu kommen und das Leben zu haben, sie aber nicht durch Furcht und Schrecken zu Sich zwingt, so hätten es auch die Pfarrer tun sollen, um offen meine Meinung zu sagen; sie hätten unseren gnädigen Herrn und Meister darin zum Vorbild nehmen sollen, dessen Evangelium voll ist von der himmlischen Botschaft von Gottes Gnade und Seiner Bereitschaft, den Sünder anzunehmen und ihm zu vergeben, wie Er sagt: „Wer nicht zu mir kommt, wird nicht das Leben haben“, und deshalb ist Sein Evangelium ja die Botschaft des Friedens und der Gnade.

Aber es gab einige angesehene Männer, und zwar aller Glaubensrichtungen und Anschauungen, deren Predigten verkündeten nur Schrecken und hatten nur Fürchterliches zum Inhalt; und wie sie die Menschen voll Angst um sich versammelten, verkündeten sie ihnen nichts als schlimme Zeiten, entließen sie diese in Tränen, denn sie verkündeten ihnen nichts als Böses, erschreckten die Leute mit dem Bild ihrer völligen Vernichtung, und leiteten sie nicht, mindestens nicht genügend, dazu an, den Himmel um Gnade anzuflehen.

Es herrschten damals bei uns recht schlimme Entzweiungen auf dem religiösen Gebiet. Unzählige Sekten und Richtungen und unterschiedliche Glaubensmeinungen lebten unter dem Volk. Zwar war die Anglikanische Kirche mit der Wiedereinrichtung der Monarchie vier Jahre zuvor wiederhergestellt worden, aber die Pfarrer und Prediger der Presbyterianer und Unabhängigen und aller anderen Bekenntnisse hatten begonnen, ihre eigenen Gemeinden zu sammeln und Altar gegen Altar zu errichten, und jede Sekte hatte wie heute noch ihren eigenen Gottesdienst, aber es bestanden noch nicht so viele davon, da die Dissenter damals ihre Gemeinden noch nicht so straff zusammengefaßt hatten, wie es inzwischen geschehen ist, so daß es damals erst wenige dieser Gemeinden gab. Und selbst die schon bestehenden waren von der Regierung verboten, die sie zu unterdrücken und ihre Versammlungen zu schließen suchte.

Diese Heimsuchung aber versöhnte sie wieder, zumindest eine Zeitlang, und vielen der besten und würdigsten Pfarrer und Prediger der Dissenter wurde erlaubt, in den Kirchen zu predigen, deren Geistliche geflohen waren, da sie das Elend nicht ertragen konnten; und die Leute strömten ohne Unterschied ihnen zu, um sie predigen zu hören, ohne sich zu fragen, wer sie waren oder welchem Bekenntnis sie anhingen. Aber nachdem die Seuche vorbei war, schwand dieser Geist der Nächstenliebe wieder dahin; und da jede Kirche wieder ihre eigenen Pfarrer hatte und man neue eingesetzt hatte, wo die alten gestorben waren; kehrte alles bald wieder ins alte Fahrwasser zurück.

Ein Unglück kommt selten allein. Diese Ängste und Befürchtungen veranlaßten die Leute zu tausend törichten, albernen und üblen Handlungen, wobei denn jene Sorte wirklich übler Menschen nicht fehlte, die sie dazu noch ermunterten; und so liefen sie zu Wahrsagern, Hellsehern und Sterndeutern, um ihre-Zukunft zu erfahren, oder, wie-es das Volk nannte, sich wahrsagen zu lassen, sich das Horoskop stellen zu lassen usw.; und durch diese Torheiten war die Stadt bald überschwemmt von einer Schar von Betrügern, die behaupteten, mit der Magie, der „Schwarzen Kunst“, wie sie es nannten, und ich weiß nicht womit noch, vertraut zu sein; ja, tausendmal vertrauteren Umgang mit dem Teufel zu pflegen, als sie in Wirklichkeit schuldig waren. Und dieses Gewerbe drängte allgemein ans Tageslicht, daß man bald überall an den Türen angeschlagen lesen konnte: „Wahrsager-Praxis“, „Astrologie“, „Hier werden Horoskope gestellt“ usw.. Und die Messingplakette mit dem Kopf des Franziskaners Bacon, die gewöhnlich die Wohnung solcher Leute anzeigte, konnte man fast in jeder Straße sehen, oder auch das Zeichen der Mutter Shipton, des Zauberers Merlin Kopf und ähnliches.

Ich weiß zwar wahrhaftig nicht, mit was für dummem, unsinnigem und lächerlichem Zeug diese Teufelsorakel die Menschen beruhigten und zufriedenstellten, aber soviel ist sicher, daß sich jeden Tag unzählige Besucher vor ihren Türen drängten. Und wenn man nur einen würdig dreinschauenden Menschen in Samtjacke, Bäffchen und schwarzem Umhang, in welcher Kleidung solche angeblichen Zauberer herumzulaufen pflegten, auf den Straßen sah, folgten ihm die Leute immer in Scharen und stellten ihm ihre Fragen.

Ich brauche nicht zu erwähnen, was das für eine fürchterliche Selbsttäuschung war, oder wohin das führte; aber es gab kein Heilmittel dagegen, bis die Pest selbst all dem ein Ende setzte und, so vermute ich, die Stadt von den meisten jener Wahrsager mit eigner Hand befreite. Eine ihrer unheilvollen Tätigkeiten war, daß diese angeblichen Astrologen, wenn sie von den Leuten gefragt wurden, ob die Pest kommen werde, durchwegs mit „ja“ antworteten, denn das hielt ihr Gewerbe am Blühen. Denn wären die Menschen nicht in dauernder Furcht vor ihr gehalten worden, so wären die Zauberer überflüssig geworden, und ihre Tätigkeit wäre zu Ende gewesen. Aber sie erzählten ihnen dauernd von diesen und jenen Einflüssen der Sterne, von den Konjunktionen dieser und jener Planeten, die notwendigerweise Krankheiten und Seuchen bewirken, also die Pest. Und einige hatten sogar die Stirn, ihnen zu erzählen, daß die Pest schon ausgebrochen sei, was zwar nur zu richtig war, obgleich diejenigen, die solches behaupteten, es gar nicht wußten.

Die Pfarrer und meisten Prediger, um ihnen Gerechtigkeit angedeihen zu lassen, soweit sie ernsthafte und vernünftige Persönlichkeiten waren, wetterten gegen diese und ähnliche verderbliche Praktiken und deckten deren Torheit und Verderblichkeit gleichermaßen auf, und wirklich nüchterne und urteilsfähige Leute verachteten und verabscheuten sie. Aber es war unmöglich, die gewöhnlichen Bürger und die armen, schwer sich abmühenden Arbeitsleute zu beeinflussen; ihre Furcht übermannte jedes andere Gefühl, und sie warfen ihr Geld verrückterweise für solchen Unsinn aus. Vor allem Dienstmädchen und Diener waren ihre hauptsächlichsten Kunden, und ihre Fragen lauteten gewöhnlich, nachdem sie zu wissen verlangt hatten, ob die Pest komme, sie lautete also gewöhnlich: „O, mein Herr, was wird aus mir, um Gottes willen? Wird mich meine Herrin behalten, oder wird sie mich entlassen? Wird sie hierbleiben oder aufs Land ziehen? Und wenn sie aufs Land zieht, wird sie mich dann mitnehmen oder wird sie mich hierlassen, wo ich dann hungern und umkommen muß?“ Ebenso war es bei den Dienern.

Die Lage der armen Bediensteten war wirklich übel, wie ich nach und nach noch Gelegenheit haben werde zu berichten, denn es war klar, daß eine sehr große Anzahl von ihnen entlassen würde, wie es dann auch geschah. Und eine außerordentliche Anzahl von ihnen ging zugrunde, vor allem die, welche jene falschen Propheten mit der Hoffnung betrogen hatten, daß sie in Diensten bleiben und mit ihren Herrschaften aufs Land genommen würden; und hätte nicht die öffentliche Wohlfahrt diese armen Geschöpfe versorgt, die so außerordentlich zahlreich waren, wie es in solchen Fällen notwendigerweise immer sein muß, so wäre ihre Lage die schlimmste in der ganzen Stadt gewesen.

Das alles beschäftigte die Gemüter der einfachen Menschen viele Monate lang, während die ersten Vorahnungen über ihnen schwebten, und während die Pest, wie man sagen kann, noch nicht ausgebrochen war. Aber ich möchte nicht hinzuzufügen vergessen, daß sich der ernsthaftere Teil der Bevölkerung anders verhielt. Die Regierung rief sie zum Gebet auf und setzte öffentliche Gebetsstunden, Fastenzeiten und Tage der Buße an, an denen sie öffentlich ihre Sünden bekennen und die Gnade Gottes anrufen sollten, um das fürchterliche Gottesgericht abzuwenden, das über ihren Häuptern hing; und man kann gar nicht sagen, mit welchem Eifer die Menschen aller Glaubensrichtungen die Gelegenheit wahrnahmen; wie sie in die Kirchen und Versammlungen strömten, und oft war ein solches Gedränge, daß man gar nicht hineinkommen konnte, ja nicht einmal bis an die Türen selbst der größten Kirchen. Auch waren in einigen Kirchen tägliche Morgen- und Abendgebete angesetzt, und an andern Orten Tage des stillen Gebetes. An allem nahmen die Menschen, muß ich sagen, mit ungewöhnlicher Frömmigkeit teil. Manche Familien, ganz gleich welchen Bekenntnisses, hielten auch für sich Fastenzeiten ab, an denen nur die nächsten Verwandten teilnehmen durften. So daß, mit einem Wort, die Menschen, welche wirklich ernsten und frommen Gemütes waren, auf echt christliche Weise sich der Reue und Buße hingaben, wie es Christenmenschen tun sollten.

So zeigte die Bevölkerung aber, daß sie das ihre zu tun gewillt war. Selbst der Hof, der sonst so leichtlebig und verschwenderisch war, gab sich den Anschein, an der die Öffentlichkeit bedrohenden Gefahr schicklichen Anteil zu nehmen. All die Schauspiele und Komödien, die nach der Art des französischen Hofs bei uns eingeführt worden waren und sich auszubreiten begannen, wurden verboten; die Spielbanken, öffentlichen Tanz- und Musikhallen, deren Anzahl sich vervielfältigt hatte und die guten Sitten zu verderben begannen, wurden geschlossen und verboten; und die Hanswurste, Spaßmacher, Marionettentheater und Seiltänzer und ähnliche Vergnügungsstätten, welche die armen Leute verführt hatten, schlossen ihre Häuser, da sich einfach keine Zuschauer mehr fanden; denn die Menschen waren mit anderen Gedanken beschäftigt, und eine Art Überdruß, ja Abscheu vor diesen Dingen war auf den Gesichtern selbst der einfachen Leute zu bemerken. Der Tod stand ihnen vor Augen, und jeder dachte schon an sein Grab, nicht an Vergnügungen und Zerstreuungen.

Aber selbst ein solch heilsames In-sich-gehen, welches, hätte man es richtig genützt, die Menschen zu ihrem Heil dahin gebracht hätte, auf die Knie zu fallen, ihre Sünden zu bekennen und zu ihrem gnädigen Erlöser um Vergebung aufzuschauen, und Sein Mitleid in dieser Zeit des Elends zu erflehen, wodurch unsere.Stadt ein zweites Ninive geworden wäre - es bewirkte in den einfachen Menschen, daß sie ins andre Extrem fielen, da sie - dumm und unwissend in ihrem Nachdenken, wie zuvor tierisch schlecht und gedankenlos - nun von ihrer Furcht zu Handlungen äußerster Torheit hingerissen wurden; und wie sie, was ich schon erwähnte, zu Zauberern und Hexen und allen Arten von Betrügern rannten, um von diesen zu erfahren, was aus ihnen würde (und diese nährten ihre Furcht und hielten sie in dauernder Aufregung und Unruhe, um sie um so leichter zu betrügen und ihnen die Taschen zu leeren), so liefen sie wie verrückt zu Quacksalbern und Kurpfuschern und jedem alten Kräuterweib, um sich Medizin und Heilmittel zu kaufen, und stopften sich derart voll mit Pillen, Tränklein und angeblichen Vorbeugungsmitteln, daß sie nicht nur ihr Geld verloren, sondern sich gar schon vorher vergifteten aus Angst vor dem Gift, der Ansteckung, und der Pest den Boden bereiteten, statt sich vor ihr zu schützen. Auch waren in einer unglaublichen und kaum vorstellbaren Weise Hauspfosten und Straßenecken bepflastert mit Anzeigen von Ärzten wie mit Anpreisungen von Quacksalbern, welche doch nur ohne Sachkenntnis irgendetwas zusammenbrauten und herumpfuschten und die Menschen dazu bringen wollten, ihre Heilmittel zu kaufen, was sie meist mit großspurigen Anpreisungen versuchten, wie z. B. „Unbedingt sichere Vorbeugungspillen gegen die Pest!“ „Garantiert zuverlässiger Schutz gegen Ansteckung!“ „Wirksamstes Stärkungsmittel gegen die Verseuchung der Luft!“ „Genaue Anweisungen, wie man sich im Fall einer Ansteckung verhalten soll!“ „Anti-Pest-Pillen!“ „Einmaliges Getränk gegen die Pest, nie zuvor dagewesen!“ „Universalheilmittel gegen die Pest.“ „Das einzige echte Pestwasser!“ „Die königliche Medizin gegen alle Arten von Ansteckungen!“, und viele weiter, die ich nicht alle aufzählen kann; könnte ich's, würde es allein ein Buch füllen, sie alle wiederzugeben.

Andere schlugen Plakate an, welche die Leute zu sich in ihre Wohnungen einluden, um sich dort im Falle einer Ansteckung Anleitung und Rat zu holen. Sie schrieben sich seltsame Qualifikationen zu, wie z. B.

„Hervorragender hochniederländischer Arzt, kürzlich aus Holland gekommen, wo er während der ganzen Zeit der vorjährigen Pest in Amsterdam gelebt. und eine Vielzahl von Menschen kuriert hat, die nachgewiesenerrnaßen die Pest hatten.“

„Italienische Adelige, eben aus Neapel angekommen; mit einem vorzüglichen Geheimmittel zur Vermeidung der Ansteckung, welches sie durch ihre große Erfahrung entdeckte und damit wunderbare Heilungen während der dortigen letzten Pest vollbrachte, bei der an einem Tag 20.000 Menschen starben.“

„Alte Dame, die hier während der letzten Pest, Anno 1636, mit großem Erfolg praktizierte; gibt ihren Rat nur an Personen weiblichen Geschlechts. Sie ist zu sprechen,“ usw.

„Erfahrener Arzt, der seit langem die Lehre von den Gegenmitteln gegen alle Arten Gift und Ansteckungen studiert hat, hat sich nach vierzigjähriger Praxis ein solches Können angeeignet, daß er, mit dem Segen Gottes, den Leuten Rat geben kann, wie sie jeden Anflug aller beliebigen ansteckenden Krankheiten vermeiden können. Arme werden von ihm gratis beraten.“

Ich habe hier nur die verschiedenen Arten ausgewählt. Ich könnte leicht zwei oder drei Dutzend ähnlicher Texte wiedergeben und hätte dabei immer noch eine Unzahl nicht berücksichtigt. Man kann aber aus diesen schon genügend von der Geistesart jener Zeit erfassen und sehen, wie ein Haufen von Dieben und Lumpen nicht nur den armen Leuten ihr Geld wegnahm und sie darum betrog, sondern sie auch noch mit zweifelhaften und schädlichen Mitteln vergiftete, die einen mit Quecksilber, die andern mit anderem, ebenso schlechtem Zeug, das mit dem zu erreichenden Zweck absolut nichts zu tun hatte und dem Körper eher schadete als nützte, wenn eine Ansteckung eintrat.

Ich kann mir nicht versagen, den besonders schlau ausgedachten Trick eines dieser Quacksalber mitzuteilen, mit dem er die Armen dazu verlockte, in Haufen zu ihm zu kommen, und dann doch nichts ohne Bezahlung für sie tat. Es scheint, daß er den Werbezetteln, die er auf den Straßen verbreitet hatte, in großen Buchstaben hinzugefügt hatte: „Arme werden von ihm umsonst beraten!“

Infolgedessen kam eine Unzahl armer Leute zu ihm, denen er viele schöne Reden hielt, sie auf ihren Gesundheitszustand und ihre körperliche Verfassung untersuchte und ihnen viele gute Ratschläge gab, was sie machen sollten, was aber alles ziemlich wertlos war. Das Ende vom Lied aber war, daß er ein Vorbeugungsmittel hätte, das, nähmen sie es jeden Morgen in der und der Menge, so wettete er sein Leben dafür, sie vor der Pest völlig bewahren würde; selbst dann, wenn sie mit Pestkranken in einem Haus wohnten. Natürlich waren dann alle entschlossen, sich das Mittel zu besorgen; aber dann kostete es sehr viel, ich glaube, eine halbe Krone. „Bitte, mein Herr“, sagt da eine arme Frau, „ich bin eine mittellose Armenhäuslerin und werde von der Gemeinde erhalten, und auf euren Zetteln steht doch, daß ihr den Armen umsonst helft.“ „O, liebe Frau“, antwortete da der Arzt, „ich tue genau, was ich angekündigt habe. Ich gebe den Armen doch meinen Rat ganz umsonst, wenn auch nicht meine Medizin.“ „So ist das also“, sagt sie darauf, „da habt ihr also den Armen eine Schlinge gelegt; ihr gebt den Armen euren Rat umsonst; und ihr ratet ihnen ganz gratis, für ihr Geld eure Medizin zu kaufen; das macht jeder Geschäftsmann mit seiner Ware.“ Darauf begann die Frau, ihn zu beschimpfen, und stand jenen ganzen Tag vor seiner Tür und erzählte das allen, die kamen, bis der Doktor, der sah, daß sie seine Kunden verscheuchte, nicht anders konnte, als sie wieder heraufbitten und ihr eine Schachtel Medizin umsonst geben, und daß sie diese hatte, war wohl auch umsonst.

Aber zurück zu den Leuten, die sich in ihrer Verwirrung von jedem Betrüger und Marktschreier hereinlegen ließen. Es gibt keinen Zweifel, daß diese Quacksalber eine Menge Geld an der Not der Menschen verdienten, denn man konnte jeden Tag erleben, wie sehr viel mehr zu ihnen liefen und die Leute sich viel zahlreicher vor ihren Türen drängten, als sie zu Dr. Brooks, Dr. Upton, Dr. Hodges, Dr. Berwick und andern kamen, obwohl diese doch damals die berühmtesten Ärzte waren. Und ich ließ mir sagen, daß einige von ihnen fünf Pfund pro Tag an ihrer Medizin verdienten.

Ein anderer Wahnsinn ging aber noch über dies hinaus, und seine Darstellung mag einen Begriff von der völligen Verwirrung der ärmeren Bevölkerung damals geben; es war dies, daß sie auf eine noch schlimmere Art von Betrügern hereinfielen als jenen schon erwähnten. Denn diese kleinen Diebe machten den Leuten nur etwas vor, um ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen, und dadurch versündigten sich auf die eine oder andere Weise, dadurch daß sie betrogen, nur die Betrüger und nicht die Betrogenen. Aber beim Folgenden versündigten sich vor allem die Betrogenen, zumindest aber diese ebenso wie die Betrüger, nämlich dadurch, daß sie Zaubersprüche, Zaubertränke, Beschwörungen und Amulette und wer weiß was noch verwendeten, um sich dadurch gegen die Pest fest zu machen; als wäre die Pest nicht ein Werkzeug Gottes, sondern eine Art Besessensein von einem bösen Geist, das man mit Bekreuzigen, Tierkreiszeichen, in so und so viele Knoten gebundene Papierstreifen, auf denen gewisse Worte und Zeichen stehen mußten, verhindern konnte, wobei das Wort Abracadabra, in folgender Weise als Dreieck oder Pyramide geschrieben, besonders bevorzugt wurde ...

Eine Sache kann ich hier nicht übergehen, die ich wahrhaftig für außergewöhnlich hielt und jedenfalls deutlich als die Hand der Göttlichen Gerechtigkeit erschien, nämlich, daß all die Astrologen; Wahrsager, Zauberer und die sogenannten weisen Männer usw.; all die Horoskopsteller, Traumdeuter und ähnliches Volk, weg und verschwunden waren; nicht einen konnte man mehr finden. Ich bin durchaus davon überzeugt, daß eine große Anzahl von ihnen in den Tagen der größten Not umgekommen ist, denn sie hatten wegen der Aussicht auf große Vermögen zu bleiben gewagt; und ihre Einnahmen waren auch wirklich eine gewisse Zeit durch die Verrücktheit und Torheit der Menschen außerordentlich hoch. Jetzt aber schwiegen sie; viele von ihnen gingen zur langen Ruhe ein, sie hatten nicht ihr eignes Schicksal voraussagen und ihr eignes Horoskop stellen können. Einige behaupten gar zu wissen, daß alle starben. Das wage ich nicht zu bestätigen; aber ich muß zugeben, daß ich niemals hörte, daß auch nur einer von ihnen wieder auftauchte, als die Pest vorüber war …

Was Quacksalber und Scharlatane betrifft, von denen die Stadt nur so wimmelte, so hörte ich auf keinen von ihnen, und es ist mir seitdem, mit leichter Verwunderung, immer wieder aufgefallen, daß ich in den zwei auf die Pest folgenden Jähren kaum einen von ihnen in der Stadt sah oder von einem hörte. Manche meinten, sie seien alle bis auf den letzten Mann während der Pest hinweggerafft worden, und meinten es als ein besonderes Zeichen der göttlichen Rache gegen sie betrachten zu müssen, dafür, daß sie die armen Menschen in den Abgrund der Vernichtung geführt hätten,.nur um des bißchen Geldes willen, das sie von ihnen errafften; so weit kann ich selber aber nicht gehen. Sicher ist, daß eine Unzahl von ihnen starb; von vielen gelangte es zu meiner eignen Kenntnis; daß aber alle von ihnen hinweggerafft wurden, stelle ich sehr in Frage. Ich glaube eher, daß sie aufs Land hinausflohen und ihre Praktiken an den Leuten dort versuchten, die in Angst vor der Seuche lebten, bevor sie noch zu ihnen kam.

Das eine jedoch ist sicher, daß eine lange Zeit sich nicht-ein einziger von ihnen in London oder dessen Umgebung sehen ließ. Es gab freilich verschiedene Ärzte, welche auf Anschlägen ihre verschiedenen Heilmittel empfahlen, mit denen man nach dem Ende der Pest den Körper entschlacken sollte, wie sie es nennen, was, wie sie sagten, solchen Leuten vonnöten sei, die heimgesucht und wiederhergestellt worden waren; wohingegen ich, wie ich gestehen muß, glaube, daß es damals die Ansicht der hervorragendsten Ärzte war, daß die Pest selbst eine ausreichende. Reinigung bewirkte und daß diejenigen, welche die-Seuche überstanden, keine Arzneien benötigten, um den Körper von irgend sonstwas zu entschlacken, da die eiternden Wunden, Beulen usw., welche auf Anweisung der Ärzte geöffnet und am Eitern gehalten worden waren, diesen genügend entschlackt hätten; und daß alle andern Krankheiten und Krankheitsursachen auf diese Weise gründlich entfernt worden seien; und da dies die Ärzte allerorts als ihre Ansicht äußerten, konnten die Quacksalber kaum Geschäfte machen.

Es gab freilich nach dem Abklingen der Pest noch mancherlei kleine Beunruhigungen, von welchen ich nicht weiß, ob sie, wie manche glaubten, erzeugt wurden, um die Menschen zu erschrecken und durcheinander zu bringen, jedenfalls erzählte man uns verschiedentlich, daß die Pest dann und dann zurückkehren werde; und der berühmte Solomon Eagle, der von mir schon erwähnte nackt herumlaufende Quäker, prophezeite Tag für Tag neue Übel; und andre erzählten uns, daß London noch nicht genügend gezüchtigt sei und uns noch schlimmere und ernstere Schläge bevorständen. Hätten sie hier innegehalten oder Einzelheiten angegeben und uns gesagt, daß die Stadt im nächsten Jahr durch Feuer vernichtet würde, dann, als wir es wirklich geschehen sahen, hätte man uns nicht vorwerfen können, wir zollten ihrem prophetischen Geist nicht eine mehr als gewöhnliche Achtung; zumindest hätten wir über sie gestaunt und ernsthafter nach den Hintergründen, und woher sie ihr Vorwissen hatten, gefragt. Aber da sie uns im allgemeinen nur von einem Rückfall in die Pest sprachen, kümmern wir uns seitdem nicht mehr um sie; doch wurden wir durch dieses immer wiederkehrende Geschrei in einer Art ständiger Sorge gehalten; und wenn jemand plötzlich starb oder sich zu irgendeiner Zeit die Fleckfieberfälle mehrten, gerieten wir sofort in Aufregung; noch mehr aber, wenn sich die Zahl der Pestfälle erhöhte, denn bis zum Ende des Jahres gab es dauernd zwei- bis dreihundert Pesttote. Bei jedem dieser Vorfälle also gerieten wir von neuem in Aufregung.“

 

Wenn es in Zeiten der Not mal ein kurzes Inne Halten gibt, das Bedürfnis, füreinander da zu sein und zusammenzuhalten, so ist das nach dem Ende der Not schnell wieder vorbei:

„Wie gern würde ich sagen, daß, wie die Stadt ein neues Gesicht zeigte, auch das Verhalten der Menschen. eine Erneuerung zeigte. Ich zweifle nicht daran, daß es viele gab, die sich ihrer Rettung voll bewußt blieben und der mächtigen Hand, die sie in so gefährlicher Zeit bewahrt hatte, von Herzen dankbar; es wäre sehr ungerecht, von einer so volkreichen Stadt, in der die Menschen solche Frömmigkeit zeigten, wie es doch wirklich während der Zeit der Heimsuchung der Fall war, andres anzunehmen; aber es kann nicht verschwiegen werden, daß - abgesehen von der Frömmigkeit, die man in einzelnen Familien erlebte und auf einzelnen Gesichtern sah - die Menschen sich im allgemeinen ebenso verhielten wie vorher und kaum eine Änderung festzustellen war.

Manche sagten sogar, es sei noch schlimmer geworden; daß der sittliche Verfall der Menschen genau in jener Zeit einsetzte; daß sie, abgestumpft durch die Gefahr, in der sie sich befunden hatten, wie Seeleute nach überstandenem Sturm, in ihrer Lasterhaftigkeit und Sittenlosigkeit noch verdorbener und stumpfsinniger, noch unverschämter und abgebrühter geworden seien; so weit möchte ich freilich nicht gehen. Man würde eine recht lange Geschichte erzählen müssen, wenn man im einzelnen die ganze Entwicklung darstellen wollte, bis alles in der Stadt wieder seinen alten Gang ging und wieder alles im gewohnten Fahrwasser lief …

Großer Unmut entlud sich gegen die Ärzte, die während der Seuche ihre Patienten im Stich ließen, und als sie nun wieder in die Stadt zurückkehrten, wollte niemand ihre Dienste in Anspruch nehmen. Man nannte sie Deserteure, und oft waren Plakate an ihre Türen geschlagen mit der Aufschrift „Doktor zu vergeben“, so daß verschiedene dieser Ärzte es vorzogen, eine Zeitlang untätig herumzusitzen und abzuwarten oder zumindest zu verziehen und ihren Wohnsitz anderswo und in neuer Umgebung aufzuschlagen. Gleicherweise geschah es den Geistlichen, die von der Bevölkerung geschmäht wurden, indem man Verse und beleidigende Äußerungen auf sie schrieb und an die Kirchentüren Zettel „Kanzel zu vergeben“ oder auch „zu verkaufen“, was noch schlimmer war, heftete.

Es war für uns nicht das kleinste Unheil, daß mit der Seuche, als diese verschwand, nicht auch der Geist des Haders und Zankes, der Verleumdungen und Vorwürfe verschwand, der zuvor der wirkliche Unruhestifter im Lande gewesen war.“

 

Libertalia

 

Michael Schmitt: „Piraten – es gibt sie als Partei, es gibt sie in Hollywood und es gab sie vor rund 300 Jahren auch wirklich. Als ihr Zuhause galt die Piratenrepublik Libertalia auf Madagaskar: eine basisdemokratische Gesellschaft ohne Sklaverei, Unterdrückung und Rassismus. Aufgeschrieben hat Libertalias Geschichte der Erfinder von „Robinson Crusoe“: Daniel Defoe – doch ganz sicher ist das nicht …

... aber Genaueres über so illustre Piraten und Piratinnen wie Captain Teach alias Schwarz-Bart, Captain Avery oder Mary Read und Anne Bonny erfährt ein Leser aus der „Allgemeinen Geschichte der Räubereien und Mordtaten der berüchtigten Piraten“, die erstmals 1724 unter dem Namen eines Captain Charles Johnson veröffentlicht wird. Lange Zeit wird sie dem englischen Journalisten und Schriftsteller Daniel Defoe zugeschrieben – wegen der Parallelen zu seinen anderen journalistischen Arbeiten und wegen der Sachkenntnis, über die er als weit gereister Kaufmann und als Verfasser der Geschichte von Robinson Crusoe besessen hat. Bis heute ist die Autorschaft dieser „Allgemeinen Geschichte“ nicht definitiv geklärt – es sind sogar noch weitere mögliche Verfasser neben Defoe und Johnson ins Gespräch gebracht worden. Sicher ist, dass das Buch Erfolg hat, weil es die Sensationsgier der Leser bedient. Es wird in rascher Folge mehrmals aufgelegt und 1728 durch einen zweiten Band ergänzt, der sich vor allem der legendären Piratenrepublik „Libertalia“ auf der Insel Madagaskar widmet – und damit dem brisantesten Aspekt des Piraten-Mythos: „Libertalia“ steht für den Versuch, eine basisdemokratische Gesellschaft zu begründen, in der es eine Art Sozialversicherung geben soll, aber keine Sklaverei, keine Unterdrückung von Frauen durch Männer und keinen Rassismus. Knapp hundert Jahre vor der Französischen Revolution und der Erklärung der Menschenrechte; mehr als zweihundert Jahre, ehe weltweit nach und nach das Wahlrecht für Frauen denkbar wird und durchgesetzt werden kann.

Diesen ergänzenden Teil der Geschichte der Piraten hat Helge Meves nun zum ersten Mal in einer deutschen Übersetzung von David Meienreis und Arne Braun vorgelegt und um einen ausführlichen Materialteil ergänzt. So wie schon frühere Auswahlausgaben der „Allgemeinen Geschichte der Piraten“, benutzt Mewes ebenfalls weiterhin den Namen von Defoe als Verfasser, macht das aber als Provisorium deutlich. Er erläutert die Diskussion um die Urheberschaft, zitiert weitere Quellen herbei und ergänzt die Berichte durch drei beispielhafte zeitgenössische Satzungen, die sich Piratenkapitäne und ihre Mannschaften seinerzeit gegeben haben. Der historische Bericht über die Republik „Libertalia“, deren Existenz nicht sicher belegt ist, macht daher nur den kleineren Teil dieser Buchausgabe aus. Er handelt von den beiden Kapitänen Misson und Tews sowie von dem ehemaligen Dominikaner Caraciola, der vom Religionskritiker zum Philosophen der Freiheit wird und sich dabei auf Gedanken stützt, die im 17. Jahrhundert vor allem von Baruch de Spinoza veröffentlicht werden. Es ist eine chronologische Abhandlung von Ereignissen, die nach einschlägigen Beutezügen auf Madagaskar enden, wo die Piraten sich an einem geschützten Ort eine Festung und einen Hafen einrichten, den sie gegen die Kriegsschiffe der Portugiesen verteidigen können. Wo sie sich zudem mit verfeindeten eingeborenen Herrschern ins Benehmen setzen wollen – schließlich aber einem Großangriff dieser Einheimischen zum Opfer fallen. Was davon auf Fakten beruht, bleibt offen – nur Kapitän Tews ist tatsächlich als historische Figur belegt. Die beiden anderen sind vermutlich „gut erfunden“.

Aber darauf kommt es nicht an, wie man aus dem umfangreicheren zweiten Teil des Buches erfährt, der Kommentare und Anmerkungen versammelt, die einerseits den Forschungsstand zur Geschichte der Piraten referieren, und andererseits – weiter ausgreifend – den geistesgeschichtlichen Ort der Satzungen der Piraten ausloten, über die man nur wenig weiß und das meist nur aus unzuverlässigen Quellen. „Libertalia“ ist eine Legende, aber eine mit großer Ausstrahlung. Zahlreiche Romane spielen darauf an, der Staatsrechtler Carl Schmitt diskutiert Anfang der 40er-Jahre am Beispiel dieser Piraten Fragen des Völkerrechts auf dem offenen Meer; der marxistische Historiker Eric Hobsbawm reiht sie 1959 in seinem Buch über Banditen unter die Sozialrebellen ein …"

https://www.deutschlandfunk.de/defoes-libertalia-die-republik-der-piraten.700.de.html?dram:article_id=324929

Michael Berg: „Libertalia ist eine (mit hoher Wahrscheinlichkeit fiktive) Geschichte von Daniel Defoe, welcher unter anderem für sein Kultwerk „Robinson Crusoe“ bekannt ist. Doch aus seiner Erzählung über diese Piratenrepublik wurde mehr als nur eine Geschichte, es wurde eine Legende, ein Traum von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, so schön, dass man sich wünschen möchte, dass sie wahr sei. Hierbei geht es um den Piraten Misson, welcher aufs Meer zog, um seinen Traum von Freiheit zu erfüllen. Im Gegensatz zu anderen Piraten nahm er keine Gefangenen, sondern bot den besiegten Seemännern an, entweder seiner Crew beizutreten oder aber mit zu kommen, um am nächsten Hafen abgesetzt zu werden. Er tötete nur wenn er musste und verweigerte und bekämpfte jede Art von Sklaverei. Sein Ziel war es irgendwo einen Ort zu finden, an dem er sich zur Ruhe setzen konnte und einen friedlichen Staat gründen könnte, indem es keine Untertanen gab und alle Menschen in Freiheit lebten. Es war eine Utopie und dennoch fand er viele Gleichgesinnte und so wurde aus seinem Traum die Wirklichkeit. Irgendwo in Madagaskar fand er seinen Ort und gründete Libertalia, eine Piratenrepublik, welche nach seinen Grundsätzen erschaffen wurde. Doch es lauerten Gefahren, sowohl von Innen (denn nicht allen Menschen bekommt die Freiheit), als auch von Außen. Letztendlich ging die Republik unter ohne Hinweise auf ihre Existenz zu überlassen. Einzig Daniel Defoe berichtet von ihrer Existenz und zaubert ein Werk, welches die Herzen der Menschen (oder zumindest Piraten) höher schlagen lässt.“

http://www.klabautern.de/2016/05/daniel-defoe-libertalia/

 

Kapitän Singleton

 

Wolfgang Riehle: „Zu Robinsons Erlebnissen vor seinem Schiffbruch gehört auch, dass eine Schiffsreise durch Piraten ein jähes Ende findet. Nach seinem großen Erstlingserfolg verfasst Defoe nicht nur eine Allgemeine Geschichte der Piraterie, sondern er schreibt nun auch einen Roman, in dem Piraterie ein wichtiges Motiv ist. Sein großes Interesse an diesem damals hochaktuellen Problem konzentriert sich auf die Frage, wie bei einem Menschen der Entschluss zum Piratenleben und damit zum gefährlichen Ausbruch aus der Gesellschaft entsteht. Die Brisanz des Problems und seine Lösung erklärt er sich so: Piraterie ist attraktiv für gesellschaftlich Gestrandete, vor allem für arbeitslos gewordene Seeleute; verschafft man ihnen aber wieder Arbeit, löst sich das Problem von selbst.

Sein in Eile geschriebenes, nicht sehr bekanntes Werk Das Leben, die Abenteuer und Piratenzüge des berühmten Kapitän Singleton belegt dieses Interesse. Es überrascht wie alle Defoe-Romane durch sehr interessante, hier nur selektiv anzudeutende Aspekte. Der Erzähler Bob Singleton wird als kleines Kind von Zigeunern gekidnappt und kommt als Schiffsjunge auf ein portugiesisches Schiff. Dort macht der Steuermann Singleton das Leben so zur Hölle, dass dieser ihm nach dem Leben trachtet. Nachdem ein Teil der Besatzung, darunter auch Singleton, nach einer gescheiterten Meuterei vom Kapitän auf Madagaskar ausgesetzt wurde, gelangen die Meuterer mit einem aus Wrackteilen erbauten Schiff an die Ostküste Afrikas. Den Widerstand der Ureinwohner schlagen sie nieder und einigen sich auf den verwegensten, wildesten und verzweifeltsten Entschluß, der je von einem einzelnen oder einer Gruppe von Menschen gefaßt wurde - nämlich den, unseren Weg von der Küste von Mozambique an ... bis zu der Küste von Angola oder Guinea ... mitten durch das Herz von Afrika ... zu Lande fortzusetzen - ein Weg, auf dem wir unter sengender Hitze nie bereiste Wüsten zu durchwandern hatten, ohne Wagen, Kamele oder andere Tiere als Lastenträger und immer darauf gefaßt, mit einer unzählbaren Menge wilder und gefräßiger Tiere ... zusammenzutreffen.

Man setzt sich diesem Abenteuer ohne Furcht aus, man übersteht es auch mit Intelligenz, Mut und Ausdauer. Defoe bietet hier eine Geschichte von Menschen auf der Jagd nach Gold und wählt dafür den Kongo und damit das dunkle Herz von Afrika, ein Thema, das bereits an Joseph Conrads „Herz der Dunkelheit“ erinnert. Wenn er dabei einerseits aus einer Quelle Nutzen ziehen konnte, so ist doch andererseits die Phantasie bewundernswert, mit der er auf höchst erstaunliche Weise das Innere Afrikas entstehen lässt.

Bald horten die Abenteurer auch tatsächlich große Schätze von Gold und Elfenbein. Sie erreichen endlich sogar die westafrikanische Goldküste und können die Schiffsreise nach England antreten. Nach sehr kurzer Zeit verliert Singleton jedoch vor allem durch sein ausschweifendes Leben seinen angehäuften Reichtum. Im zweiten Teil des Romans steht die schicksalhafte Bekanntschaft Singletons mit dem Quäker William Walters im Mittelpunkt. Frömmigkeit verbindet sich bei diesem mit Weltklugheit und handfestem Gewinnstreben, dem alles untergeordnet wird. William gerät aber von Anfang an in ein gewisses Zwielicht, denn wir erfahren, dass er durchaus nicht ganz gegen seinen Willen unter Piraten lebt und sogar zum Anführer erfolgreicher Piraterien avanciert ist. Die Freibeuter machen zugleich eine Zeit lang gemeinsame Sache mit dem real existierenden Piraten Kapitän Avery, der seinerzeit einen legendären Ruf genoss.

Den Abenteurern bleibt Selbstverteidigung natürlich nicht erspart; sie sind dabei nicht zimperlich. Als sie sich einmal nach mehrjährigen Reisen und zahlreichen Abenteuern auf einer Insel von einer Gruppe von Indianern bedroht fühlen, die sich in einer Baumhöhle und den mit ihr verbundenen unterirdischen Gängen verschanzt haben, suchen sie diese mit allen Mitteln umzubringen, doch ohne Erfolg. Die Indianer verhalten sich ruhig; weil ihre Bekämpfung nicht mehr zwingend erforderlich ist, will man weiterziehen. Da kommt dem Quäker Walters, dessen Religion doch lehrt, keine Gewalt anzuwenden, der Wunsch, ihnen einen Denkzettel zu verpassen. Er schlägt vor, den Baum anzuzünden und den Eingang zur Höhle zu versperren. Nicht genug damit: Singletons Waffenexperte will an dem Baum sogar noch eine Ladung Sprengstoff anbringen, um zu sehen, ob sich die Eingeschlossenen dennoch befreien können. Der Sprengsatz wird gezündet, die Indianer in den unterirdischen Gängen und der Höhle kommen elendiglich um, einzelne Körperteile wirbeln durch die Luft; darauf der für sich selbst sprechende Kommentar: Wir hatten jetzt volle Rache an den Indianern genommen. Dies ist eine der inhumansten Situationen, die wir bei Defoe finden. Sie ist auch nicht rational erklärbar, vielmehr legt sie menschliche Unberechenbarkeit schonungslos bloß. Übertroffen wird sie nur noch von einem Bericht im zweiten Teil von Robinson Crusoe (The Farther Adventures of Robinson Crusoe). Robinson ist mit einer englischen Schiffsbesatzung auf Madagaskar gestrandet. Ein Engländer vergewaltigt eine junge Ureinwohnerin. In der darauf folgenden Nacht müssen sie daher eine Gruppe herandrängender „Wilder“ abwehren, wobei es zu einem Gefecht kommt, das Verwundete und Tote fordert. Als die Engländer den Kameraden, der die Frau vergewaltigte, mit durchschnittener Kehle aufgehängt finden, bricht sich bei ihnen blinde Rachgier Bahn, und ein gnadenloses Morden an den „Wilden“ beginnt. Man treibt sie zunächst mit Feuer aus ihren Behausungen, und Männer und Frauen werden ausnahmslos von den Schlächtern, wie Robinson sie nennt, niedergemacht. Er bemerkt weiter: ... es begegneten uns so erschütternde Beispiele einer ganz und gar barbarischen Raserei und einer Wut, die alle Grenzen des Menschlichen überstieg, daß wir es für unmöglich hielten, unsere Leute könnten die Schuldigen sein ...

In Kapitän Singleton erscheint uns die Grausamkeit des Quäkers Walters umso beunruhigender, als er wenig später wieder eindringlich dafür plädiert, Menschen nicht ohne wirklichen Grund zu töten. Zugleich erinnert er auch an die Vernunft und findet damit ebenfalls bei Singleton Gehör. Nach ausgedehnten Piratenfahrten fasst Singleton den Entschluss, den „Piratenberuf“ mit dem des Kaufmanns zu vertauschen. Singleton und Walters haben in einer tiefen Freundschaft zueinander gefunden, die schließlich durch die Heirat Singletons mit Walters' Schwester bekräftigt wird.“

Hier ist der gleiche Fall wie bei „Robinson Crusoe“ und anderen Romanen: was genau Daniel Defoe denkt oder für gut heisst, bleibt dem Leser überlassen. Das Verhalten des Quäkers teilt Daniel Defoe mit Sicherheit nicht – aber er schildert die Realität.

Der ehemalige Sklave Robinson hat keine Skrupel, seinen Gehilfen Xury zu versklaven und selbst zum Sklavenhandel aufzubrechen; der Quäker Walters findet nichts dabei, „Wilde“ elendiglich umkommen zu lassen. Wie so vieles andere in Daniel Defoes Romanen ist es Absicht, dass Robinson selbst Sklave war und die brutale Mordaktion von einem Quäker ausging. Vom Wurm abgesehen, schildert kaum jemand die Widersprüche zwischen dem, was Menschen sagen und dem, was sie tun, dermaßen deutlich wie Daniel Defoe.

 

Mensch und Schriftsteller

 

Wolfgang Riehle: „Defoes Persönlichkeit ist aus den erhaltenen Dokumenten schwer zu fassen. Auch in seinen Briefen bekommen wir nur einen kleinen Teil davon zu Gesicht. Was allerdings offen zutage liegt, ist eine eklatante Widersprüchlichkeit in seinem Wesen. Hat er in vielem, was er schrieb, sich bemüht, die Realität genau zu erfassen, so hat er sich in seinem eigenen Leben häufig in hoher Risikobereitschaft von irrealen Wunschvorstellungen leiten lassen und hat es oft genug nicht vermocht, seine Möglichkeiten richtig einzuschätzen. Die einander widerstrebenden Züge sind es aber auch, die Defoe zu einer so faszinierenden, weil außerordentlich lebendigen Persönlichkeit machen. Wie er sich mit einem nie erlahmenden Lebenswillen behauptet und die innere Gefährdung überwindet, so beschreibt er auch in seinen Romanen die aktive Selbstverwirklichung des Individuums trotz der erlebten inneren Abgründe.

Er stellt die puritanische, bürgerliche Moral sowie das patriarchalische Gesellschaftssystem zwar nicht infrage, doch bringt er auch Sympathie für Figuren auf, die sich dieser Enge widersetzen. Und dies betrifft besonders auch sein Interesse am Schicksal der Frau in der Gesellschaft. Mit Ausnahme von gewissen Andeutungen hat Defoe die Erfahrung tiefer Liebe in seinem Werk nirgends geschildert. Sexuelle Erlebnisse werden jedoch mit erstaunlicher Freizügigkeit, ganz ohne Prüderie, ja schon in einer gewissen Nähe zur Pornographie erzählt. Diese für einen Puritaner bemerkenswerte Tatsache sollte uns insofern nicht wundern, als Defoe zu seinem Lieblingsdichter den wegen seiner deftig-obszönen Gedichte und seiner Lebensumstände berüchtigten Grafen Rochester, einen großen Skeptiker, erkoren hat. Immer wieder lässt ihn unser Autor, freilich mit unverfänglichen Zitaten, zu Wort kommen. Indes fühlt sich Defoe ein Leben lang als weltoffener protestantischer Christ. Wie die von ihm so oft genannten und offenbar auch geschätzten Quäker besaß er ebenfalls die Fähigkeit, durch seinen Glauben Rückschläge und Katastrophen in göttliche Fügungen, die ihm zum Besseren dienten, umzudeuten und sich dafür dankbar zu zeigen. Besonders darin wird Robinson zu einer Symbolfigur für ihn selbst: Denn wie groß auch seine Angst urid Verzweiflung sind, wechseln sie doch auch immer wieder ab mit Empfindungen dankbar freudiger Anerkennung für die göttliche Führung. Diese wird immer wieder auch bestätigt durch ökonomischen Erfolg.

Mit großem Mut hat sich Daniel Defoe politisch engagiert, und dabei ließ er sich bereits in mancher Hinsicht vom Geist der Aufklärung leiten. Im Grunde überzeugt von der Gleichheit der Menschen und ihrem Anspruch auf unverzichtbare Grundrechte, plädierte er dafür, dass sie ihr Zusammenleben mit Vernunft regeln. Er fühlte sich zu einer Öffentlichkeitsarbeit im weitesten Sinne verpflichtet, die für mäßigenden Ausgleich zwischen den Parteien sorgte. Ein eigentümlicher Zwiespalt ergibt sich indes bei ihm erneut aus der Tatsache, dass er einerseits für die öffentliche Politik „nützlich“ sein, in ihr eine wichtige Rolle spielen wollte, dann sich aber doch zugleich meist in die Anonymität zurückzog. Noch in seinen späten Jahren schuf er das Pseudonym „Andrew Moreton“, um sich hinter dieser Maske zu verbergen. Zu seinem Charakterbild gehört es ganz wesentlich, dass er es liebte und gezwungen war, viele Rollen zu spielen, vermochte er sich doch als Meister der Theatralik mit Leichtigkeit in eine andere Figur hineinzuversetzen. Und dies ist unlängst mit Recht als Defoes grundlegende Tendenz zur Fiktionalisierung und damit als Voraussetzung für die Entstehung seiner großen Romane gedeutet worden.

Auch wenn er im Innersten immer ein Einsamer geblieben ist, trieb ihn eine unstillbare Neugier oft mitten hinein ins Weltgetümmel, das er in vielen journalistischen Texten zu beeinflussen suchte. Diese Erfahrung war ebenfalls eine entscheidende Grundlage für seine großen Romane. Seine schier unglaublichen Wendigkeit ließ ihn nicht ruhen, Ungedachtes zu erproben, Unbekanntes zu erkunden und seinen Lesern vorzuführen. Er hat in zahllosen Texten Vorschläge zur Verbesserung realer Gegebenheiten gemacht und Projekte vorgestellt, die teilweise erst im 20. Jahrhundert Wirklichkeit wurden. So liest man bei ihm, um ein letztes Beispiel zu geben, mit Staunen, dass das Wort „alt“ zu einem Schimpfwort der jungen Generation degeneriert sei, und deshalb müsse ein privates Altenheim (Protestant Monastery) zur Versorgung der minderbemittelten Überzähligen geschaffen werden - mit eigenen Ärzten, einem Pfarrer und einer Pflegestation! Derselbe Defoe, der vor allem in seinen Romanen einen neuen Sinn für die detailgerechte Schilderung der Dinge entwickelt, ist zugleich aber auch an der Welt des Okkulten, Übersinnlichen interessiert und schreibt eine Geschichte der Magie (A System of Magick). Themen wie Telepathie und das zweite Gesicht klingen in seinen Werken wiederholt an. Aber er publiziert auch ein Buch, in dem er in großer Ausführlichkeit gegen den Unsinn populärer Teufels- und Höllenvorstellungen zu Felde zieht (The Political History of the Devil); denn das Böse, was der menschliche Erfindungsgeist hervorgebracht hat, übersteigt alles, was der Teufel sich ausgedacht haben könnte. Und wir erinnern uns, wie seine Romane immer wieder auch Einblicke in menschliche Abgründe geben.

Man sieht: Seine schriftstellerische Energie ist unvergleichlich. Unermüdlich muss er sich schreibend betätigt und bestätigt haben; denn Schreiben war für ihn die eigentliche Form der Selbstbehauptung. Da er seine Texte meist anonym veröffentlichte, wurde ihm manches zugeschrieben, was nicht aus seiner Feder stammte. Deshalb ist seit einiger Zeit eine Diskussion über den tatsächlichen Kanon seiner Werke im Gange. Aber auch wenn die Zahl der ihm zugeschriebenen weit über 500 Titel wesentlich reduziert werden muss, bleibt seine Arbeitsleistung immer noch überaus erstaunlich. Und schließlich: In seinen Texten wirkte er für „eine aufmerksamere und nachdenklichere Welt“, denn eine solche Welt „ist eine bessere Welt“. Wir dürfen diese Worte einer modernen Schriftstellerin auch auf Defoe beziehen. Er steht sicher hinter Moll Flanders, wenn sie in einem für ihre Biographie entscheidenden Augenblick bekennt, sie habe zu denken begonnen, und „denken“ sei der Beginn eines Weges zum Guten. Solche Denkanstöße vermittelt er seiner Leserschaft in einer Fülle von Texten mit einem oft bunten Variationsreichtum, auf den er stolz ist. Und bunt wie die Vielfalt der Einfälle in seinen Texten ist auch seine Biographie, was bereits dem Zeitgenossen Charles Gildon auffiel: „Die erstaunlichen Wechselfälle dieses Lebens übertreffen alles ... bisher Gekannte; das Leben eines einzelnen Mannes kann kaum von einer größeren Vielfalt sein.““

Ernst Gerhard Jacob: „Andere Beispiele für das Selbstaufgehen Defoes in einer anderen Umwelt (impersonation) sind folgende: In den “Memoirs of a Cavalier” (1721) schildert er die Bürgerkriege zwischen Puritanern und Kavalieren mit der Deutlichkeit eines Augenzeugen, so daß noch fünfzig Jahre später der Minister Lord Chatham jenen Roman als echte Urkunde aus der Zeit König Karls I. (1625-1649) benutzte.

Der amerikanische Defoeforscher John Robert Moore hat nachgewiesen, daß „Robert Drury's Journal (1729)“, das die Missionare des 19. Jahrhunderts als den besten Bericht über die Eingeborenen auf Madagaskar, nicht zuletzt auch wegen seines englisch-madagassischen Wortschatzes, priesen, ebenso von Defoe verfaßt worden ist wie die früher dem Kapitän Charles Johnson zugeschriebene, berühmte „Geschichte der Seeräuber“ (1724), die für Walter Scott (Die Seeräuber) und Robert Louis Stevenson (Die Schatzinsel) die Hauptquelle ihrer Kenntnis vom Seeräuberwesen war …

In seiner heute noch als wertvolle historische Quelle anerkannten „Geschichte der Union“ (1709) schreibt er, der sowohl ein großer Erfindungskünstler als auch ein wahrheitsliebender Historiker war, u. a. folgende Worte, die charakteristisch sind für ihn als Mensch und Politiker, der trotz aller Anfeindungen, treu zu sich selbst, von einer leidenschaftlichen Wahrheitsliebe erfüllt, stets für seines Volkes und der Menschheit Wohl eintrat:

„Ich war niemals ein Freund des Parteiwesens, sondern habe stets mit dem größten Eifer die wahren Interessen dieser Nation und aller Nationen, d. h. die Wahrheit und die Freiheit verfochten. Wer dieser Partei angehört, ist allerdings mein Parteigenosse.“

In diesen Zusammenhang gehören auch seine Aussprüche über die Pressefreiheit: „Den Mißbrauch der Freiheit mit der Entziehung der Freiheit heilen wollen, heißt gleich das ganze Bein abschneiden, wenn es sich nur um die Heilung der Gicht in einer Zehe handelt." Und: „Das Glück freier Nationen besteht nicht nur in den Freiheiten und Vorrechten, die sie genießen, sondern auch in dem Gefühl für die Vorzüglichkeit und die Anwendung jener Vorrechte und in dem Geschmack an der Freiheit als solcher“ …

Schon Leopold von Ranke schreibt über ihn: „Er war von den Pamphletisten seiner Zeit vielleicht der, welcher das meiste schriftstellerische Talent mit dem ungebundensten, von den in England bereits eingelebten Begriffen unabhängigsten Denken verband“ …

Über sich selbst schrieb er in seiner Zeitschrift einmal folgende bezeichnenden Worte:

„Jetzt lebe ich arm und verachtet; aber ich verachte die Verachtung. Freude und Friede wohnen in meiner Seele. Meine ersten Unfälle, eine ungeheure Schuldenmasse, die mich seit meinem 30. Jahre beinahe zu Boden drückt, meine zahlreiche Familie, meine körperlichen Leiden, der Undank meiner Mitbürger, die Angriffe meiner Gegner, die Drohungen der Gewalt, meine bisherigen Erfahrungen, das alles hindert mich nicht an Geistesfreiheit, innerer Leichtigkeit und der Seelenstärke der Überwindung.“

Daniel Defoe war es, der in seinen politischen Schriften den Volkswillen zum realen Faktor im englischen Verfassungsleben erhoben hat. Die tieferen Hintergründe der Staatslehre Defoes, die in seiner politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung liegen, sind in folgenden Worten angedeutet: „In Defoe steckt als Dissenter das politische Erbgut der puritanischen Revolution. Er predigt die Aktivität der Massen (vgl. seine ‚Kentish Petition‘ 1701 und seine Denkschrift: ‚Unser Name ist Legion und wir sind viele!‘). Ihm entsprechen die Theorien der Volkssouveränität und der Delegationslehre, denn sie garantieren die politische Vormacht der Mittelschichten.“ (Paul Ritterbusch).

In der Tat wird man der Größe des Defoeschen Genies nicht gerecht, wenn man Defoe nur vom engen philologisch-literarhistorischen Standpunkt aus als den großen Robinsondichter betrachtet. Defoe lebt gewissermaßen im Schatten seines eigenen Ruhmes weiter. Über seinem Robinson hat die Nachwelt seine anderen großen Werke und Verdienste vergessen. In Wirklichkeit hat Defoe auf allen Gebieten, auf denen er hervorgetreten ist, sehr Beachtliches geleistet, ja zumeist neue Wege gewiesen, es sei Geschichte, Volkswirtschaft, Sozialpolitik, Literatur, Journalistik, Pädagogik, religiöse oder politische Lehre. Einer der größten deutschen Internationalrechtslehrer, Albrecht Mendelssohn-Bartholdy (1874-1934), schrieb schon im Jahre 1912, daß „die staatsrechtlich-polemische Literatur des Defoeschen Zeitalters noch Gedanken für Jahrhunderte birgt und daß wir die drei unvergleichlich großen literarischen Kämpfer: Defoe-Swift-Steele leider nur vom Robinson Crusoe, Gulliver, vom Tatler und Spectator her kennen.“

Defoe besaß ein „génie du nouveau“, an dem er, wie so viele andere große Reformer, schwer zu leiden hatte - ein Genie, das an allem Feuer fing. Man könnte ihn in dieser Hinsicht mit Pestalozzi, List und Harkort vergleichen. In allen seinen Schriften verspüren wir etwas von jener mit der Macht einer Elementargewalt wirkenden inneren Stimme, die dem Autor immer wieder eingibt, zu bessern, zu bekehren, zu beraten und zu belehren, zu warnen und zu ermahnen, zu fördern und zu erziehen! Wie von einer unsichtbaren Kraft getrieben, flossen ihm die Gedanken in die Feder, als ob immer einer hinter ihm stünde, der ihm alles diktierte.

Einer der schönsten Beweise für sein Sozialreformertum ist der berühmte „Essay on Projects“. In diesem seinem allerersten Buche, das auch seinen Verfassernamen trug, befürwortet Defoe, seiner Zeit weit vorauseilend, die Errichtung von Banken, Sparkassen, Feuer-, Hagel-, Unfall-, Invaliden- und Altersversicherungen, von Handelsgerichten und Irrenhäusern sowie die Verstaatlichung des Seewesens und die Förderung der Frauenerziehung und einer englischen Sprachakademie. Es wird stets ein Ruhmesblatt in der Lebensgeschichte Defoes bleiben, daß er, als er selbst in größte Not geraten und ein Opfer der unmenschlich harten Bankerottgesetze geworden war, diesen Essay schrieb (1692-1694), der nach seinem Erscheinen (1697) seinen Mitmenschen zum Segen gereichen sollte. Kein Geringerer als Benjamin Franklin behauptete, daß dieser Essay seinem Denken eine Wendung gab, die auf einige Hauptereignisse seines späteren Lebens einen entscheidenden Einfluß ausübte. Franklin hatte diesen „Essay on Projects“ in der Bibliothek seines Vaters gefunden.

Dieser „Essay“ ist es auch, der mit dem „Journal“ nach Form und Inhalt verwandte Züge aufweist. In beiden Werken zeigt sich Defoe als ein Mann von unermüdlichem sozialen Interesse und rastloser sozialer Aktivität, unerschöpflich im Planen und Propagieren nützlicher Projekte, unverändert in seinem Drang zu warnen, zu ermahnen und zu belehren. In stilistischer Hinsicht ist es die unverkennbare Neigung, in besonderen Fällen die Darstellung durch geschickte Dramatisierung zu veranschaulichen, die sich in beiden Werken findet, im „Essay“ beim Sprachakademie-Projekt im Kampf gegen das Fluchen und Schwören zur Reinhaltung der englischen Sprache, im „Journal“ bei der Drei-Männer-Wandergruppe, die vor der Pest ausweicht und dabei mit anderen Menschengruppen zusammenstößt."

 

 

Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm