Die Meme des Eriugena

„Nein, das christliche Europa ging im Gegensatz zum Islam den umgekehrten Gang: überall da, wo es sich verbreitete, wurde das Wissen zerstört: Der Mensch sollte glauben – nicht wissen. Da der Wurm seine Leser jetzt aber nicht zu lange aufhalten möchte, wird er sich über diese Geschichte und ihre Überwindung das nächste Mal seine Gedanken machen.“

Dies hat den Schluss zum Wurm „Glauben und Wissen“ eingeleitet anlässlich des Filmes „Der Medicus“, der zur Zeit in den Kinos läuft.

 

Warum soll der Mensch im Christentum nicht wissen? Hier die biblischen Grundlagen, mal wieder zusammengetragen von Jeremias Juchtenkäfer von der Arbeitsgruppe REA (Religiöses, Esoterisches, Abstruses).

Die Begierde, vom Baum der Erkenntnis zu essen und damit Gott gleich zu werden, hatte die Sünde in die Welt gebracht. Seit seiner Urverfehlung im Paradies folgte dem Menschen das Verbot, sich ein Wissen anzumaßen, das ihm, dem Sünder nicht zustand.

Das Judentum ist übrigens nicht so sehr auf den Begriff der „Sünde“ fixiert und interpretiert diese Geschichte sehr viel anders.

Und jetzt Jesus:

„Zu jener Zeit hob Jesus an und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß du solches den Weisen und Klugen verborgen und es den Unmündigen offenbart hast!“ Matthäus 11; 25

http://bibel-online.net/buch/schlachter_1951/matthaeus/11/#1

 

Dieser Satz geht zwar in eine gewisse Richtung, ist aber interpretierbar. Eindeutiger ist da Paulus:

„Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist aus Gott, so daß wir wissen können, was uns von Gott gegeben ist; und davon reden wir auch, nicht in Worten, die von menschlicher Weisheit gelehrt sind, sondern in solchen, die vom Geist gelehrt sind, indem wir Geistliches geistlich beurteilen. Der seelische Mensch aber nimmt nicht an, was vom Geiste Gottes ist; denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht verstehen, weil es geistlich beurteilt werden muß.“ 1. Brief an die Korinther 2; 12 - 14

http://bibel-online.net/buch/schlachter_1951/1_korinther/2/#1

 

„Niemand betrüge sich selbst! Dünkt sich jemand unter euch weise zu sein in dieser Weltzeit, so werde er ein Tor, damit er weise werde! Denn die Weisheit dieser Welt ist Torheit vor Gott; denn es steht geschrieben: «Er fängt die Weisen in ihrer List.» Und wiederum: «Der Herr kennt die Gedanken der Weisen, daß sie eitel sind.»" 1. Brief an die Korinther 3; 18 - 20

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„denn es steht geschrieben: «Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.» Wo ist der Weise, wo der Schriftgelehrte, wo der Disputiergeist dieser Welt? Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht? Denn weil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott, durch die Torheit der Predigt diejenigen zu retten, welche glauben. Während nämlich die Juden Zeichen fordern und die Griechen Weisheit verlangen, predigen wir Christus den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis, den Griechen eine Torheit; jenen, den Berufenen aber, sowohl Juden als Griechen, predigen wir Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn Gottes «Torheit» ist weiser als die Menschen sind, und Gottes «Schwachheit» ist stärker als die Menschen sind. Sehet doch eure Berufung an, ihr Brüder! Da sind nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viel Adelige; sondern das Törichte der Welt hat Gott auserwählt, um die Weisen zuschanden zu machen, und das Schwache der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen, und das Unedle der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt und das, was nichts ist, damit er zunichte mache, was etwas ist; auf daß sich vor Gott kein Fleisch rühme ...“ 1. Brief an die Korinther 1; 17 – 31

http://bibel-online.net/buch/schlachter_1951/1_korinther/1/#1

 

So richtig derb und Weg weisend in die christliche Zukunft ist folgende Stelle:

„Natürlich sind wir auch nur Menschen, aber wir kämpfen nicht wie die Menschen dieser Welt. Denn die Waffen unseres Kampfes sind nicht menschlich, sondern es sind die mächtigen Waffen Gottes, geeignet zur Zerstörung von Festungen. Mit ihnen zerstören wir Gedankengebäude und jedes Bollwerk, das sich gegen die Erkenntnis Gottes erhebt, wir nehmen jeden solcher Gedanken gefangen und unterstellen sie Christus. Wir stehen bereit, jeden Ungehorsam zu bestrafen, sobald euer Gehorsam vollendete Tatsache ist.“ 2. Brief an die Korinther 10; 3 – 6

http://bibel-online.net/buch/neue_evangelistische/2_korinther/10/#1

 

In der Tat: Wo das Christentum auch immer Fuß fasste, setzte ein ungeheurer Schwund der Bildung ein. Planmäßig wird die Bibliothek von Alexandria, dem Wallfahrtsort der antiken Wissenschaft, zerstört und mehrere hunderttausend Buchrollen den Flammen übergeben. Die letzten Philosophenschulen werden geschlossen, die letzten Bibliotheken eingeäschert, die Lektüre der Klassiker verboten, die Reste antiker Bauwerke der Zerschlagung preisgegeben. Das übrig gebliebene Wissen blieb hinter Klostermauern verborgen. Lesen und Schreiben konnten ausschließlich christliche Funktionsträger und jene reichen Leute, denen es von ihnen beigebracht wurde.

Ab jetzt folgt der Wurm dem Buch „Glauben und Wissen – Die Einheit europäischer Religion und Naturwissenschaft“ von Sigrid Hunke: Der erste, der Zweifel am religiös-diktatorischen Weltbild äußert, ist Johannes Scotus Eriugena (um 810-877), der Hofphilosoph Kaiser Karls des Kahlen.

http://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Scottus_Eriugena

 

In seinem Buch „Über die Einteilung der Natur“, schreibt er: Gott ist „alles Lebens Quell und Urgrund … So durchdringt das Leben alles: seiner kann keine Kreatur, sinnliche noch übersinnliche, unteilhaftig sein. Denn auch die unseren Sinnen tot erscheinenden Körper sind nicht gänzlich vom Leben verlassen.“ ... „Und so ist auch die Materie selbst, aus der die Welt gemacht ist, von ihm und in ihm, und er selbst in ihr, soweit überhaupt ihr Sein erkennbar ist.“

Letztendlich durchzieht EINE Gesetzlichkeit das gesamte Universum: „Und doch fließt nicht dieses aus jenem, sondern alles aus Einem.“

Natur ist also nicht der Keim des Bösen, sondern ein Teil Gottes. Wenn also alles von Gott ist, muss auch der Begriff der „Sünde“ überdacht werden. Eriugenas Gedanken gehen Richtung Pantheismus. Und sein Buch „Über die Einteilung der Natur“ hat die große Ehre, von Anfang bis Ende auf Platz 1 des „Index librorum prohibitorum“, dem Verzeichnis der als ketzerisch verurteilten und verfolgten Bücher, zu stehen.

Erst einmal wird sein Werk nicht ernst genommen und gerät in Vergessenheit, bis Anfang des 12. Jahrhunderts Hugo von St. Viktor auf Eriugenas Schrift stößt. Dann geht’s aber richtig ab: in unzähligen Abschriften , Glossarien und Kommentaren dringt seine Vision in die Klöster und in die Köpfe einer aufnahmebereiten Leser- und Schülerschaft und über die „Fachleute“ hinaus ins Volk.

Sigrid Hunke schreibt: „Natura, Universitas, Theophanie – sie werden jetzt das große Thema in Chartres, Reims, Le Mans und Laon, in Regensburg und Bingen und an den anderen geistigen Zentren Europas. Sie werden zu den gängigsten Begriffen und ständiger Wortschatz nicht nur der Philosophen. Sie entfalten, nach jahrhundertelangem Schwelgen in Naturverachtung und besessenem Wühlen in Sündigkeitsgefühlen, ihre schönste Blüte in der Dichtung Unzähliger, die sich wie aufatmend nicht genugtun kann im Bewundern der Gotteswunder, die aus dem ‚zarten Gottesgarten‘ emporblühen. Die schönste von allen findet sich bei Friedrich von Sonnenburg und Franziskus von Assisi, Freidank, Rumzlant, Reimar, Walther von der Vogelweide, Heinrich von Meißen – ihre Zahl ist riesig.“

Auch die Sprache der Philosophen beginnt zu duften und zu blühen wie beim vielgelesenen Honorius von Regensburg: „… ist für den, der Gottes Schöpfung betrachtet, die Freude so groß, und zwar bei manchen die Freude an ihrer Schönheit wie bei den Blumen, bei anderen wieder an ihren Heilkräften wie bei den Kräutern, bei manchen an ihre Nahrhaftigkeit wie bei den Früchten, bei anderen wieder an ihrer jeweiligen Bedeutung wie bei den Würmern und Vögeln …“

Amalrich von Bene formuliert „Alles ist Eines, und alles, was ist, ist Gott. In ihm selbst ist alles, und darum ist er selbst auch alles. Aller Natur und allen Menschen ist er eingeboren und hat daher ebenso durch Ovid wie durch Augustin geredet.“

Des Jesus bedarf es nicht, weil jeder wesenhaft Gottes Sohn ist und, sofern er die wahre Vernünftigkeit und Gotteserkenntnis besitzt und von Liebe durchdrungen ist, das Gute tut und insofern schon auferstanden ist.

Das ist dann doch etwas zu starker Tobak und die Scheinwerfer der Inquisition richten sich grell auf Eriugenas Werk. Das Verdammungsurteil von 1209 macht das Buch nur noch interessanter, bis 1225 eine Bulle erlassen wird: sämtliche Abschriften müssen abgeliefert und verbrannt werden, ansonsten droht die Exkommunikation und damit ewige Höllenstrafen.

Nichtsdestotrotz sind Eriugenas Gedanken in der Welt und werden unter anderem von Albertus Magnus oder Meister Eckhart aufgenommen, bis sie bei Nikolaus von Kues (Cusanus) ankommen.

http://de.wikipedia.org/wiki/Nikolaus_von_Kues

 

Cusanus (1401 – 1464) entwickelt Eriugenas Gedanken weiter. Sich der Natur um ihrer selbst willen zu nähern, sie mit den eigenen Augen zu betrachten, sie nach ihren Ursprüngen und Gesetzen zu befragen, sie nach ihren Ursprüngen und Gesetzen zu befragen, ist seine noch betontere Forderung. Auch wenn Cusanus nicht selbst Forscher und Astronom ist, so stößt er doch bewusst mit seinem ganzen Werk seine Zeit, ja, das Volk selbst auf die Notwendigkeit einer Erfahrungswissenschaft hin und bahnt ihr den tragfähigen Weg.

Leonardo da Vinci ist von Cusanus‘ Werken beeinflusst und vor allem Giordano Bruno (1548 – 1600), der sich von ihm mitreissen lässt, ihn „den Göttlichen“ nennt und der ihn wahrhaft „zu den Sternen trug“.

http://de.wikipedia.org/wiki/Giordano_Bruno

 

Mehr als Nikolaus Kopernikus, der nur den Platz von Sonne und Erde tauschte, ist in Wahrheit Giordano Bruno der Urheber des modernen Weltbildes. Er als erster verkündet die Unendlichkeit des Seienden, des Raumes, die Unendlichkeit des Lebens und des Werdens in der Zeit.

„Wir suchen Gott in dem unveränderlichen, unbeugsamen Naturgesetz, in der ehrfurchtsvollen Stimmung eines nach diesem Gesetze sich richtenden Gemütes, wir suchen ihn im Glanz der Sonne, in der Schönheit der Dinge, die aus dem Schoß dieser unserer Muttererde hervorgehen und in dem Anblick unzähliger Gestirne, die am unermesslichen Saume des einen Himmels leuchten.“

Von der Geschichtsschreibung eher klein gehalten, trägt ihm die katholische Kirche voll Rechnung, indem sie ihn den „Fürsten der Ketzer“ nannte und ihn öffentlich am lebendigen Leibe verbrennen ließ.

Allein wg. ihres Quasi-Bildungsmonopols konnte sich das Denken hin zur Naturwissenschaft nur aus den Reihen der katholischen Kirche heraus entwickeln. Und tatsächlich, je nach Zeitgeist und Machtverhältnissen, waren bedeutende Vordenker wie Nikolaus von Kues oder Gerbert von Aurillac (der spätere Papst Silvester II.) hohe kirchliche Würdenträger bzw. wurden von diesen unterstützt. Bisweilen aber auch brutal verfolgt.

Zwischen den bedeutendsten Vordenkern Eriugena, Cusanus und Giordano Bruno, gab es viele weitere, die in großartiger Weise theoretische oder praktische Arbeit geleistet hatten. Um willkürlich ein paar herauszupicken: Friedrich II. von Hohenstaufen, Wilhelm von Conches, Thierry von Chartres, Athelhard von Bath, Robert Grosseteste, Hermann der Lahme.

Um einen noch hervorzuheben: Roger Bacon, einen der ersten Verfechter des Experiments. Indirekt kennen ihn viele: Umberto Eco hatte sein Meisterwerk „Der Name der Rose“ später angesiedelt, als er ursprünglich wollte. Mit der Begründung, dass vor Roger Bacon das wissenschaftliche Denken seines Helden nicht möglich gewesen wäre. Tatsächlich ist William von Baskerville bei Eco ein Schüler von Roger Bacon.

Die geistigen Grundlagen sind gelegt, um zu den ganz großen natur-wissenschaftlichen Erkenntnissen zu gelangen. In der Fußballer-Sprache würde das (sehr vereinfacht) heissen: Von der Abwehr über das Mittelfeld wurde das Spiel aufgezogen und Stürmer wie Johannes Kepler, Galileo Galilei oder Isaac Newton brauchten den Ball nur noch ins leere Tor einzuschieben.

Und das war alles andere als eine selbstverständliche Entwicklung, wie es viele meinen. Bedeutende Menschen wurden lange Jahre inhaftiert (Roger Bacon), ermordet (Giordano Bruno, Siger von Brabant) oder ausgebuddelt, damit sie nicht mehr in „geweihter Erde“ begraben sein konnten (Amalrich von Bene).

Es ist eine faszinierende Geschichte der Menschen. Umso trauriger ist es für uns Würmer und andere Bewohner des Erdreiches, mit ansehen zu müssen, wie viel die heutigen Menschen davon wissen: so gut wie nichts. Die haben nicht die geringste Ahnung, wer ihre heutigen Gedanken vorgedacht hat, wer für sie gekämpft hat, wer für sie gestorben ist.

Die halten ihre Gedanken allesamt für „logisch“ oder „normal“. Wenn alles so „logisch“ ist: warum haben die Menschen aller Zeiten nicht so gedacht? Und: warum denken die meisten Menschen außerhalb Europas und der von Europäern besiedelten Länder nicht so? Mal davon abgesehen, dass es mehr als genug Menschen in den europäisch geprägten Ländern gibt, die nichts von Naturwissenschaft halten.

Es ist schon traurig, als Wurm unter solchen Menschen sein Dasein fristen zu müssen.

Der Ausdruck „Meme“ geht übrigens auf den Biologen Richard Dawkins zurück. Im Vergleich zu den biologischen Genen, pflanzen sich die Meme auf der gedanklichen Ebene fort. „Die Meme des Eriugena“ heisst damit, dass sich Eriugenas Gedanken weiter fortgesetzt haben und das Denken doch einiger Menschen in der Gegenwart sich auf Eriugena begründen. Auch, wenn sie noch nie etwas von ihm gehört hatten.