Tod eines Kritikers

https://www.youtube.com/watch?v=40gs4L_1F-o

Das war ein Ausschnitt aus der Trauerfeier für Marcel Reich-Ranicki, die letzte Woche stattfand. Das Erdreich trauert mit. Warum? Er war einer von wenigen Menschen, wie wir sie uns alle wünschen würden: intelligent, gebildet, aufrichtig, authentisch, hilfsbereit, naiv im positiven Sinne. Keiner, der von vornherein alles besser wusste, sondern bis zum Schluss sich die Fähigkeit zum Staunen bewahrt hat.

 

Hier ein Auszug aus dem Nachruf von Frank Schirrmacher: „Der größte Literaturkritiker unserer Zeit verkörperte, in Verfolgung und Ruhm, das zwanzigste Jahrhundert. Er war ein permanenter Protest gegen Langeweile und Mittelmaß. Niemand vermochte einer ganzen Gesellschaft die Bedeutung von Literatur so zu vermitteln wie er.“

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/marcel-reich-ranicki/nachruf-auf-marcel-reich-ranicki-ein-sehr-grosser-mann-12580222.html

 

Hier ist der Link zum Nachruf, der viele weitere lohnenswerte Links beinhaltet, unter anderem darüber, was Thomas Gottschalk über ihn sagte:

„… Marcel war sich für nichts zu schade, wenn es ihm unterhaltsam erschien und ihn nicht langweilte. Er, dem in seinem Leben nichts Schreckliches erspart blieb, war zu einer fast kindlichen Freude fähig. Da wurde bei ihm eine Leichtigkeit und Lockerheit sichtbar, die vielen, vor allem deutschen Intellektuellen, völlig fehlt.

Mit der war es aber schnell vorbei, als man ihm die deutsche Fernsehwirklichkeit in komprimierter Form anlässlich des Fernsehpreises vor Augen führte und gleichzeitig versuchte, ihn für dieses Medium durch die Überreichung einer Auszeichnung gleich mit zu vereinnahmen. Wie oft habe ich es erlebt, dass sich Menschen – und ich nehme mich da keineswegs aus – vor der Kamera reflexhaft verbiegen. Ich kenne den Zwang, das zu sagen oder zu tun, was der Zuschauer vor dem Schirm erwartet. Marcel kannte diesen Zwang offensichtlich nicht, und wenn er ihn kannte, hat er sich ihm nicht unterworfen. Er hat nie in seinem Leben das gesagt, was man von ihm hören wollte, und selten das getan, was man von ihm erwartet hat. Und er hat sich auch damals die Freiheit genommen, mir den Preis verbal um die Ohren zu hauen ...“

Wer seine Autobiographie „Mein Leben“ gelesen hat, wird wissen, dass es kaum jemand zweites gegeben hat, der dermaßen Literatur, Theater und Musik geliebt hat wie er.

1920 wurde er in eine deutsch-polnische Familie geboren, lebte die ersten Jahre seines Lebens in der polnischen Kleinstadt Wloclawek und kam 1929 zu Verwandten nach Berlin.

Viele seiner Vorfahren waren Rabbiner, unter anderem auch seine Großväter, wobei ihm einer der beiden das Amt des Rabbiners schmackhaft machen wollte mit dem Hinweis „man könne als Rabbiner viel faulenzen“. MRR bekam schon als Kind die Heuchelei mancher Erwachsener in Glaubensdingen mit und hielt Gott für „eine nicht sonderlich gelungene literarische Figur, vielleicht vergleichbar mit Odysseus oder dem König Lear.“

„Ich kann mich an keinen einzigen Augenblick in meinem Leben erinnern, an dem ich an Gott geglaubt hätte.“ Und bis zum Schluss konnte er nicht glauben, dass es intelligente, ja gebildete Menschen gibt, die dieses täten.

https://www.youtube.com/watch?v=mSIADxIHC2g

 

MRR berichtet von seiner Schulzeit in der Weimarer Zeit und der Zeit des Nationalsozialismus und natürlich seiner aufkeimenden Liebe zur Literatur. Der Titel „Mein Leben“ ist wörtlich zu nehmen: Er analysiert nicht die Zeit, sondern schildert, wie sich die Zeit auf ihn auswirkt. Und das ist eine ganze Menge.

Er und seine jüdischen Mitschüler hatten das Glück, von den „arischen“ Mitschülern nicht gequält zu werden. Aber „weggesehen“ hatten sie alle. „Alle diese Herren, gebildete und nachdenkliche Menschen“ verhielten sich bei Klassentreffen nach dem Krieg auch nicht anders.

Gegenüber Juden werden die Schikanen der Behörden immer derber bis dahin, wo sie (also auch MRR) nicht mehr ins heiss geliebte Theater gehen dürfen und MRR 1938 in einer Nacht- und Nebelaktion zusammen mit vielen anderen aus Deutschland ausgewiesen, in den Zug gesteckt und nach Polen verfrachtet wird.

Noch ist Polen ein freies Land, doch ein Jahr später von Deutschland besetzt. In Warschau wird ein Getto mit mehreren Hunderttausend jüdischen Einwohnern errichtet. Auch MRR wird gezwungen, dort zu leben, hat aber das Glück, eine Stelle als Übersetzer beim „Judenrat“, der Getto-Verwaltung, zu bekommen. Die Zustände werden immer dramatischer und mit sehr viel Glück gelingt ihm mit seiner Frau Teofila 1943 die Flucht. Bis Kriegsende leben die beiden versteckt bei einer polnischen Familie.

Zu den schönsten Schilderungen des Buches gehören die, bei denen er über das kulturelle Leben im Getto berichtet, etwa die improvisierten Symphonie-Konzerte.

Zu den unschönsten Schilderungen zählt das Benehmen deutscher Soldaten im Getto. Das haben wir Erdreich-Bewohner auch schon festgestellt: Wenn Menschen plötzlich Macht über andere Menschen haben, wollen sie es ihnen „zeigen“. Vor allem dann, wenn sie keiner kontrolliert. Und dann geht es oft sehr barbarisch zu. Es sind nicht alle Menschen so, aber viele.

Im neuen Polen macht MRR Karriere beim Geheimdienst (wobei gleich nach dem Krieg relativ wenig „geheim“ ist), ist bei den Kommunisten aber nicht immer wohl gelitten. Trotzdem seine Familie und die seiner Frau von den Deutschen entweder vergast oder erschossen wurden, liebt er immer noch die deutsche Kultur und kehrt 1958 wieder und endgültig nach (West-) Deutschland zurück.

Hat das Glück, seine Leidenschaft zur Literatur als Kritiker zum Beruf machen zu können und 1973 die Leitung der bis dahin etwas verschnarchten Literaturredaktion der „Frankfurter Allgemeinen“ zu übernehmen. Und macht daraus „das größte Machtzentrum, das es je in der Geschichte der deutschen Literatur gegeben habe.“ MRR gefällt der Ausdruck nicht und er erlaubt sich zu fragen: „War das für die Literatur gut oder schlecht?“

Worin liegt sein Erfolg? Frank Schirrmacher schreibt in seinem Nachruf „Klarheit, keine Fremdworte, leidenschaftliches Urteil.“ Dazu passt auch folgender Spruch von MRR: „Deutlichkeit ist die Höflichkeit des Kritikers.“ Und deutlich war er immer. Während die im Elfenbeinturm sitzenden Germanisten schon seit jeher die Tendenz hatten, um sich selbst zu kreisen, gab es für ihn hauptsächlich eine relevante Zielgruppe: das an Literatur interessierte Publikum. Und dank seiner lebhaften, nie langweiligen Kritiken, wurde dieses Publikum immer größer.

Sehr zum Vorteil der Literaten, die wg. Deutlichkeit nicht immer glücklich mit den Kritiken waren und oft für längere Zeit beleidigt waren. Bei einem Empfang etwa flüstert Heinrich Böll im ins Ohr „‘Arschloch!‘ Dann sagte er laut und lachend: ‚Jetzt ist alles wieder gut.‘ Und er umarmte mich.“

Über das Innenleben der Schriftsteller erfährt der Leser auch einiges: „Erst viel später habe ich begriffen, welches Missverständnis hier vorgefallen war: Er wollte nicht, dass ich seinen Text kontrolliere oder gar korrigiere, sondern dass ich ihn lobe und bewundere, rühme und preise. 1944 hatte ich noch keine Erfahrungen im Umgang mit Schriftstellern“ (über eine Begegnung mit Stanislaw Jerzy Lec – MRR hatte noch mehrere solcher Begegnungen).

„Was habe ich aus dem Gespräch mit Anna Seghers gelernt? Dass die meisten Schriftsteller von der Literatur nicht mehr verstehen als die Vögel von der Ornithologie. Und dass sie am wenigsten ihre eigenen Werke zu beurteilen imstande sind. Denn in der Regel wissen sie zwar, was sie ungefähr zeigen und verdeutlichen, erreichen und bewirken wollen. Dieses Wissen trübt ihren Blick auf das, was sie tatsächlich geleistet und geschaffen haben. Der Kritiker soll prüfen – so gründlich und so sorgfältig wie möglich -, was der Autor geschrieben hat. Was der Autor sonst über sein Werk zu sagen hat, sollten wir nicht ignorieren, indes auch nicht sonderlich ernst nehmen.“

Über eine schöpferische Pause von Ingeborg Bachmann: „Ihm (dem Roman ‚Malina‘) war eine lange, eine zehnjährige Publikationspause vorangegangen. Solche, in der Regel lautlos-dramatischen Pausen werden von der literarischen Öffentlichkeit genau registriert – von manchen unruhig, von vielen sensationslüstern, von allen neugierig. Denn die meisten Schriftsteller sind in einer Krise oder haben gerade eine Krise überwunden oder befürchten eine Krise. Daher genießen sie die Krise eines Kollegen beinahe wollüstig.“

Ein berühmter Philosoph hat einmal gesagt „Kritiker sind wie Eunuchen: alle wissen, wie’s geht, aber keiner kann’s.“ Mit seinen zahlreichen Kritiken und vor allem mit „Mein Leben“ hat MRR bewiesen, dass er „es“ kann.

Nach seiner Tätigkeit bei der „Frankfurter Allgemeinen“ leitet er im Fernsehen von 1988 bis 2001 das „Literarische Quartett“. Nicht zu vergleichen mit seinen bisherigen Leistungen, aber hier wird er einem größeren Publikum bekannt, das er für die Literatur begeistern kann.

Und er bleibt sich selbst treu und redet weiterhin Klartext. Sehr deutlich, als er auf offener Bühne den Deutschen Fernsehpreis ablehnt:

https://www.youtube.com/watch?v=jsbhA64PvwA

 

Selbstverständlich gehört er zu den meist-parodierten Gestalten. Hier eine Parodie von Gunzi Heil:

https://www.youtube.com/watch?v=Qtrgb7_M8os

 

Was wird von ihm übrig bleiben? In erster Linie der Mut und der Willen, an sich selbst zu glauben und seinen eigenen Weg zu gehen. „Mir gefällt das nicht, auch wenn es alle anderen gelobt haben.“

Ohne ihn wird die Welt etwas normaler. Und das ist nicht positiv gemeint. Vielleicht nimmt ihn ja doch der ein oder andere von den Menschen zum Vorbild.