Bismarck

Vor 125 Jahren starb Otto von Bismarck. Was mensch auch immer von ihm halten mag – seine Bedeutung wird ihm keiner abstreiten.

Und er ist aktueller denn je.

Sehr deutlich fallen für seine Zeit die Vergleiche zur Gegenwart aus für die Mechanismen, wie Politik, Wirtschaft und Medien funktionieren.

Sofern nicht anders angegeben, stammen die angegebenen Zitate aus dem Buch „Bismarck – Sturm über Europa“ von Ernst Engelberg.

Der Wurm beginnt gleich mit dem Fazit und der Aktualität.

 

Fazit

 

Otto von Bismarck war kein Über-Mensch. Auch er war ein Kind seiner Zeit, der nur zeitgemäß handeln konnte. Allerdings war er eine starke Einzel-Person, ohne die die Geschichte anders verlaufen wäre.

Zuerst zum Negativen: Beim Umgang mit der organisierten Arbeiterschaft hat er schlichtweg versagt; nichtsdestotrotz ist diese auch ohne bzw. gegen ihn immer stärker geworden.

Wie die meisten Patriarchen trägt auch er keine Sorge für eine kompetente und reibungslose Nachfolge in seinem Sinne.

Das Positive: entgegen allen (auch heutigen) Klischees war das mit von ihm geschaffene Deutschland weder konservativ noch militaristisch-kriegslüstern.

Im Gegenteil: Im „Kulturkampf“ wurde die Trennung von Staat und Kirche durchgesetzt mit unter anderem staatlicher Schulaufsicht und Einführung der Zivilehe.

Wirtschaftspolitisch war der Staat auf Höhe der Zeit. Die Wünsche der Wirtschaftsliberalen wurden erfüllt und die letzten alten Zöpfe abgeschnitten. Auch, wenn das nicht seine Absicht war, legte Otto von Bismarck die Grundlagen für den enormen wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Trotz allem Brimboriums mit Kaiser und Adel: aus dem Land der Dichter und Denker war das Land der Industriellen und Ingenieure geworden.

Auch die Mär, dass Deutschland und vor allem Preußen schon immer besonders kriegerisch gewesen sei, stimmt nicht. Dafür spricht die Weigerung Preußens, sich am Krimkrieg gegen Russland zu beteiligen und die Weigerung des „saturierten“ Deutschlands, sich in kriegerische Abenteuer verwickeln zu lassen und stattdessen auf rein defensive Bündnisse zu setzen.

Die politische Einigung Deutschlands bzw. Klein-Deutschlands ohne Österreich lag quasi „in der Luft“ und wurde durch neue technische Mittel wie Eisenbahn und Telegraphen gefördert bzw. erzwungen. Otto von Bismarck hat sein Teil dazu beigetragen, auch wenn es nur über Kriege ging (glücklicherweise sehr kurze Kriege).

Otto von Bismarck hat viel für Deutschland (und Europa) getan. Bedeutsamer dürfte sein, was er verhinderte. Etwa mögliche Jahrzehnte lange kriegerische Auseinandersetzungen um die Einheit Deutschlands.

 

Bismarck heute

 

Otto von Bismarck ist durch drei Dinge aktuell.

 

1. Durch das Nicht-Wissen der Bundestags-Abgeordneten Emilia Fester, die mit ihm nichts anfangen konnte, siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/index.php/1319-es-geht-noch-fester

 

2. Durch Forderungen von Spinnern, Bismarck-Denkmäler jeglicher Art zu stürzen oder umzubenennen. Begründung: Bismarck hätte das deutsche Kolonialreich begründet und „Auf der von ihm einberufenen Kongo-Konferenz sollte es um nichts Geringeres als um die Aufteilung Afrikas gehen.“

https://www.deutschlandfunkkultur.de/debatte-um-denkmaeler-wie-bismarck-dekolonisieren-100.html

 

Otto von Bismarck war gegen Kolonialismus und bei der „von ihm einberufenen Kongo-Konferenz“ ging es nicht um die Aufteilung Afrikas, schon gar nicht ganz Afrikas.

 

3. Umbenennung des „Bismarck-Saals“ im Auswärtigen Amt

Gunnar Schupelius und Filipp Piatov: „Es war ein berühmter Saal im Auswärtigen Amt, benannt nach dem Gründer des Ministeriums und einer wichtigen Persönlichkeit der deutschen Geschichte: Otto von Bismarck (1815–1898).

Jetzt ist das Bismarck-Zimmer Geschichte. Annalena Baerbock (41, Grüne) hat den Saal nach nicht einmal einem Jahr im Amt umbenannt, das Porträt des einstigen Reichskanzlers abgehängt. Die konkreten Gründe der Entscheidung? Darüber schweigt die Außenministerin.

Das Bismarck-Zimmer heißt nun „Saal der Deutschen Einheit“. Auf BILD-Anfrage hieß es aus der Pressestelle des Auswärtigen Amtes schmallippig: Der neue Name trage „der historischen Entwicklung des Raums Rechnung, in dem zu DDR-Zeiten das Politbüro der SED tagte“.

2015 erklärte der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier (66) vor neugierigen Schülern, welch wichtige Bedeutung das Bismarck-Zimmer habe. Der einstige Reichskanzler sei keineswegs „das Vorbild unserer Außenpolitik“. Der Raum diene der Traditionspflege: Bismarck sei „der Gründer des Auswärtigen Amtes, und diese Tradition wird mit dem Bild gepflegt“, so Steinmeier. „Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“

Davon wollte Baerbock offenbar nichts mehr wissen. Aus dem Auswärtigen Amt hieß es auf BILD-Anfrage, dass „bereits 2018“ über eine Umbenennung nachgedacht wurde. Später habe man diesen „Prozess wieder aufgenommen“.

Ein Jahr nach dem ersten Nachdenken, im September 2019, gab die damalige Staatsministerin Michelle Müntefering (42, SPD) erstmals einen Empfang nur für Frauen im Auswärtigen Amt. Dabei erklärte sie, die Macht der Männer in der deutschen Diplomatie müsse gebrochen werden, und beschwerte sich, dass „der Flur der Leitungsebene“ fast ausschließlich mit Bildern von Männern „gespickt“ sei. Auch das Bismarck-Zimmer erwähnte sie als Ärgernis und sagte, es sei „noch eine ganze Menge zu tun“.

Musste Bismarck also weichen, weil er ein Mann war? Dazu wollte sich das Auswärtige Amt trotz wiederholter Nachfrage nicht äußern.

Otto von Bismarck selbst war es, der das Auswärtige Amt gründete – am 8. Januar 1870, erst als Außenamt des Norddeutschen Bundes, dann des Deutschen Reiches. Der legendäre Kanzler und Reichskanzler leitete dieses Amt selbst, er war der erste gesamtdeutsche Außenminister, der Vorfahre aller deutschen Diplomaten bis heute. Das Diplomatische Corps pflegt seine Tradition seit Bismarck besonders sorgfältig, deshalb wurde der ursprüngliche Name „Auswärtiges Amt“ bis heute beibehalten und bewusst nie in „Außenministerium“ geändert.

CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt (59) kritisiert die unbegründete Umbenennung als „geschichtsvergessen, wie so vieles im Kampf der Grünen gegen alles, was nicht zum eigenen Weltbild passt“.

Hardt zu BILD: „Die deutsche Diplomatie täte gut daran, reflektiert auf ihr Erbe zu schauen, statt die Vergangenheit auszublenden. Die Person Bismarck und sein Wirken sind heutzutage natürlich differenziert zu betrachten, seine historische Bedeutung für Deutschland und gerade die Einheit unseres Vaterlands ist aber unbestreitbar.“

Sein Fazit: „Deshalb halte ich die Umbenennung des Bismarck-Zimmers - zumal ohne Diskussion in der Belegschaft - für falsch."

Am Dienstagabend legte das Auswärtige Amt auf BILD-Anfrage schließlich nach: Die Umbenennung „trägt der Tatsache Rechnung, dass das Auswärtige Amt seine Traditionslinie maßgeblich in der demokratischen Geschichte Deutschlands verankert sieht“. Bei jüngst benannten Räumen handele es sich um Vertreter der Bundesrepublik, der Weimarer Republik sowie um Angehörige des Widerstands gegen das NS-Regime.“

https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/annalena-baerbock-laesst-bismarck-zimmer-umbenennen-82170068.bild.html

 

Gunnar Schupelius: „Jetzt erheben die Nachfahren schwere Vorwürfe gegen Außenministerin Annalena Baerbock. „Wir, die Bismarck Familie, sind entsetzt und unsagbar traurig, dass mit unserer eigenen Geschichte und mit unserem eigenen Land so umgegangen wird. So schreibt Alexander von Bismarck in einer öffentlichen Erklärung. Er leitet den Verein „v. Bismarck’scher Familienverband“, der die Erinnerung an den berühmten Vorfahren und vieler anderer prominenter Familienmitglieder wachhält.

Alexander von Bismarck wirft Baerbock vor, sie habe „kein Geschichtsbewusstsein“. Sie sei eine „moralisierende Außenministerin“ und habe als solche „ihr Amt verfehlt“. Sie „verdreht die Geschichte“, sagte Bismarck, wenn sie das Zimmer umbenennen lasse, sogar das Portrait des Reichskanzlers sei abgehängt worden. „Jede Persönlichkeit der Vergangenheit“ müsse in ihrer „jeweiligen Situation betrachtet und bewertet werden“ …

Für die Umbenennung hatten Mitarbeiter des Ministeriums votiert. Sie argumentierten, Otto von Bismarck sei kein Demokrat gewesen, habe den Kolonialismus gefördert und die Rechte der Frauen missachtet.“

https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/weil-sie-seinen-namen-tilgt-bismarck-familie-geht-auf-baerbock-los-82272938.bild.html

 

Da die genannten Begründungen schlichtweg absurd sind, gibt es möglicherweise einen weiteren Grund: der derzeitigen Politiker-Kaste passt die Außenpolitik Bismarcks nicht: der wollte Frieden mit Russland und überhaupt eine friedliche und defensive Außenpolitik.

Die derzeitige deutsche Politik, vor allem die im Auswärtigen Amt, ist entweder dumm oder bösartig. Oder beides.

 

Bismarck – eine Karriere

 

Stationen

 

- 1815 Geburt

- 1847 Abgeordneter im Preußischen Landtag

- 1851 Preußischer Bundesgesandter in Frankfurt

- 1859 Preußischer Gesandter am russischen Hof in St. Petersburg

- 1862 Preußischer Gesandter in Paris

- 1862 Preußischer Ministerpräsident, später Kanzler des Norddeutschen Bundes und Reichskanzler

- 1890 Entlassung durch Kaiser Wilhelm II.

- 1898 Tod

 

Junge Jahre

 

Im Ruhestand zum Journalisten Anton Memminger: „Bismarck zeigte wegen der früheren Inhaftierung Memmingers wegen Körperverletzung nicht die geringsten Berührungsängste, ganz im Gegenteil: „Nun ja“, soll er gesagt haben, „daß Sie öfter gebrummt haben, schadet Ihnen in meinen Augen gar nicht, ich habe auch brummen müssen, wenn auch nicht so schlimm wie Sie. Ein schlechter Wein das, der nicht gärender Most war …“ und „selbst das Einsperren gehört zur politischen Erziehung“.“

„Wenn damals, wie vielfach bezeugt, Lord Byron sein Lieblingsdichter war, so hat ihn wahrscheinlich dessen leidenschaftlicher Unabhängigkeitssinn und weltschmerzlicher Protest gegen Heuchelei und Arroganz berührt …“

 

Lassen wir mal die wilden Jahre in jungem Alter beiseite - für seine spätere Politik spielen sie keine Rolle. Genauso wenig wie seine politische Grundeinstellung (konservativ bis sehr konservativ). Er hätte genauso gut Linksextremist sein können - Otto von Bismarck war Realpolitiker in Perfektion, den Ideologie nicht interessierte.

 

Anfänge

 

„Im Allgemeinen wird der Beginn von Bismarcks politischer Tätigkeit auf Mai 1847 datiert, als er Abgeordneter im Vereinigten Landtag wurde …

So bezeichnete Bismarck selbst unmissverständlich das Sprungbrett seiner politischen Karriere: die ständische Verbindung. Sie bringt ihn im Mai 1847 schließlich auf die politische Bühne, ein Resultat langwirkender Betätigung, umsichtiger Vorbereitungs- und Sondierungsarbeiten - zumindest von Frühjahr 1846 an.“

 

Krimkrieg

 

„Im Juli 1853 brach zwischen Russland und der Türkei ein Krieg aus …

Hinter der schwachen Türkei standen England und Frankreich, die Russland im März 1854 den Krieg erklärten. Die Politik der beiden Westmächte, die selbst einander misstrauten und sich überwachten, war das Ergebnis geheimer und offener Auseinandersetzungen innerhalb der verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klassen und regierenden Cliquen; sie stimmen jedoch darin überein, dass die Abwehr der zaristischen Aspirationen die beste Sicherung ihres eigenen Expansionismus sei. Marx und Engels enthüllten in ihren zahlreichen Artikeln die Heuchelei Englands und Frankreichs, die ihren „lokalen Krieg um lokaler Ziele“ willen zu einem Kampf der Freiheit gegen die Despotie propagandistisch aufmutzten. In Wirklichkeit wollten sie den Zarismus nur eindämmen, nicht vernichten.

Österreich und Preußen waren vor die Frage gestellt, wie sie sich in dem Konflikt verhalten sollten. Bisher waren sie mit Russland zusammengegangen. In Österreich trat jedoch eine einflussreiche Gruppe von gemäßigten Konservativen für ein Bündnis mit den Westmächten ein. Die österreichische Großbourgeoisie wollte sich auf dem Balkan feste Absatzmärkte sichern und die Donauschifffahrt in ihre Hand bekommen. Solche Bestrebungen kollidierten mit dem Vordringen Russlands auf dem Balkan …

Obwohl Österreich formal neutral blieb, griff es - im Unterschied zu Preußen – in den Kampf insofern ein, als es durch eine energische Aufforderung, das heißt im diplomatischen Sprachgebrauch durch eine Sommation, Russland zwang, die Donaufürstentümer, also einen Teil des heutigen Rumänien, zu räumen, schließlich selbst dort einrückte und die Kriegsrüstungen trotz seiner finanziellen Misere erhöhte. Dadurch fesselte es einen bedeutenden Teil der russischen Streitkräfte und erleichterte den Angriff der Westmächte auf Sewastopol. Kein Wunder, dass der Zar aufgebracht in einer Audienz mit dem österreichischen Gesandten das Vertrauen zwischen den beiden Monarchien für unwiederbringlich zerstört erklärte. Preußen, in dem die strikte Neutralitätspolitik die Oberhand gewann, wie auch die Mittel- und Kleinstaaten blieben auf der Hut; sie wollten von Österreich in keinen Krieg hineingezogen werden. Ihre Interessen und Sorgen richteten sich nicht auf die Donau, sondern auf den Rhein …

Für Bismarck war russlandfreundliche Politik kein Glaubenssatz, sondern das Ergebnis interessengebundener Realpolitik, die mehr und mehr in eine politische Gesamtkonzeption integriert wurde. In klarer Einschätzung der wirtschaftlichen Schwäche Österreichs hatte er bereits im Februar davor gewarnt, dass Berlin seine „schmucke und seefeste Fregatte an das wurmstichige alte Orlogschiff von Östreich“ koppelte …

Wiens Feindschaft zum Zarismus ließ sich nicht mehr zügeln. Es kam zum Bruch der Heiligen Allianz, der sich erweiterte, als Österreich am 2. Dezember ein Schutz- und Trutzbündnis mit den kriegführenden Mächten Frankreich und England abschloss. Aber das war für Preußen und die deutschen Mittel- und Kleinstaaten dann doch zu viel. Hier verweigerten sie die Gefolgschaft, und nur dies hielt Österreich davon ab, Russland mit Krieg zu überziehen, denn es war dazu schon finanziell im Alleingang gar nicht in der Lage. Freiherr Karl Ludwig von Bruck rief damals auf einem Bankett aus: „Gott erhalte die österreichische Armee, ich, der Finanzminister, kann‘s nicht mehr.“

Der Stolz des alten Kaiserstaates ließ jedoch nicht zu, dass man allzu rasch auf halbem Wege stehen blieb. Im Januar 1855 stellte Österreich in Frankfurt den Antrag auf Mobilmachung der halben Bundesstreitkräfte … Österreichs tiefere Absicht, den Deutschen Bund besitzergreifend zu umarmen und militärisch gegen Osten zu orientieren, war damit gescheitert. Dafür hatte sich Bismarck in Wien wie auch in Paris so verhasst gemacht, dass Manteuffel, sein Chef in Berlin, ihn gegen französische Beschwerden in Schutz nehmen musste.

Dennoch: der preußische Gesandte hatte sein diplomatisches Meisterwerk abgelegt; seine Lehrlings- und Gesellenzeit war vorüber … In diesem Zusammenspiel mit den Mittel- und Kleinstaaten gegen die habsburgische Vormacht hatte Bismarck die ersten großen, von Freund und Feind anerkannten Erfolge seiner diplomatischen Laufbahn errungen. Er lieferte Kabinettstücke seines politischen Raffinements, indem er sich seiner lebendigen Anschauung von Personen und Verhältnissen bediente, seiner präzisen Beobachtungsgabe, mitunter auch des geschickten Experimentierens mit den politischen Möglichkeiten …

Mit dem Pariser Frieden wurde Frankreich für etwa ein Jahrzehnt zur ersten Macht auf dem europäischen Kontinent. Die Solidarität der Mächte der Heiligen Allianz war zu Ende, was wiederum auch Preußen zwang, eine politische Neuorientierung zu suchen. Der Gegensatz zwischen Russland und Österreich in der Balkanfrage ließ sich nicht mehr überbrücken, sondern vertiefte sich in der Folgezeit immer mehr.“

 

Österreichische Verluste in Italien

 

„Die Dynastie des Königreichs Sardinien-Piemont verstand es, die nationale Befreiungs- und Einheitsbewegung zur Ausdehnung ihrer Herrschaft möglichst über ganz Italien auszunutzen. Napoleon und der piemontesische Ministerpräsident Cavour kamen überein, dass Italien bis zur Adria von der habsburgischen Herrschaft befreit und Sardinien-Piemont durch die österreichischen Provinzen in Oberitalien und die kirchenstaatliche Provinz Emilia zum Königreich Oberitalien vergrößert werden solle. Napoleon hingegen bedingte sich als Gegengabe die Annexion von Nizza und Savoyen aus …

Siegte Napoleon in der bevorstehenden Auseinandersetzung mit Österreich, so musste sich seine Position festigen und damit auch seine Annexionslust gegenüber den deutschen Rheinlanden größer werden. Dann wuchs die Gefahr für die nationale Integrität und Sicherheit Deutschlands, für sein Streben nach Einigung und Unabhängigkeit. Die Deutschen standen somit vor der Frage, ob sie sich in diesem oberitalienischen Konflikt neutral verhalten können. Die Antwort war für den demokratisch gesinnten Teil der Bevölkerung äußerst schwierig; denn Deutschland schien in einem Krieg gegen Napoleon zugleich die österreichische Fremdherrschaft in Italien zu verteidigen.

Diejenigen Publizisten und Parlamentarier, die in den verschiedenen Parteien und Ländern Deutschlands die rechtzeitige Abwehr des in Richtung Rhein zielenden napoleonischen Expansionsdrangs forderten, waren in der Mehrheit - so unterschiedlich ihre Motivierung auch sonst war …

Wie sich die deutschen Staaten auch verhalten mochten, der Eintritt in einen antibonapartistischen Krieg war vor allem von Preußen abhängig. Weit davon entfernt, sich zum Anwalt der nationalen Sache zu machen, ließ sich die preußische Regierung jedoch einerseits von ihrem Gegensatz zu Österreich und andererseits von der Furcht vor Russland, das Napoleon im geheimen unterstützte, zu einer Politik schwankender Neutralität bestimmen …

Anders als in Preußen ließen sich große Teile des süddeutschen Besitz- und Bildungsbürgertums von der österreichischen Politik beeinflussen, deren zentrales Presseorgan die Augsburger „Allgemeine Zeitung“ war. Diese versuchte das grundsätzliche Festhalten an den oberitalienischen Provinzen unter der Devise „Der Rhein muss am Po verteidigt werden“ als notwendig darzustellen. Mit diesem Schlagwort näherte sich das Bürgertum Süddeutschlands unwillkürlich den Positionen von Adel und Klerus. Der politische Katholizismus, vor allem in Bayern, wollte in Österreich nichts anderes als die katholische Vormacht mit ihrer hegemonialen Stellung in Italien und die Schutzmacht des süddeutschen Partikularismus verteidigen …

Österreich hatte inzwischen militärische Niederlagen erlitten, die ebenso blamabel für die habsburgische Führung wie mörderisch für die Truppen waren. Das Frohlocken darüber und gleichzeitige Verherrlichen der französischen Armee nahm „in allen Ständen“ Russlands solche Formen an, dass dies sogar für Bismarck zuviel wurde. Die beiden Hauptschlachten bei Magenta am 4. Juni und bei Solferino am 24. Juni - brachten entsetzte Verluste auf beiden Seiten …

Am 11. Juli 1859 kamen Kaiser Franz Joseph und Napoleon III. in Villafranca zusammen und schlossen jenen Vorfrieden ab, der am 10. November 1859 in Zürich zumindest in einer wesentlichen Bestimmung bestätigt werden sollte. Österreich musste die Lombardei an Frankreich abtreten, das diese Provinz mit ihrer Hauptstadt Mailand seinem Verbündeten überließ. Somit schob Sardinien seine Ostgrenze bis an den strategisch wichtigen Mincio vor. 1860 heimste Napoleon dafür die beiden italienischen Provinzen Nizza und Savoyen ein.“

 

Krieg um Schleswig-Holstein

 

„Die internationalen Spannungen nach dem Ausbruch des polnischen Aufstandes schienen Dänemark besonders günstig, um eigene Pläne zu verwirklichen. Am 30. März 1863 erließ der dänische König eine neue verfassungsrechtliche Verlautbarung für Holstein, die dessen besondere Verbindungen mit Schleswig endgültig abschneiden sollte; gleichfalls im Widerspruch zu den Londoner Protokollen von 1850 und 1852 verweigerte Dänemark Holstein immer noch die volle Autonomie. Das alles waren offenkundig Maßnahmen, um die beiden Herzogtümer als dänische Provinzen der Gesamtmonarchie einzuverleiben. Diese Wünsche konnten möglicherweise realisiert werden, als im November 1863 nach dem Tod des kinderlosen Königs in Kopenhagen die vom zweiten Londoner Protokoll festgelegte Thronfolge eintrat. Danach war zugunsten einer einheitlichen, für die Gesamtmonarchie gültigen Erbfolgeordnung eine besondere Thronfolge in den Herzogtümern beseitigt. Jetzt wurde für Deutschland die Gefahr, Schleswig-Holstein endgültig zu verlieren, groß und entschiedenes Handeln unausweichlich.

Überall entstanden Schleswig-Holstein-Vereine, die die Unabhängigkeit der beiden Provinzen von Dänemark forderten. Große Volksversammlungen fanden statt, in denen zu Geldsammlungen und zur Bildung von Freiwilligenverbänden aufgerufen wurde. In der Tat zeichneten sich viele junge Männer, vor allem Turner, in die ausliegenden Freiwilligenlisten für eine schleswig-holsteinische Armee ein. Auch in Schleswig-Holstein selbst wuchs nach dem Tod des dänischen Königs die nationale Befreiungsbewegung mächtig an. Fast alle Beamten versagten dem neuen König die Eidesleistung; schleswig-holsteinische Soldaten in der dänischen Armee begannen den Gehorsam zu verweigern.

Die mittel- und kleinstaatlichen Fürsten setzten in die Volksbewegung die Hoffnung, dass unter dem fürstlichen Geschlecht der Augustenburger ein neuer, gegen Preußen gerichteter Mittelstaat Schleswig-Holstein entstehen könne. Der Sohn des Herzogs von Augustenburg hatte sich nämlich in diesem Monat nationalen Aufruhrs zu Wort gemeldet und erklärt, den Thronverzicht seines Vaters von 1852 niemals anerkannt zu haben und nun rechtmäßiger Herzog von Schleswig-Holstein zu sein.

Auch das Bürgertum unterstützte diese Ansprüche. Die deutschen Länder schien eine seltene Eintracht patriotischer Begeisterung zu durchwehen, vom einfachen Mann auf der Straße bis in die Salons der fürstlichen Schlösser. Die große Stunde war gekommen, doch nur Festredner, Aufmarschenthusiasten und Geldsammler verstanden sie zu nutzen. Wie der badische Demokrat Ludwig Eckardt nachbetrachtend schrieb, machten die Liberalen „eine Frage des Schwertes zu einer des Klingelbeutels“. Sie drückten alles auf das kleinstaatliche Mittelmaß herab. Schon aus Furcht, die Fürsten könnten erschreckt werden, bremsten die Liberalen die Wehrbewegung; wenn schon Freiwilligenformationen nicht zu verhindern waren, dann sollten Sie sich nicht zu gleichsam garibaldischen Freischärlern entwickeln, sondern sich in den Dienst des Augustenburgers stellen.

Mit einer Stimme Mehrheit beschloss der Bundestag am 7. Dezember 1863 die Bundesexekution, um Dänemark zur Einhaltung der Verträge von 1851/52 zu zwingen, und nahm damit unausgesprochen Stellung gegen den Augustenburger, denn die Bundesexekution setze die Anerkennung des Londoner Protokolls und damit auch des neuen dänischen Königs und der Gesamtmonarchie voraus. Den Massen ging es jedoch nicht um die Einhaltung der im Grunde deutschfeindlichen Vertragswerke, sondern um deren Beseitigung; niemals hatten sie sie anerkannt, nun erwarteten sie keine Sühnemaßnahme wegen Vertragsverletzungen, sondern die Befreiung der Herzogtümer.

Ende Dezember 1863 wurde auf einem Abgeordnetentag in Frankfurt am Main ein Ausschuss – vornehmlich aus Liberalen – gebildet. Er war als ein „Mittelpunkt der gesetzlichen Tätigkeit der deutschen Nation für Durchführung der Rechte der Herzogtümer Schleswig-Holstein und ihres rechtmäßigen Herzogs Friedrich VIII.“ gedacht. Die Demokraten radikalisierten sich bei der Gewinnung eigenständiger Positionen gegenüber den Liberalen zu einer Zeit, als der Höhepunkt der Schleswig-Holstein-Bewegung schon überschritten war und das Eingreifen der beiden deutschen Großmächte gegen Dänemark jegliche Aktion nationalrevolutionärer Freiwilligenformationen illusorisch machte.

Trotz solcher Schwächen und verpasster Gelegenheiten entwickelte die Volksbewegung um die Jahreswende 1863/64 höhere Formen als die im Jahre 1859 während der oberitalienischen Krise. 1859 stand der publizistische Kampf in Zeitungen und Flugschriften im Vordergrund; Ende 1863 gab es dagegen unzählige Volksversammlungen, Komitees, Freiwilligenformationen und sogar Wehrübungen. Es zeigte sich, dass die politische Organisierung vielschichtiger und umfassender geworden war, angefangen vom bürgerlich-liberalen Nationalverein über die Turn-, Schützen- und Sängervereine bis zu Arbeiterorganisationen.

Angesichts dieser politischen Bewegung stand Bismarck - auch im weiteren europäischen Rahmen gesehen – vor folgender Entscheidung: entweder Preußen an die Spitze der nationalen Bewegung zu stellen oder eine „waffenmäßige Großmachtpolitik“ zu betreiben. Im ersten Fall wäre er Gefahr gelaufen, vom Liberalismus abhängig zu werden, und zwar umso stärker, je mehr sich die europäischen Mächte gegen Preußen zusammengetan hätten. Im zweiten Fall musste er sich auf die Kraft des preußischen Heeres verlassen und versuchen, die großen Mächte auseinander zu manövrieren …

Am 1. Februar begann der preußisch-österreichische Krieg gegen Dänemark; am 18. April erstürmten preußische Truppen die Düppeler Schanzen; im Frühsommer suchten die europäischen Mächte auf der Londoner Konferenz erfolglos nach einem Kompromiss. Jetzt erst sagten sich Preußen und Österreich endlich vom umstrittenen Londoner Protokoll von 1852 los. Schließlich wurden die Kampfhandlungen wieder aufgenommen und führten zum Sieg über Dänemark. Im Frieden von Wien am 30. Oktober 1864 musste Dänemark Schleswig-Holstein und Lauenburg an Österreich und Preußen abtreten, die diese Länder, ohne die Augustenburgischen Erbansprüche anzuerkennen, provisorisch gemeinsam in Besitz nahmen.

Es war ihm in der Tat gelungen, die Entente mit Russland zu festigen und in der schleswig-holsteinischen Frage eine solche diabolische Kombination zustande zu bringen, die den strategischen Gegner Österreich vorübergehend zum taktischen Verbündeten machte. Mit Frankreich pflegte er passable Beziehungen, bei denen es ihm unter anderem darum ging, „dieselben gegen die dänenfreundlichen Tendenzen Englands nach Möglichkeit zu utilisieren“. So nährte Bismarck die französischen Hoffnungen auf eine Entschädigung durch linksrheinische Gebiete. Schließlich glückte es ihm, Dänemark in einem dynastischen Krieg beide Herzogtümer zu entreißen und eine solche Verwaltungskombination zu schaffen, die ihm zu jeder beliebigen Zeit die Möglichkeit zu weitertreibenden Konfliktsituationen mit Österreich bot."

 

Entwicklungen im Bürgertum

 

„Etwa eine Woche nach Villafranca, am 17. Juli 1859, kamen ehemalige Demokraten der Frankfurter und Berliner Nationalversammlung - die meisten aus den thüringischen Staaten, wenige aus Preußen - in Eisenach und zwei Tage später Liberale - vorwiegend aus norddeutschen Klein- und Mittelstaaten - in Hannover zusammen, um über Weg und Ziel in der nationalen Frage zu beraten und Beschlüsse zu fassen. Der führende Kopf in Eisenach war Schulze-Delitzsch, einer der Begründer der Genossenschaftsbewegung, in Hannover war es Rudolf von Bennigsen, der dort 1856 sein Richteramt aufgegeben hatte und in der Zweiten Kammer des Landtags Führer der liberalen Opposition geworden war.

Die Resolution von Eisenach enthielt zwei Grundforderungen: Anstelle des Deutschen Bundestags sollte eine feste, starke und bleibende Zentralregierung treten; ferner wollte man die Einberufung einer deutschen Nationalversammlung, wobei Preußen die Initiative ergreifen sollte. Auf die Präzisierung der parlamentarischen Rechte verzichteten die in Eisenach versammelten Linksliberalen. Sie verlangten auch nicht ausdrücklich die Hegemonie Preußens und den Ausschluss Österreichs aus dem künftigen deutschen Nationalstaat, aber sie zielten indirekt darauf hin mit der Forderung, „bis zur definitiven Konstituierung der deutschen Zentralregierung die Leitung der deutschen Militärkräfte und die diplomatische Vertretung nach außen auf Preußen“ zu übertragen. Mit diesen Deklarationen näherten sich die ehemaligen Demokraten der Position der Liberalen.

Die Liberalen hingegen hielten es, ähnlich wie manche Minister und Diplomaten konservativer Großmächte für notwendig, mit warnendem Unterton auf die Alternative zwischen einer Revolution von unten und der von oben hinzuweisen. Solange das deutsche Volk, so hieß es in der hannoverschen Erklärung, „nicht allein von einer revolutionären Erhebung Rettung vor inneren und äußeren Gefahren sucht, ist der natürlichste Weg, daß eine der beiden großen deutschen Regierungen die Reform unserer Bundesverfassungen ins Leben zu führen unternimmt. Österreich ist dazu außerstande. Seine Interessen sind keine rein deutschen, können es auch niemals werden.“ Bei aller Mahnung, Preußen möge keine reinen Großmachtinteressen verfolgen, war es in der Erklärung von Hannover deutlich ausgesprochen: „Die Ziele der preußischen Politik fallen mit denen Deutschlands im wesentlichen zusammen.“

Die nationalpolitische Auffassung der liberalen Bourgeoisie war im preußisch-deutschen Zollverein begründet. Preußen sollte dieses Gebiet auch politisch einigen, um alle noch vorhandenen wirtschafts- und nationalpolitischen Hindernisse für die Entwicklung des kapitalistischen Marktes zu beseitigen und auch nach außen hin staatlichen Schutz zu gewährleisten. Ende der 1850er Jahre forderten die Liberalen, motiviert von der weiteren ökonomischen Entwicklung, nationale Einigung von oben, Gewerbefreiheit, einen bürgerlichen Rechtsstaat mit klar formulierten Gesetzen, nach denen sich der Geschäfte treibende Unternehmer im Alltag richten konnte -  aber die großen, bewegenden Freiheits- und Humanitätsideale des 18. Jahrhunderts gaben sie auf.

Es entstand nun ein spannungsvolles Verhältnis der bürgerlichen Liberalen, die sich mit der antiliberalen Monarchie verständigen wollten, zu den Massen. Diese waren als stimmabgebender, mitunter auch protestierender Chor der öffentlichen Meinung sehr willkommen, da auf diese Weise die preußische Monarchie zu liberalen Zugeständnissen und zu nationaler Initiative gedrängt werden konnte. Gern fühlten sich viele bürgerliche Politiker als linksliberale „Volksmänner“ und Sprecher des Fortschritts - besonders dann, wenn sie in Wahlversammlungen und bei Volksfesten auftraten. Sobald sich aber die Massen anschickten, den bürgerlichen Fortschritt durch außerparlamentarische Aktionen durchzusetzen, war man schnell dabei, abzuwiegeln und das Volk - um mit Heinrich Heine zu reden - als den großen Lümmel zu behandeln. Aus dem misstrauischen Unbehagen dieser bürgerlichen Politiker gegenüber den Massen, die bei selbstbewusstem Einsatz ihrer revolutionären Potenzen zu viele Rechte und zu viel Macht erringen könnten, erwuchs mehr und mehr die Sehnsucht nach dem „großen Mann“, der das Werk der bürgerlichen Umgestaltung und der nationalstaatlichen Einigung vollbringen sollte

Mochten die Repressionsmaßnahmen und -versuche Bismarcks in vielem junkerlicher Restaurationspolitik ähneln, so lagen die Dinge doch anders. Wenn er nämlich alle Pläne der sogenannten Staatsstreichpartei um Edwin von Manteuffel, den Chef des Militärkabinetts, ablehnte, so ging es ihm nicht darum, die bestehende Verfassung abzuschaffen, sondern für seine Machtstellung auszunutzen. Er wollte nicht den offenen, sondern den verhüllten Staatsstreich, denn die gänzliche Abschaffung der Verfassung, die Manteuffel anstrebte, hätte die ausschließliche Diktatur einer Militär- und Adelskaste herbeigeführt. Bismarck dagegen wollte - und musste - den Liberalismus, zumindest seinen großbourgeoisen Flügel, in seine politischen Kombinationen einbeziehen. Nur so wird verständlich, warum er in den Debatten des Abgeordnetenhauses immer wieder staatsrechtliche Fragen erörterte und schon in Babelsberg die Auffassung vertrat, es ginge in dem Konflikt nicht um die Alternative konservativ oder liberal.

Die List der Geschichte war aber stärker als sein Wollen. Das hatte Bismarck bereits im November 1860 erkannt, als er in Auerswald schrieb, „daß der beste menschliche Wille nichts vermag gegen die Witterungsverhältnisse des politischen Horizontes“. Der Weg ging in die preußische Form des Bonapartismus, der sich zwar stets auf das Heer, das heißt auf junkerliche Beamte und Militärs stützte, aber möglichst die Interessen aller Besitzenden vertreten wollte. Hier drängen sich einige über die Parlamentsarbeit hinausgehende Fragen auf. Wie stand es denn tatsächlich mit den Machtansprüchen des Besitz- und Bildungsbürgertums? Über welche Machtmittel verfügte es, und wie gebrauchte es sie?

Der Liberalismus des Bürgertums war vielfältig; er reichte vom ökonomischen Pragmatismus bis zu ideologischen Doktrinen. Kompromissbereitschaft der Liberalen gegenüber den Dynastien und Misstrauen gegenüber den Massen waren schon seit langem deutlich geworden. Die ökonomische Macht des Bürgertums zeigte sich auch in gesellschaftlichen und politischen Organisationen, die rasche Fortschritte machten. Da waren: der „Kongreß deutscher Volkswirte“, der alljährlich tagte und unter dem Zeichen von Freihandel und Gewerbefreiheit stand; der preußische und dann „Deutsche Handelstag“, der mehrere hundert verschiedene wirtschaftliche Interessenvertretungen unternehmerischer Gruppen, unter ihnen regionale und lokale Industrie- und Handelskammern, vereinigte, schließlich der „Verein für bergbauliche Interessen“. Darüber hinaus war das Bürgertum politisch in liberalen Parteien und Fraktionen organisiert. Sie konnten sich auf weitverbreitete Turn-, Gesang- und Schützenvereine sowie Wahlkomitees stützen. Der Nationalverein, der das nationalpolitische Programm vornehmlich der mittleren Unternehmer und der Intellektuellen vertrat, war eine Honoratiorenorganisation, die bewusst Arbeiter und Studenten von sich fernhielt. Die liberale Presse erschien täglich in einer Auflage, die die konservative um das Fünffache übertraf, nämlich mit 250.000 Exemplaren gegenüber 45.000, was die Proportionen der Anhängerschaften deutlich machte und damit die allgemeine Stimmung.

Seit der „Neuen Aera“ gründeten Arbeiter wie auch Bürger Arbeiterbildungsvereine, die unabhängig etwa vom Nationalverein aus eigener Initiative handelten. Solche Vereine als politische Kraft zu nutzen, lag den Liberalen ebenso fern wie eine bürgerlich-demokratische Revolution. Das Bürgertum wollte eine nationalstaatliche Einigung unter der Führung Preußens, eines „liberalen wo möglich, eines wie immer beschaffenen im Notfall“, wie Friedrich Engels später präzis formulierte. Daher ging es beim Heeres- und Verfassungskonflikt letztlich um Charakter und Ausmaß des Kompromisses. Wichtige wirtschaftspolitische Konzessionen waren den Industriellen schon im Sommer 1862, also noch vor dem Machtantritt Bismarcks, gemacht worden. Damals wurde der Freihandelsvertrag Preußens mit Frankreich abgeschlossen und damit der Zollverein endgültig preußischer Führung unterstellt.

Als Bismarck an die Macht kam, fühlte er die von seinen Vorgängern eingeleitete Wirtschafts- und Handelspolitik nahtlos als einen wichtigen Teil seiner strategischen und taktischen Gesamtkonzeption weiter. Schon in den ersten Wochen seiner Ministerpräsidentschaft, im Oktober 1862, billigte der „Deutsche Handelstag“, allerdings gegen eine starke Minderheit, den Freihandelsvertrag Preußens mit Frankreich. Neben dem „Kongreß deutscher Volkswirte“ wurde auch der „Deutsche Handelstag“, in dem bislang starke schutzzöllnerische und österreichfreundliche Tendenzen vorherrschten, zum Bundesgenossen der preußischen Handelspolitik und damit auf einem wichtigen Teilgebiet zum Verbündeten Bismarcks.

Konnte der Ministerpräsident auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Handelspolitik frei und im Einklang mit den einflussreichen Kreisen der offiziellen Politik des preußischen Staates handeln, ohne den Zusammenhang mit seiner politischen Gesamtkonzeption zu offenbaren, so musste er Weg und Ziel seiner großpreußischen Politik vorläufig noch verbergen. Aber gerade das ließ bei den Liberalen kein rechtes Vertrauen aufkommen, dass die preußische Monarchie die ihr zugedachte nationalstaatliche Mission im Interesse des Bürgertums erfüllen werde.

Das Besitz- und Bildungsbürgertum, in seiner Mehrheit irgendeiner Form des Liberalismus zugetan, bewegte sich besonders in Preußen während des Heeres- und Verfassungskonflikts in inneren Widersprüchen: Einerseits trat es für das Her ein in der Hoffnung, dieses könne bei einer günstigen internationalen Konstellation die Hegemonie der hohenzollernschen Monarchie in Deutschland errichten, andererseits scheute es vor Gewalt zurück, nicht zuletzt aus Angst vor unübersehbaren Konflikten auf der internationalen Bühne. Es gab Liberale, die der Parole „Eisen und Blut“ diejenige von „Eisen und Kohle“ entgegensetzten. Diese seien die „bindenden Mittel, die ungenügenden Grenzen des preußischen Staates zu einen“.

Ein anderer Widerspruch im Liberalismus war, dass er das Volk in begrenztem Maß und mit ängstlichem Herzen als Druckmittel gegen die Dynastien und ihre Ministerien benutzte, aber gleichzeitig gegen die Revolution von unten war, also gegen die Gewalt der Volksmassen. Diesen Zwiespalt der Liberalen formulierte der schwäbische Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer ebenso übergescheit wie offenherzig Ende 1863 brieflich: „Wir setzen es nicht durch ohne etwas wie (!) Revolution … Wir gewinnen es, wenn wir den Grad von Bewegung zustande bringen, welcher auf die Machthaber den Eindruck eines Erdbebens macht. Dann bricht ihnen der Hosenbändel. Dieser Eindruck (!) wird nur hervorgebracht, wenn alles bebt, wenn man auf den Straßen steht, daß alles wuselt, und wenn dieses aufgeregte Ganze drohend aussieht (!), ohne doch Exzesse zu begehen; so wird das Medusengesicht zuwege gebracht, das versteinernd auf die Regierungen wirkt.“ Und in einer Nachschrift schrieb er noch deutlicher: „Nur irgend etwas Starkes, damit jetzt die Bewegung sich nicht an den halben Zusagen staut, aber auch, damit nicht die Viechkerle, die alles verderben, die roten Republikmacher über Nacht, uns die Sache mit Puschen ruinieren. In einer solchen energischen Szene (!) könnte ausdrücklich gesagt werden: man verlange rasches Handeln auch zur Verhütung von unbedachten Ausbrüchen der Volksstimmung.“

Mit diesem von Vischer anschaulich offenbarten Zwiespalt hing noch ein dritter Widerspruch im Liberalismus zusammen: Einerseits erhob er den Anspruch, im Interesse des ganzen Volkes zu handeln, andererseits war er außerstande, auch nur die Gegenwartsinteressen der Bauern und vor allem der Arbeiter konkret zu vertreten.

Schließlich sei noch ein vierter Widerspruch bei den Liberalen erwähnt: Sie standen in einem harten Kampf gegen das militaristische Gottesgnadentum der preußischen Monarchie, andererseits gaben sie vor, Partei ergreifen zu wollen zugunsten des Monarchen, gegen die Willkür der Regierung und gegen den Kastenegoismus der Junker. So war das Bürgertum genau das, was es Bismarck zu Unrecht vorwarf, nämlich politisch planlos. Überdies differenzierte es sich in wachsendem Maße, war stärker als je zuvor gespalten, einerseits in Ideologen und Politiker, die in Parlamenten, Zeitungsstuben und Versammlungen agierten, andererseits in geschäftstreibende Bourgeois, die in Fabriken und Handelskontoren wirkten. Diese aber nutzten den konjunkturellen Aufschwung der ersten Hälfte der 1860er Jahre und übten Druck auf ihre politischen Abgesandten aus, die auf liberale Forderungen zu starr oder zu lange verharrten.

Im Unterschied zu den 1840er Jahren engagierten sich die Repräsentanten der rheinischen Großbourgeoisie nicht mehr im Parlament, wie überhaupt in Preußen im Durchschnitt nur acht Prozent der Abgeordneten Kaufleute, Industrielle und Gewerbetreibende waren. Einer der Gegenspieler Bismarcks aus dem Jahr 1848, David Hansemann, warnte die preußische Regierung sogar davor, „sich auf dem Narrenschiff des Nationalvereinsprogramms auf das Meer der großen Politik“ zu wagen, weil diese Politik bei dem bestehenden Kräfteverhältnis unausweichlich zu einer Niederlage Preußens führen müsse. Da die Groß- und Mittelbürger erkannten, dass das Ziel der nationalstaatlichen Einigung ohne eine Revolution, und sei sie von oben, nicht zu erreichen wäre, wollten sie eine Politik der kleinen Schritte, möglichst in Gestalt wirtschaftlicher Reformen. Das Zurückweichen vor den Risiken jeglicher Revolution begründete David Hansemann mit realpolitischen Argumenten; Rudolf Virchow verbrämte das im Grunde genommen gleiche Zurückweichen in seiner Antwort auf die Eisen-und-Blut-Rede mit moralischer Empörung. So läuft vieles auf die Frage hinaus, ob Bismarck stark wurde, weil seine liberalen Gegner schwach waren oder, anders formuliert: Wie die Dinge bei einem entschiedenen liberalen Bürgertum gelaufen wären.

Auf der anderen Seite musste sich Bismarck im weiteren Verlauf des Konfliktes fragen, welche Basis seine Politik im Volk habe. Die Wahlen und viele andere Stimmungsbarometer zeigten ein beunruhigendes Tief; das konnten auch rabulistische Rechenexempel, die er im Abgeordnetenhaus anstellte, nicht verdecken. Im Bestreben, sich in den Massen ein Gegengewicht zum liberalen Bürgertum zu erhalten, nahm Bismarck im Frühsommer 1863 Kontakt mit Ferdinand Lasalle auf; dieser war im Begriff, den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zu gründen und ihm eine so einseitig antiliberale Ausrichtung zu geben, dass ein Bündnis mit einer liberalen Partei zumindest im Heeres- und Verfassungskonflikt ausgeschlossen war. Eine solche Taktik kam Bismarck gelegen und musste ihn an die 1850er Jahre erinnern, als der einseitige Kampf der Demokraten gegen die liberalen Gothaer der preußischen Regierung zugutegekommen war.

Die Gespräche mit Lasalle gingen um theoretische Gedanken über das soziale Königtum und um politische Erörterungen etwa über die Abschaffung der indirekten Steuern, von denen Bismarck zeitlebens nicht abzubringen war, dann in einem hohen Maß um das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht, das damals aktuell und für die nächsten Jahrzehnte - unabhängig von den Motiven seiner Einführung - für die Mobilisierung der Arbeiter und die politische Erziehung des Volkes höchst wirksam werden sollte.

Der Kern dieser Gespräche betraf die taktische Orientierung Bismarcks in seiner Innenpolitik, sein Bemühen, die Arbeiter und ihre Führer gegen die Bourgeoisie zum Zwecke seiner eigenen Herrschaft auszuspielen. Das wurde zwar im Jahre 1863 noch nicht wirksam, aber am Vorabend des Krieges mit Österreich 1866 und danach sollte dies doch politischen Nutzen haben. Damals bildeten sich im preußisch-deutschen Bonapartismus jene Züge heraus, die Karl Marx im Kaisertum Napoleons III. symbolhaft  erkannt hatte: „Der Staatsstreich als Geburtsschein, das allgemeine Stimmrecht als Beglaubigung und der Säbel als Zepter.“

 

„Nach Bismarcks politischen Erfolgen vom Sommer 1864 hatte sich die Bereitschaft der Liberalen verstärkt, sich mit ihm zu verständigen, was allerdings einer Unterordnung nahe kam. Das wurde in den Diskussionen um das sogenannte Selbstbestimmungsrecht der Schleswig-Holsteiner deutlich. Führende Mitglieder des „Kongresses deutscher Volkswirte“, auch rheinische Großbourgeois wollten die Liberalen zur inneren Logik ihrer Grundkonzeption von der Hegemonie Preußens zurückführen und darum die eroberten Provinzen in der einen oder anderen Form unter die Obhut Preußen bringen.

Wenn Wortführer des liberalen Bürgertums eine Versöhnung mit Bismarck anstrebten, dann ging es ihnen nicht in erster Linie darum, psychologische Schranken, die der immer noch schwebende Verfassungskonflikt aufgerichtet hatte, zu beseitigen; das Entscheidende war vielmehr die Klärung der politischen Grundfragen. Heinrich Treitschke zum Beispiel kam zur Überzeugung, dass Preußen nach der Einverleibung Schleswig-Holsteins gezwungen sein werde, deutsche Politik zu betreiben. Er erkannte die Alternative: entweder Volkserhebung gegen die Dynastien oder Vergrößerung Preußens.

Mochte auch das Besitz- und Bildungsbürgertum alles Revolutionär-Demokratische ablehnen, so musste es an dem Ziel festhalten, die kapitalistische Industrialisierung durchzusetzen und in einem Nationalstaat zu sichern."

 

„Demokratische Parteien bestanden vor allem in jenen Staaten, in denen Kleinbürgertum und Kleinbauerntum vorherrschten, in Württemberg, Baden, Hessen-Darmstadt und Thüringen. In Nieder- und Oberbayern dagegen hatten die katholischen Klerikalen nach wie vor großen Einfluss auf den Mittelstand. Wirtschaftspolitisch hatte das Kleinbürgertum nahezu die gleichen Interessen wie die Bourgeoisie. Darum verlangten alle demokratischen Programme dieser Zeit Gewerbefreiheit und Freizügigkeit wie auch unbeschränktes Niederlassungsrecht. Die meisten Demokraten traten für Freihandel ein. Die eigentlich politischen Forderungen nach Pressefreiheit, Vereins- und Versammlungsfreiheit, allgemeinem Wahlrecht und lokaler Selbstregierung stellten die demokratischen Kleinbürger energischer und umfassender als die liberalen Großbürger. Auch demokratische Persönlichkeiten und Presseorgane nahmen lebhaften Anteil an den ökonomischen und politischen Kämpfen der Arbeiter.

Der Prozess der Annäherung zwischen Arbeitern und Kleinbürgern wurde Anfang September 1865 auf dem Arbeitervereinstag in Stuttgart offenkundig. Die Arbeitervereinler beschlossen dort die Agitation für das allgemeine Wahlrecht und ließen am Ende der Tagung ein „freies demokratisches Deutschland“ hochleben. Mit dieser nationaldemokratischen Wendung wechselten sie von ihrer bisherigen Position des bürgerlichen Liberalismus, der am Dreiklassenwahlrecht und am Wunsch nach einem von Preußen geführten Klein-Deutschland festhielt, auf die Seite der kleinbürgerlichen Demokraten."

 

„Aus dem Parallelogramm der sich kreuzenden oder überlagernden Willensbestrebungen und -hemmungen der Liberalen entstand die Losung: Neutralität der Mittel- und Kleinstaaten im Kriege zwischen den beiden Großmächten. In einer auf dem liberalen Abgeordnetentag in Frankfurt am Main am 20. Mai beschlossenen Resolution leiteten die großen Worte gegen den Bruderkrieg nur dazu über, die Mittelstaaten von einem Zusammengehen mit Österreich abzuhalten. Mit gutem Grund konnte der liberale Publizist Wehrenpfennig Heinrich von Treitschke beruhigen: „Sie dürfen sich durch die Umhüllung des Ausschußantrags nicht irre machen lassen, der Kern - die Neutralität - war durchaus im preußischen Sinne gemeint.“ Die Neutralitätsforderung der Liberalen unterstützte indirekt Preußen. Sie war geeignet, teils die Mittelstaaten vom gemeinsamen Kampf mit Österreich abzuhalten, teils die latente Kampfkraft der Volksmassen in Reserve zu halten.

Wer aber sollte die von der Fortschrittspartei enttäuschten Arbeiter führen? Von allen besitzenden Klassen waren die konservativen Junker am wenigsten dazu geeignet. Bismarck war bei näherem Umsehen auf die Lasalleaner und auf einige mit diesen verbundene Demokraten angewiesen. Hatte er doch schon früh erkannt, dass diejenigen, die einen einseitigen Kampf gegen das Bürgertum führten, zu gegebener Zeit sehr wohl seine Verbündeten werden könnten. Al er schließlich Anfang 1866 in Geheimberichten erfuhr, dass sich der lasalleanische „Social-Demokrat“ in verzweifelten Geldschwierigkeiten fand, war es bei Bismarcks politischem Stil naheliegend, sich dieses Organ durch entsprechende Geldmittel zu verpflichten. In der Tat ist es erwiesen, dass Johann Baptist von Hofstetten, der Mitherausgeber und Mitbesitzer des „Social-Demokrat“ am 6. April 1866 von Bismarck ein unverzinsliches Darlehen von 2.500 Talern erhielt. Dies geschah in eben den Tagen, da Bismarck mit seinem Parlamentsantrag vor die Öffentlichkeit trat.

Johann Baptist von Schweitzer, Chefredakteur des „Social-Demokrat“ und führender Kopf der Lasalleaner, konnte bereits im Gefängnis, aus dem er bald entlassen wurde, seine mit äußerstem Geschick geschriebenen Artikel zugunsten Bismarcks verfassen. Die Quintessenz ihrer Demagogie lag in Folgendem: Die liberale Bourgeoisie sei „absolut unfähig“, und ihre „bodenlose Ohnmacht“ liege offen zutage. Natürlich war die Bourgeoisie keineswegs ohnmächtig, nicht einmal so schwach, dass Bismarck auf sie keine Rücksicht hätte nehmen müssen. Es war darum pure Großsprecherei, wenn Schweitzer wiederholt erklärte, dass Bismarcks Parlaments- und Wahlrechtsantrag (vor allem mit seinen antihabsburgischen und nationalpolitischen Zielstellungen) „eine Konzession nicht an die liberale Bourgeoisie“, sondern an den allgemeinen Deutschen Arbeiter-Verein gewesen sei - ausgerechnet an jenen ADAV, der eben mit nur knapper Not der inneren und äußeren Auflösung entging. Gerade weil Bismarck möglichst viele Gegengewichte zum Bürgertum brauchte, tat er das Seine, um den ADAV vor dem Untergang zu retten."

 

Krieg um die Vorherrschaft in Deutschland

 

Zollverein gegen Österreich

 

„Thuns Chef, Fürst Schwarzenberg, starb im April 1852 ganz unerwartet im Alter von 51 Jahren. Der draufgängerische Mann, der sich in Liebe und Politik überanstrengt hatte, war von der Vorstellung ausgegangen, die ökonomische Schwäche, die soziale Zurückgebliebenheit und nationale Zerrissenheit des Donaustaates, das Erbe von Jahrhunderten, ließe sich mit Härte und Umsicht in kurzer Zeit überwinden. Nach dem Sieg in Olmütz wollte er Preußen in politischen Verfolgungsgefechten zwingen, sein wichtigstes Machtgebilde in Deutschland, den Zollverein aufzugeben. Das aber konnte nicht gelingen, weil dessen Ersetzung durch eine mitteleuropäische Zoll-Union im Sinne Schwarzenbergs den Interessen der Klein- und Mittelstaaten widersprach. Preußen hielt an seinem Gegenvorschlag fest, der statt der Aufnahme Österreichs in den Zollverein einen Handelsvertrag vorsah. Dieser kam im Februar 1853 zustande mit einer Laufzeit von 12 Jahren und mit der Bestimmung, dass 1860 über eine Zolleinigung oder wenigstens weitere Zollannäherungen zu verhandeln sei. Im darauffolgenden April wurde der alte, um Hannover erweiterte Zollverein erneuert. Beide Vertragswerke waren ein voller Erfolg Preußens. Österreichs politisches Höhenstreben scheiterte an seiner ökonomischen Atemnot."

 

Fürchte die Danaer, auch wenn sie Olivenzweige bringen

 

„Bismarck kannte das preußische Königtum im Allgemeinen und König Wilhelm im Besonderen zu gut, um nicht zu wissen, dass er die im Letzten illegitimen Ziele und Mittel des bevorstehenden Kampfes gegen Österreich und einige der Mittel- und Kleinstaaten vorerst verbergen musste. Nur so konnte er den König für seine Absichten vorschieben und damit den Gegner täuschen. Doch diesem Vorsatz zuwider unterlief Bismarck ein denkwürdiges Missgeschick. In den ersten Tagen seiner Regierungszeit, am 30. September 1862, war er vor der Budgetkommission bemüht, dem Konflikt die Schärfe zu nehmen. Er wollte ihn nicht „zu tragisch aufgefaßt“ sehen und zeigte als Friedenszeichen einen in Avignon gepflückten Olivenzweig. Nach beschwichtigenden Worten und Gesten aber ließ er sich hinreißen, den Schleier über den Zielen und Methoden seiner Deutschlandpolitik allzu unbekümmert zu lüften: „Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht … Preußen muss seine Kraft zusammenfassen und zusammenhalten auf den günstigen Augenblick, der schon einige Male verpaßt ist; Preußens Grenzen nach den Wiener Verträgen sind zu einem gesunden Staatsleben nicht günstig; nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden - das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen -, sondern durch Eisen und Blut.“"

 

Kriegsvorbereitungen

 

"Der Kronrat am 28. Februar beschloss schließlich diplomatische Maßnahmen zur Vorbereitung des Kriegsfalls. Das offizielle Sitzungsprotokoll hat wohl manches verdunkelt, es stimmt jedenfalls nicht mit den Aufzeichnungen verschiedener Teilnehmer überein. Präzis scheint die Notiz Moltkes die Äußerungen des Ministerpräsidenten wiedergegeben zu haben: „Graf Bismarck bemerkt, daß die inneren Zustände einen Krieg nach außen nicht nötig machen, wohl aber noch hinzutreten, um ihn günstig erscheinen zu lassen.“ Diese Aufzeichnung gewinnt umso mehr an Glaubwürdigkeit, als sie sich weitgehend denkt mit dem, was Sybel in seinem Buch „Die Begründung des deutschen Reiches“ aufgrund von Materialien und Informationen Bismarcks überlieferte …

Die beiden entscheidenden Maßnahmen bei der Vorbereitung der Revolution von oben folgten zeitlich eng aufeinander: Am 8. April wurde das vorerst noch geheime Bündnis zwischen Preußen und Italien unterzeichnet, einen Tag darauf, am 9. April, trat Bismarck mit dem Vorschlag einer Bundesreform an die Öffentlichkeit.

Bismarck und Govone, letzterer als Vertreter des italienischen Ministerpräsidenten La Marmora, vereinbarten in einem Geheimvertrag, dass Italien, falls Preußen nach Scheitern aller Bundesreformverhandlungen Österreich den Krieg erklärte, auch seinerseits verpflichtet wäre, die Waffen gegen Österreich zu ergreifen, das im Falle seiner Niederlage die Provinz Venetien an Italien abtreten müsse. Der Vertrag hatte eine Dauer von drei Monaten; damit war Bismarck diesmal gewissermaßen unter Zeitzwang gesetzt, die Feindseligkeiten gegen Österreich zu eröffnen.

Der Bündnisvertrag mit Italien konnte zudem nicht lange geheim gehalten werden. Rüstungsmaßnahmen und Truppenbewegungen in Italien alarmierten die Österreicher und drängten Wien den Gedanken an diplomatische Absprachen auf. Am 18. Mai 1866 - schon vier Wochen nach Abschluss des Geheimvertrages - wusste der österreichische Gesandte in Berlin, Graf Karolyi, zu berichten, dass ihm aus Kreisen der französischen Botschaft Informationen über einen „förmlichen Staatsvertrag“ zugegangen seien. Über wesentliche Bestimmungen dieses Bündnisvertrages war er tatsächlich richtig informiert, selbst über die Gültigkeitsdauer von drei Monaten.

Die Indiskretion wurde durch jene übergescheite Taktik des bonapartistischen Frankreichs verursacht, das beide Großmächte des Deutschen Bundes abwechselnd durch „freundschaftliche“ Dienste zur Unnachgiebigkeit und zum Krieg ermuntern wollte - zu einem Krieg, der möglichst langwierig sein und Napoleon Gelegenheit bieten sollte, als Schiedsrichter und Nutznießer aufzutreten. Das diplomatische Ränkespiel chevaleresker Gauner ist im Falle des italienischen Bündnisvertrages ebenso instruktiv wie grotesk.

Es war Napoleon selbst, der im März 1866 durch den Gesandten Nigra die zögernden Italiener fast mit Bonhomie ermunterte, den Bündnisvertrag mit Preußen abzuschließen. Nigra berichtete dies sofort dem preußischen Gesandten von der Goltz und beschwor ihn, äußerste Diskretion zu wahren. In gleicher Weise Geheimhaltung beschwörend, gab von der Goltz seine Informationen unverzüglich an Bismarck weiter. Sein diesbezüglicher Bericht vom 23. März über das ganz interne Gespräch mit der Eröffnung der geheimsten Geheimnisse aus den kaiserlichen Gemächern der Tuilerien in Paris spiegelt ein Bild diplomatischer Eitelkeit. Die französischen Diplomaten sprachen und handelten, als ob sie gottbegnadete Exekutoren des Weltgeistes wären. Aber bald verrieten sie ihr Geheimnis in Berlin an den österreichischen Gesandten, um Wien für antipreußische Verträge gefügig zu machen.

Schon Wochen vor dieser Hiobsbotschaft war die Hofburg durch den in aller Öffentlichkeit gestellten Bundesreformantrag Preußens in Aufregung versetzt worden. Am 9. April hatte Bismarck in einer außerordentlichen Sitzung der Bundesversammlung den Antrag einbringen lassen, es solle ein deutsches Parlament, hervorgehend aus direkten Wahlen und allgemeinem Stimmrecht der ganzen Nation, für einen noch näher zu bestimmenden Tag einberufen werden. Dieses Parlament solle sich mit den Regierungen über die Reform der Bundesverfassung verständigen.

Es war offensichtlich, dass das allgemeine und direkte Wahlrecht für die Habsburger Monarchie mit ihren Nationalitäten geradezu ein Sprengmittel sein musste. Überdies rief die demokratisch dekorierte Parlamentsidee bei den klein- und mittelstaatlichen Dynastien im Deutschen Bund Unsicherheiten und Meinungsverschiedenheiten hervor. Preußen hatte durch seinen geheimen Bündnisvertrag mit Italien vom 8. April, der die Bundesverfassungsreform ausdrücklich erwähnte, und durch seinen Antrag vom 9. April auf Einberufung eines demokratisch gewählten deutschen Parlaments eine Vorentscheidung für den Krieg gegen Österreich getroffen …

So schwankend der König persönlich sein mochte, im Prinzipiellen musste er jetzt fest bleiben und sich der größeren Energie und Einsicht seines Ministerpräsidenten beugen. Dieser aber konnte nach den militärischen und politischen Schritten vom 8. und 9. April auf eine kriegerische Auseinandersetzung mit der Habsburgermonarchie nur dann verzichten, wenn diese ihre Waffen schon vor einem Waffengang streckte, also freiwillig nicht nur alle Hoffnungen auf eine hegemoniale Stellung in Italien fahren ließ, sondern zugleich auf eine Vormachtstellung im Deutschen Bund verzichtete. Das war kaum zu erwarten."

 

„Die Demokraten waren in aktuellen Fragen weiter zerstritten, so in der Stellung zum Bismarckschen Parlamentsvorschlag, auch in der Frage von Krieg und Frieden und bei der Alternative Österreich oder Preußen. Schon der Verzweiflung nahe, traten Anfang Juni süddeutsche Demokraten aus ihrer neutralen Haltung gegenüber den beiden deutschen Großmächten heraus und sprachen sich für einen Krieg an der Seite Österreichs aus. Das mit tollkühner Naivität ins Auge gefasste Bündnis zwischen Demokratie und Habsburgertum barg einen unlösbaren Widerspruch in sich. Das Fehlen einer organisierten Führung im demokratischen Lager wirkte sich verhängnisvoll auf die Aktionen in diesen Wochen aus. Bebel stellte noch am Ende seines Lebens fest: „Aber da keine klare und zielbewußte Führung vorhanden war, zu der man Vertrauen hatte, auch keine mächtige Organisation bestand, die die Kräfte zusammenfaßte, verpuffte die Stimmung. Nie verlief resultatloser eine im Kern vortreffliche Bewegung.“

Was hier niedergeschrieben wurde, war keine revolutionäre Nostalgie eines alten Kämpen, ebensowenig wie die zahlreichen Hinweise der Diplomaten vom Frühjahr 1866 auf die Revolutionsgefahr als denunziatorische Halluzinationen abgetan werden können. Auch genügt es nicht, Bismarcks Bemerkung, es sei besser, die Revolution selber zu machen als zu erleiden, als geistreichen Einfall amüsiert zu zitieren.

Was oben in Regierungskreisen gesagt wurde, stand mit dem, was sich unten im Volk tat, in Zusammenhang. Preußen war eben gerade deswegen Österreich politisch überlegen, weil es eine positive Antwort auf wichtige nationalrevolutionäre und demokratische Aspirationen geben konnte; es musste sie auch geben, wenn anders es die verschiedenen Volksschichten, die sich um demokratische Selbstbestimmung bemühten, am Ende nicht zu revolutionären Aktionen zwingen wollte. Bismarcks freier Wille war an die historischen Gegebenheiten und Tendenzen seines Landes und seiner Zeit gebunden."

 

„In den Wochen nach dem Abschluss des Bündnisses mit Italien und nach dem Parlamentsantrag im Bundesrat musste Bismarck an der weiteren Gestaltung des Verhältnisses zu Frankreich und Russland arbeiten. Spätestens 1862 hatte er in aller Klarheit erkannt, dass Frankreich wie auch Österreich – „jedes in seiner Art“ - Gegner einer Hegemonialpolitik Preußens in Deutschland sein müssen. Wie er aber den strategischen Hauptfeind, das habsburgische Österreich, in der schleswig-holsteinischen Krise als Verbündeten auszunutzen verstanden hatte, paralysierte er eventuelle Interventionen des napoleonischen Frankreich durch eine hinhaltende Politik ohne verbindliche Zusagen. Napoleon III. versicherte Bismarck seine Neutralität, ohne sich territoriale Zugeständnisse vertraglich ausbedungen zu haben; offenbar wollte er einen raschen Sieg der preußischen Waffen nicht recht glauben und wiegte sich in der Hoffnung, er könnte nach längerem Ringen zwischen Preußen und Österreich beuteheischend auf den Plan treten. Selbst nach Königgrätz schien Napoleon den Hohenzollernstaat zu unterschätzen. Vieles spricht dafür, dass Napoleons Meinen und Hoffen nur der subjektive Reflex der objektiven Unsicherheit war, in der sich sein Regime inzwischen im Innern und nach außen befand. Er schob die Lösung von Schwierigkeiten vor sich her, und das wusste Bismarck.

Die Politik der Neutralisierung Frankreichs spielte in der unmittelbaren diplomatischen Vorbereitung des Krieges gegen Österreich eine entscheidende Rolle. Mit Russlands wohlwollender Neutralität konnte Bismarck als einer relativ feststehenden Größe im diplomatischen Spiel in den Apriltagen rechnen: relativ, weil Gortschakow immer wieder Anstalten machte, mit Hilfe eines Kongresses und diplomatischer Demarchen (beispielsweise in Italien) eine für Bismarck höchst unerwünschte Politik der Erhaltung des Status quo zu betreiben. Bismarck wusste natürlich genau, dass Russland sich vorerst darauf konzentrierte, die krisenhaften Erscheinungen im eigenen Lande zu meistern. Auch waren die Bestimmungen des Pariser Friedens von 1856 über das Verbot einer kriegsfähigen Flotte im Schwarzen Meer und von Arsenalen an seinen Ufern das entscheidende Hindernis für ein Zusammengehen Russlands mit den Westmächten. Doch Bismarck musste immer wieder Ängste und Bedenken des Zaren zerstreuen, Preußen könnte mit seinem Vorschlag eines deutschen Parlaments und der Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts gefährliche Wege gehen.

In die Verhandlungen mit Russland spielte auch die rumänische Frage hinein, vor allem hinsichtlich der Vereinigung der beiden Donaufürstentümer Moldau und Walachei und der Wahl eines ausländischen Prinzen als erblichen Thronfolger des im Februar 1866 von konservativen Bojaren und Offizieren gestürzten Fürsten Cuza. Der scheinbar rein spekulative Meinungsaustausch Bismarcks mit dem russischen Gesandten erwies sich bald als eine geschickte Vorbereitung Petersburgs auf die Wahl des Prinzen Karl aus dem Hause Hohenzollern-Sigmaringen. Es kann kein Zweifel bestehen, dass Bismarck - im Widerspruch zu den Versicherungen gegenüber dem russischen Gesandten - diese Kandidatur, die deutlich gegen Österreich mit seinen siebenbürgischen Rumänen gerichtet war, mit Einwilligung Napoleons III. betrieb. Im Hinblick auf den bevorstehenden Krieg kam es Bismarck „in der Donau-Sache vor Allem darauf an, sie so zu behandeln, daß Österreich dort nicht alle Streitkräfte vorzuziehen wagt“. Es entbehrt nicht historischer Pikanterie, dass hier der spanische Thronfolge-Streit, der als Anlass für den Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 herhalten musste, ausprobiert wurde.

Bismarck bereitete die diplomatische Isolierung Österreichs gleichsam in konzentrischen Kreisen vor. Zum inneren Kreis gehörte das Bündnis mit Italien, das zu aktiven militärischen Operationen führen sollte, zum äußeren Kreis Bismarcks Thronfolge-Intrige in Rumänien, die ebenfalls militärische Kräfte Österreichs band. Die Verhandlungen mit ungarischen Emigranten und Legionären könnte man auch dazuzählen, allerdings konnten sie schon deswegen nicht wirksam werden, weil die Verhandlungen erst spät – um den 11. Juni 1866 - direkt aufgenommen wurden und Bismarck diese Verbindung doch mehr als Mittel der Drohung behandelte. Das war für ihn umso gewagter, als eine Insurrektion in Ungarn leicht auf Polen übergreifen konnte. Überdies war die Zerstörung der habsburgischen Herrschaft keineswegs sein Ziel. Seine ungarischen Konnexionen dürften deshalb nicht allzu ernst genommen werden.

Über die Taktik der konzentrischen Kreise darf das Vielschichtige in der Bismarckschen Vorbereitung des Krieges nicht übersehen werden. Er steuerte nicht geradlinig auf den Krieg zu. „Einförmigkeit im Handeln war nicht meine Sache“, sagte Bismarck 25 Jahre später dem österreichischen Historiker Friedjung. Darum griff er in den Maitagen sowohl die Vermittlungsaktion des Anton von Gablenz als auch den Konferenzvorschlag Napoleons auf - offensichtlich mit der Absicht, Wien in eine Lage zu manövrieren, in der es beide ablehnen musste. Der Kernpunkt des Vermittlungsvorschlags von Gablenz war die Teilung des militärischen Oberbefehls zwischen Österreich und Preußen entlang der Mainlinie. Es war klar, dass eine derartige Machtteilung Preußen eine bessere Ausgangsbasis für seine weiteren Hegemoniebestrebungen verschaffen musste. Und so handelte Österreich von seinem Standpunkt aus durchaus richtig, wenn es darauf nicht einging. Bismarck konnte seinem schwankenden König Österreichs Ablehnung als Beweis kriegerischer Absicht präsentieren. Ähnlich manövrierte er in der Konferenzfrage - mit einem vergleichbaren politischen Ergebnis. Er erklärte sich mit Napoleons Vorschlag der Einberufung einer internationalen Konferenz einverstanden, da Österreich darauf niemals eingehen konnte, wenn dort Gebietsabtretungen behandelt werden sollten.

Am 10. Juni, also in der Zeit, da sich die meisten Demokraten Süddeutschlands revolutionär bramarbasierend auf die Seite des finanziell, politisch und moralisch bankrotten Kaiserstaates schlugen, legte Bismarck den Bundesstaaten die Grundzüge einer neuen Bundesverfassung vor. Die Vorschläge enthielten - im Unterschied zu seinem Bundesreformantrag jetzt offen ausgesprochen - den Ausschluss Österreichs aus Deutschland, Gemeinschaft in den großen volkswirtschaftlichen Fragen, Schaffung einer deutschen Seemacht und - um Bayern zu gewinnen und Frankreich zu beschwichtigen - die Teilung des militärischen Oberbefehls zwischen Preußen und Bayern. Natürlich wurde der Vorschlag hinsichtlich der Einberufung eines Parlaments, beruhend auf dem allgemeinen Stimmrecht, erneut proklamiert. In jener Zeit gab auch ein Achtundvierziger und Freund Lasalles, Franz Ziegler, die Parole aus: Das Herz der Demokratie ist da, wo die preußischen Fahnen wehen."

 

Sieg auf ganzer Linie

 

„Der rasche Ablauf der politischen Ereignisse im Juni und die Taktik Bismarcks, Österreich als Angreifer erscheinen zu lassen, ließen es nicht zu, die preußischen Streitkräfte schon vor dem Einmarsch ins feindliche Gebiet zu vereinigen. Diese Regelwidrigkeit war zwar ein Wagnis, aber kein Abenteuer; denn Moltke nutzte die ökonomischen und technischen Veränderungen für die preußische Kriegsführung aus: Die Eisenbahnen erlaubten einen raschen Transport von Truppen; die verbesserten Straßen ermöglichten erhöhte Marschleistungen; die Verwendung des Telegrafen garantierte schnellere Nachrichten- und Befehlsübermittlungen; das Zündnadelgewehr, womit nur die preußische Feldarmee voll ausgerüstet war, verstärkte in außerordentlichem Maße die Feuerkraft und Widerstandsfähigkeit der einzelnen Truppenteile selbst bei numerisch überlegenen Gegnern. Moltke vertraute auch auf die durch die Heeresorganisation erhöhte Schlagkraft der aus jüngeren Jahrgängen bestehenden und taktisch beweglicher gewordenen Infanterie.

Nach Kämpfen, die mit Ausnahme des Gefechts bei Trautenau für die Preußen erfolgreich geendet hatten, begann in den Morgenstunden des 3. Juli 1866 die Schlacht bei Königgrätz. In den frühen Nachmittagsstunden traf die von Schlesien heranrückende und vom preußischen Kronprinzen geführte zweite Armee auf dem Schlachtfeld ein; ihr Stoß in die rechte Flanke der Österreicher brachte die Entscheidung zugunsten der Preußen. Die österreichische Armeeführung verstand jedoch, durch den Aufbau eines starken Artillerieriegels und durch den Gegenstoß der Kavallerie die übermüdeten preußischen Truppen aufzuhalten und eine vollständige Vernichtung der geschlagenen Armee zu verhindern. Mit dem Rückzug der erschöpften und dezimierten Korps der österreichischen Nordarmee über die Elbe und mit der Besetzung des Schlachtfeldes durch die Preußen endete die Schlacht mit deren Sieg."

 

„Und die Widerstandskraft der Klein- und Mittelstaaten war geschwächt, da in ihnen die besitzenden Bürger und zudem viele Militärs den Zielen Preußens Sympathien entgegenbrachten.

Das gesamteuropäische Erstaunen über das, was sich am 3. Juli bei Königgrätz abspielte, steigerte sich hier und da zu heftigen Reaktionen. „Rache für Sadowa“ hieß der französische Ruf nach Vergeltung, dessen Feindseligkeit schon dadurch zum Ausdruck kam, dass nicht die Feste mit dem deutschen Namen Königgrätz, sondern das tschechische Dorf Sadowa ins historische Bewusstsein eingehen sollte. Berühmt geworden ist auch die entsetzte Reaktion des Kardinal-Staatssekretärs beim päpstlichen Stuhl, Antonelli, auf die Nachricht von der Niederlage der Österreicher bei Königgrätz: „Casca il mondo, casca il mondo!“ – „Die Welt stürzt ein, die Welt stürzt ein!“"

 

„Am 22. Juli 12 Uhr mittags trat eine fünftägige Waffenruhe ein, während der in Nikolsburg über den Vorfrieden verhandelt werden sollte. Habsburg machte wahr, was Graf Esterhazy noch vor dem Krieg gesprächsweise frivol dahingeworfen hatte: Nach der ersten Schlacht werde es sich leichter unterhandeln lassen.

Die Tage der Verhandlungen in Nikolsburg über die Friedenspräliminarien sind für die historische Nachbetrachtung weniger durch das interessant geworden, was sich zwischen den Unterhändlern, sondern das, was sich in den höchsten Kreisen der Hohenzollern und der Habsburgermonarchie zutrug, vor allem aber zwischen Bismarck und König Wilhelm. Die Beziehungen zwischen den beiden waren in jenen Tagen spannungsgeladen und Bismarcks Nerven einer schier unmenschlichen Zerreißprobe ausgesetzt. Denn Wilhelm wäre gern an der Spitze der Truppen in die alte Kaiserstadt Wien eingeritten und hätte am liebsten den Habsburgerstaat mit Kriegskontributionen und Annexionen „in einigem in die Auge springenden Umfange“ bestraft. Aber Bismarck wollte keine Strafaktion, sondern eine politische Lösung der Krise: Brechung der Hegemonie Österreichs in Deutschland, zugleich Erhaltung dieses Österreichs als einer europäischen Großmacht, mit der eine Zusammenarbeit früher oder später möglich sein musste. Eine Besetzung Wiens lief auf eine Demütigung der Habsburger mit unabsehbaren Folgen hinaus.

Bismarck rang damals, wie er später bekannte, um die Einsicht des Königs, dass Preußen auch den aus Deutschland ausgeschlossenen „österreichischen Staat als einen guten Stein im europäischen Schachbrett und die Erneuerung guter Beziehungen mit demselben als einen für uns offen zu haltenden Schachzug ansehen“ müsse. „Wenn Österreich schwer geschädigt wäre, so würde es der Bundesgenosse Frankreichs und jedes Gegners werden; es würde selbst seine antirussischen Interessen der Revanche gegen Preußen opfern.“ Wilhelm wusste einer solch klaren realpolitischen Argumentation gegenüber nur moralisierend aufzutrumpfen und eigensinnig auf einer militärischen Genugtuung für die Armee und Sühne in Form territorialer Annexionen zu beharren. Es war schwer für Bismarck, dem König klarzumachen, dass Preußen nicht eines Richteramts zu walten, sondern Politik zu machen hätte; Österreichs Rivalitätskampf gegen Preußen sei nicht strafbarer als der preußische gegen Österreich. Damit predigte Bismarck zunächst tauben Ohren. In gekränktem Monarchenbewusstsein machte Wilhelm jetzt Sachsen, das er als Hauptsünder für den Ausbruch des Krieges ansah, zum Objekt interner Auseinandersetzungen. Er wollte diesen Staat durch territoriale Beschneidungen zugunsten Preußens besonders nachhaltig schwächen, während Bismarck wusste, dass es klüger sei, der von Österreich und Frankreich gemeinsam erhobenen Forderung nach Integrität Sachsens nachzugeben. Umso entschiedener bestand er darauf, mit den feindlichen Staaten Norddeutschlands, insbesondere mit Hannover und Kurhessen, rigoros zu verfahren. Deren fürstliche Souveräne gedachte der preußische König lediglich zum Rücktritt zugunsten ihrer Erbfolger zu zwingen und ihre Länder durch Teilannexionen zugunsten Preußens zu schwächen. Als Bismarck ihm die Kassierung deutscher Dynastien und die Totalannexionen ihrer Staaten anriet, war der König von legitimistischen Gewissensbissen geplagt. Schweren Herzens stimmte er endlich der Entthronung der Häuser Hannover, Kurhessen und Nassau zu."

 

Innenpolitische Entwicklungen zwischen den Kriegen

 

„Für viele Ostelbische Konservative lag die Versuchung nahe, nach den großen Erfolgen der Regierung in den letzten Wahlkämpfen und den noch größeren auf den Schlachtfeldern und diplomatischen Parketts die Liberalen die ganze Macht des königlich-preußischen Staates fühlen zu lassen. Doch trotz des materiellen und moralischen Machtzuwachses von Bismarcks Preußen waren die Liberalen nicht so geschwächt, dass sie leichter Hand geknebelt werden konnten. Ihre Lebenskraft schöpfen sie weiterhin aus dem sich entfaltenden Bürgertum, das zwar auf seine direkte Machtgewinnung, nicht aber auf seine Expansion verzichten konnte. Die liberalen Politiker und Ideologen dachten gar nicht daran, freiwillig das Feld zu räumen; ein offener Verzicht auf den Liberalismus hätte auch Wähler gekostet. Viele sahen in Wirtschafts-, Schul- und Selbstverwaltungsinstitutionen und im Nationalstaat Möglichkeiten, ein öffentliches Leben zu schaffen, das einen freieren Geist gewissermaßen unmerklich, aber unaufhaltsam stärken könnte. Der Nationalstaat war für sie also nicht nur eine wirtschaftliche Notwendigkeit; er hatte auch eine Erziehungsfunktion."

 

„Die großbürgerlichen Liberalen, die auf eine Nationalliberale Partei hinsteuerten, waren sich über ihre Positionen im Kräftespiel der Gesellschaft und des Staates durchaus im Klaren. Der Hannoveraner Gottlieb Planck, der spätere Generalreferent der Kommission zur Ausarbeitung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), ein Onkel des großen Physikers Max Planck, schrieb schon am 20. Juli 1866 an seinen Freund Bennigsen: „Daß Preußen, welches unter diesem Junkerregimente gesiegt, nach dem Siege von selbst eine liberale Regierung erhalten sollte, ist mir innerlich höchst unwahrscheinlich … Indessen das schadet nichts, bekommen wir nur die bundesstaatliche Einheit von ganz Deutschland, so ist das Schwerste überwunden, die Freiheit muß dann eben verdient und erarbeitet werden.“ Die Rechtsliberalen erkannten, dass Bismarck aus dem inneren Zwang seiner preußischen Hegemonialpolitik auf ihre Mitwirkung angewiesen war. Darum traten sie für ihn ein und griffen die legitimistischen, partikularistischen und klerikalen Konservativen an.

Im August 1866 setzte Sybel in der „Revue des deux mondes“ den Franzosen auseinander, die Vernichtung der Fürsten könne nur ein Staatsmann betreiben, für den eine Krone kein Familienbesitz, sondern ein Staatsamt sei. Die Sybelsche Verteidigung Bismarcks ging schließlich bis zu der These: „Für jeden preußischen Staatsmann ohne Ausnahme wird die Frage der deutschen Einheit unabweisbar zu einer Schule des Liberalismus.“ Das hieß nichts anderes, als dass die Liberalen überzeugt waren, Bismarck müsse - trotz allem - bedeutende Interessen des Bürgertums verfolgen. Die List der Geschichte führte ihn eine gute Wegstrecke ins Bürgerliche hinein.

Die Orientierung der Rechtsliberalen auf Bismarck war nicht allein mit einem Angriff auf die halbfeudalen Konservativen verbunden, sondern auch mit einer verstärkten Distanzierung von den katholischen Klerikalen und erst recht von den Demokraten. Es waren vor allem die „Vossische Zeitung“ und die „Nationalzeitung“, die gegen den „Geist der demokratischen Doktrin“, gegen das Zusammenwirken mit den Großdeutschen und Katholiken gegen die „Koalition der roten und schwarzen Brigade“ ihre Invektiven losließen, die ersten Scharmützel des späteren Kulturkampfes."

 

„Die Gesetzesvorlagen über die Einverleibung von Hannover, Hessen, Nassau und Frankfurt am Main, schließlich von Schleswig-Holstein, trafen auf keine sonderlichen Schwierigkeiten im Abgeordnetenhaus. In den nächsten Jahren, als die verschiedenen Organisationsgesetze für die neuen Provinzen im Abgeordnetenhaus beraten wurden, verstanden die Liberalen, Bismarck einige Vorteile für das ganze Staatsgebiet abzuringen. In verwaltungsrechtlichen Fragen machte er eher Konzessionen als im Für und Wider verfassungsrechtlicher Freiheiten."

 

„Die im Norddeutschen Reichstag verabschiedeten Gesetze bewegten sich wirtschaftspolitisch auf der Höhe der Zeit, bahnten der Industrialisierung den Weg. Und das Zollparlament, von so kurzer Dauer es auch sein mochte, erweiterte und intensivierte die Zirkulationssphäre der Wirtschaft. Die nationalstaatliche Einheit war damit erst recht erforderlich."

 

"Der neue Reichstag des Norddeutschen Bundes leistete fortan umfangreiche Gesetzgebungsarbeit, die sich im Wesentlichen auf seine in der Verfassung fixierten staatsbürgerlichen und wirtschaftspolitischen Zuständigkeits- und Aufgabenbereiche bezog. Vieles hätte ohne die intensive und fachmännische Vorarbeit der preußischen Ministerialbürokratie nicht vollbracht werden können. Jetzt brach die große Zeit des von Bismarck früher so beargwöhnten Beamtenliberalismus an; aber der Bundeskanzler wusste nun, dass dieser auch im Interesse der Krongewalt die Rechts- und Wirtschaftseinheit stärken würde. Die gesetzgeberische Vorarbeit dafür leitete der Präsident des zu Bismarcks Entlastung geschaffenen Bundeskanzleramts, Rudolph von Delbrück."

 

„Entsprechend dem Verfassungsgebot nahm der Reichstag die Gesetze über die Freizügigkeit an; damit war es jedem Deutschen möglich, sich in allen Bundesstaaten ungehindert von Ortsbehörden niederzulassen, dort Arbeit anzunehmen oder eine selbstständige Existenz zu gründen. Auch der Unterstützungswohnsitz wurde gleichmäßig geregelt. Die Beschränkungen der Eheschließung wurden aufgehoben: die Schuldhaft und die Beschlagnahme von Arbeitslöhnen waren nicht mehr möglich.

Mit Freizügigkeit ohne volle Gewerbefreiheit konnte sich das Groß- und Kleinbürgertum noch nicht zufriedengeben; deshalb forderten seine Vertreter beim Bundeskanzler ein liberales Gewerbegesetz und bewirkten, dass am 21. Juni 1869 die umfassende Gewerbeordnung zustande kam. In diesen Gesetzen wurden die alten Zwangs- und Bannrechte aufgehoben. Sämtliche Vorrechte der Zünfte und kaufmännischen Korporation fielen weg, das heißt, jedermann konnte unbeschränkt nach dem Konkurrenzprinzip ein Gewerbe sowohl auf dem Lande als auch in der Stadt ausüben. Die Gewerbeordnung fasste das umstrittene Koalitionsrecht bestimmter. Die Arbeiter konnten sich jetzt zum Zweck der Erlangung günstiger Arbeitsbedingungen in Gewerkschaften vereinigen und auch das Kampfmittel des Streiks anwenden. Nur den Landarbeitern blieben diese Rechte nach wie vor verwehrt.

Der Verkehr wurde durch die verschiedensten Bestimmungen und Verträge gefördert, so durch den Abschluss von Postverträgen mit dem Ausland, die Einführung einheitlicher Maße und Gewichte, die Aufhebung der Elbzölle und die Unterstützung des Baus der Sankt-Gotthard-Bahn, das Gesetz über die Nationalität der Handelsschiffe und die Organisation der Bundeskonsulate. Die Rechtseinheit wurde unter anderem durch die Gewährung wechselseitiger Rechtshilfe der norddeutschen Gerichte, die Gründung des Leipziger Oberhandelsgerichtes und das norddeutsche Strafgesetzbuch gefördert.

Die Krönung der Wirtschaftsgesetzgebung des Norddeutschen Bundes war die Aktiennovelle vom 11. Juli 1870; jetzt entfiel für alle Aktiengesellschaften die Notwendigkeit, bei ihrer Gründung um eine Konzession bei den staatlichen Behörden nachzusuchen. Damit fielen die letzten feudal-bürokratischen Schranken in der Entwicklung der großkapitalistischen Produktion."

 

„Der Krieg von 1866 und der Zusammenbruch des Deutschen Bundes hatten auch den überkommenen Zollverein erschüttert. Immerhin hatten seine Mitglieder in den kriegerischen Sommermonaten gegeneinander gekämpft; bei Kriegsende jedoch waren die von Preußen annektierten Staaten kurzerhand in seine Zolleinheit angenommen worden. Das geschah auch mit Schleswig und Holstein, die vorher außerhalb des Zollvereins gestanden hatten. Gemäß den Friedensverträgen mit den süddeutschen Staaten sollten diese in den zu erneuernden Zollverein einbezogen werden. Die Notwendigkeit, nun eine andere Struktur für ihn zu schaffen, war den süddeutschen Staatsminister deutlich geworden, wenn man vom hessischen Ministerpräsidenten von Dalwigk absieht, der jede engere Verbindung der Zollvereinsstaaten verhindern wollte. Die verantwortlichen Minister in Bayern und Württemberg wiederum waren bemüht, den jeweils Ersten wie den Zweiten Kammern ihrer Länder Mitbestimmung über die Zollgesetze und auswärtigen Handelsverträge einzuräumen.

Doch Bismarck setzte all diesen Projekten die Vorstellung eines gemeinsamen Zollparlaments entgegen, das nach dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht gewählt werden sollte. Es gehörte überhaupt zu seinen Leitmotiven, in allen über die Einzelstaaten hinausgehenden Angelegenheiten ein demokratisch gewähltes Parlament mitreden und in begrenztem Maße auch mitbestimmen zu lassen, wie das bereits im Norddeutschen Bund verwirklicht wurde. Den Badenern gab er intern den Rat, der möglicherweise von Bayern kommenden Forderung nach einem Südbunde mit dem Verlangen nach einem Parlament zu begegnen. „Südbund nur mit Parlament“, so schrieb er seinem Gesandten in Karlsruhe, „erscheint uns als die beste Defensive für Baden; es wehrt einstweilen die Kombination ab, die wir als noch bedenklicher betrachten: ein Südbund ohne Parlament“. Überhaupt könne ein Südbund „nie etwas Definitives werden, sondern nur eine Übergangszeit ausfüllen; und die Zutat eines Parlamentes würde diese Zeit abkürzen“. Hier klingt an, dass er den Vorschlag eines süddeutschen Parlaments nicht rein taktisch verstand, gewissermaßen als Manöver, um die hegemoniale Absicht Bayerns zu durchkreuzen. Schon einen Monat zuvor hatte er seine Vorstellung in einem weiteren historischen Zusammenhang dargelegt: „Auf einen Schlag eine homogene Gestaltung Deutschlands zu erreichen, ist nur möglich im Falle eines Krieges. Abgesehen von dieser Eventualität, die wir weder vorhersehen noch herbeiführen werden, wird die Entwicklung ein oder mehrere Übergangsstadien zu durchlaufen haben … Ein Moment läßt sich jedoch vorweg als unerläßlich bezeichnen, wenn es nicht bloß zu Konventionen über einzelne, den Südstaaten gemeinsame Einrichtungen, sondern zu einem Bund derselben kommen soll - ein süddeutsches Parlament … Die Beseitigung des Bestehenden ist der schwierigste Theil der Aufgabe nationaler Neubildung.“

Das süddeutsche Parlament kam nie zustande, ebenso wenig ein Südbund. Beide scheiterten nicht an Preußen, sondern an den süddeutschen Partikularisten selbst, also den Dynasten und Adelsherren, den Pfarrern und Dorfpolitikern, den städtischen Honoratioren und den redseligen Volksmännern. Erzwingen konnte und wollte Bismarck ein süddeutsches Parlament nicht, aber er vermochte nach einigen diplomatischen Vorbereitungen ein Zollparlament ultimativ durchzusetzen. So ließ er bereits am 6. Mai 1867 dem Münchener Kabinett sagen, dass ohne gemeinschaftliche parlamentarische Institution mit dem Norden ein gemeinsamer Zollverein unmöglich sei. Als dann am 3. Juni die führenden Männer Preußens und der süddeutschen Staaten zu einer Konferenz in Berlin zusammenkamen, legte Bismarck allen Nachdruck auf eine Volksvertretung, ohne die die Fortsetzung des Zollvereins nicht möglich sei …

Am 1. Dezember 1867 äußerte Bismarck gegenüber dem badischen Gesandten, der Zollverein habe zu seiner vollkommenen Entwicklung 30 Jahre gebraucht. Die Lösung der nationalen Frage werde im Zeitalter der Eisenbahnen und Telegraphen vielleicht nur einen kleinen Teil dieser Zeit in Anspruch nehmen. Mag Bismarck manchmal mit kürzeren, mitunter mit längeren Zeitperioden gerechnet haben, auf jeden Fall glaubte er in jenen Monaten, die nationalstaatliche Einigung Deutschlands könnte auf dem Wege friedlicher Entwicklung erreicht werden. Für ihn war das Zollparlament „Kern und Keim für die Anschlußentwicklung“.

Da die süddeutschen Anhänger Bismarcks seinen Optimismus teilten, hieß ihre Wahlparole: „Vom Zollparlament zum Vollparlament“. Die liberalen Parteien des Südens sprachen in ihrer Agitation unentwegt von der notwendigen Kompetenzerweiterung des künftigen Zollparlaments. Gerade das provozierte die Gegenaktion, so dass der Wahlkampf sich weniger mit Zollfragen als mit der zukünftigen Verfassung Deutschlands beschäftigte. Der Widerstand der Klerikalen und quasidemokratischen Parteien gegen die Belastung der Militärreorganisation war noch verständlich; aber darüber hinaus wurden alte Ängste geweckt, die landschaftlichen, religiösen und staatlichen Eigenarten Süddeutschlands könnten durch das Zusammenwirken mit dem preußisch beherrschten Norden wesentlich beeinträchtigt werden."

 

„Der schulpolitische Gegensatz zwischen Liberalismus und Klerikalismus, der noch Jahrzehnte lebendig blieb, war besonders geeignet, die katholischen Geistlichen politisch zu aktivieren. Ihr Anliegen drückte Edmund Jörg, das geistige Haupt des bayrischen Partikularismus und Klerikalismus, aus, indem er das Volk fürchten lehrte, dass der Liberalismus „rücksichtslos und ohne Not … über seine innersten Lebensanschauungen und alle süße Gewohnheit seines Daseins hinwegzugehen gedenke“. Und wenn sich dann in den Landgemeinden zu den Geistlichen die Agitatoren des bayrisch-patriotischen Bauernvereins gesellten und über die staatliche Bürokratie und Steuereintreiberei, über die Plackereien des Militärdienstes, mitunter auch über den protestantisch-jüdischen Händlergeist und das aufkommende Fabrikantentum wetterten, dann schien es sonnenklar, dass die Bayern preußisch werden sollten. Herkommen, Bräuche und Sitten wurden so verklärt, dass der alte Heimatsinn zum Partikularismus pervertierte, der im Grunde den Interessen der geistlichen und nichtgeistlichen Honoratioren, vielen Adligen und nicht minder den dorfbeherrschenden Großbauern diente.

Die bayerischen „Patrioten“ wussten sehr wohl, was sie bewahren und was sie abwehren wollten, aber sie wussten nicht, wie es weitergehen sollte in dieser Welt der Eisenbahnen, Dampfmaschinen und Telegraphen, und insofern sprachen aus ihrem Antiborussismus Zukunftsangst und Modernitätsverweigerung. Von Wahl zu Wahl, ob zum Zollparlament oder zum Landtag, konnte die Bayrische Patriotenpartei ihren Stimmenanteil erhöhen, was schließlich 1870 an den Rand der Staatskrise führte."

 

Krieg gegen Frankreich

 

Luxemburg

 

„Mitten in die Beratungen des konstituierenden Norddeutschen Reichstages drängte sich die Luxemburger Frage, die 1867 bis an den Rand eines deutsch-französischen Krieges führte. Luxemburg war seiner staatsrechtlichen Stellung und seinem ethnologischen Charakter nach in einer eigenartigen, die Interessen und Lebenssphären verschiedener Länder berührenden Situation. Mit den Niederlanden war es in dynastischer Personalunion verbunden, da der holländische König zugleich Großherzog in dem kleinen Land von 200.000 Einwohnern war; es gehörte dem Deutschen Bund an und die Bundesfestung der Stadt Luxemburg beherbergte eine preußische Besatzung; die Amtssprache war Französisch, obwohl nach Überlassung des wallonischen Teils an Belgien im Jahre 1839 der überwiegende Teil der Bevölkerung eine deutsche Mundart sprach und die Zeitungen hochdeutsch schrieben.

1849 hatten die Luxemburger Abgeordneten in der Deutschen Nationalversammlung bei der Kaiserwahl für den König von Preußen gestimmt. Als 1866 der Deutsche Bund gesprengt wurde, sollte Luxemburg nicht in den Norddeutschen Bund aufgenommen werden; aber in der früheren Bundesfestung blieben weiterhin preußische Truppen. Die Mehrheit der Bevölkerung wollte im Grunde ihres Herzens weder für Frankreich noch für Preußen-Deutschland optieren, sondern ihre kulturelle Eigenart und politische Selbstständigkeit bewahren. Damals entstand das Luxemburger Lied mit dem Refrain „Mir wolle bleiwe wat mer sinn.“ Bismarck kannte diese Stimmung und gestand in der Reichstagsdebatte, „daß in Luxemburg eine entschiedene Abneigung gegen den Beitritt zum Norddeutschen Bund in allen Schichten der Bevölkerung festzustellen“ sei. Diese Einsicht war wohl einer der Gründe dafür, dass er einen Anschluss Luxemburgs nicht förderte und um dieses Land keinen Krieg mit Frankreich riskieren wollte. Nachdem der französische Gesandte Benedetti im Auftrag Napoleons am 12. Februar, dem Tage der Wahlen zum konstitutierenden Norddeutschen Reichstag, erneut auf eine schon lange erwartete Entscheidung in der Luxemburgfrage gedrängt hatte, geriet Bismarck in eine prekäre Lage. Einerseits hatte er Benedetti, der seit Nikolsburg auftragsgemäß Luxemburg als Kompensation für Frankreich gefordert hatte, in den Verhandlungen derart hingehalten, dass sich die kaiserliche Regierung in Paris ernsthafte Hoffnungen machte; andererseits konnte er nicht dem napoleonischen Frankreich ein Land ausliefern, das von Liberalen wie Demokraten, von Konservativen wie Klerikalen, vom Volke wie von den Dynastien seiner Geschichte und Sprache nach als deutsch angesehen wurde.

In dieser Zwangslage musste Bismarck sowohl gegenüber dem französischen Kaiser wie gegenüber dem holländischen König ein diplomatisches Verwirr- und Betrugsspiel betreiben, das geheim sein sollte, es aber nicht bleiben konnte. Gegen die französische Erwartung nach Aufhebung der preußischen Besatzung in Luxemburg stellte er in der Sache wie in der Verfahrensweise unerfüllbare, die Lösung immer wieder hinausschiebende Forderungen, ließ aber zugleich hoffen, dass Preußen den napoleonischen Wünschen früher oder später entgegenkommen würde. Voller List zeigte sich Bismarck auch in der Frage des Verkaufs von Luxemburg an Frankreich. König-Großherzog Wilhelm in Den Haag war durchaus bereit, sein Großherzogtum gegen eine ansehnliche Summe an Napoleon auszuliefern; gelegentlich witzelte er: „Wenn die Luxemburger unartig sind, verkaufe ich sie einem Juden in Amsterdam.“ Bismarck aber ließ die Verhandlungen über das holländisch-französische Handelsgeschäft so ablaufen, als ob er davon rein gar nichts wisse. Und als der niederländische König, der wegen des auf dem Wiener Kongress 1815 festgelegten Status von Luxemburg völkerrechtlich gebunden war, in Berlin anfragen ließ, ob die preußische Regierung mit dem bereits ausgehandelten Kaufvertrag einverstanden sei, antwortete Bismarck zunächst recht unbestimmt.

Noch während der französischen-niederländischen Verhandlungen veröffentlichte Bismarck die geheimen Schutz- und Trutzbündnisse, die er im August 1866 mit den süddeutschen Staaten einzeln abgeschlossen hatte. Indem er sie bekannt machte, demonstrierte er der Öffentlichkeit in Deutschland seinen gesamtnationalen Willen. Überdies bestellte er unter der Hand eine Anfrage das nationalliberalen Abgeordneten Bennigsen im Norddeutschen Reichstag wegen der Luxemburger Verkaufsangelegenheit. Bennigsens Rede war deutschnational recht hochgestimmt und durchsetzt von romantischen Reminiszenzen an das Mittelalter, etwa wenn er von Luxemburg als einem deutschen Land sprach, „aus dessen Fürstengeschlechtern Kaiser für Deutschland hervorgegangen sind“. Doch sie war realitätsnah, wo es konkret um den napoleonischen Expansionismus ging: „Wir haben in dem Grenzlande Luxemburg nicht bloß einen Teil deutschen Bodens zu verteidigen; wir haben da auch eine wichtige militärische Position zu schützen, welche, wenn sie aufgegeben werden sollte, wenn das Land an Frankreich kommen sollte, nicht allein Belgien, sondern auch die deutsche Rheinprovinz stets unmittelbar bedrohen würde.“ Es war keineswegs abwegig, wenn der Redner meinte: „Es ist eine nicht geringe Versuchung für das Ausland vorhanden, die Auflösung des Deutschen Bundes zu benutzen, die Zeit zu benutzen, wo eine deutsche Staatenbildung noch nicht fertig geworden ist, wo Kämpfe der inneren Politik ausgebrochen sind in Deutschland, die eigne Machtstellung gegenüber Deutschland zu verstärken. Wenn wir nicht dem ersten Versuche der Art entgegentreten, dann werden die Versuche sich stets wiederholen, und die jetzige Neubildung wird in Deutschland nicht zur Begründung eines starken Bundesstaates, sondern nur zur Fortdauer der alten Zerrissenheit und Schwäche führen.“

Bennigsen erntete begeisterten Beifall im Norddeutschen Reichstag. In seiner Antwort auf die parlamentarische Anfrage und die patriotische Rede war Bismarck hingegen - ein Spiel mit verteilten Rollen - um einen versöhnlichen Ton im Gespräch mit Frankreich bemüht. Bereits vor der Parlamentssitzung hatte er sich gegenüber dem französischen Botschafter scheinbar wohlwollend verhalten. Nach dieser von ihm selbst inszenierten Reichstagsdebatte, die von der Presse stark forciert wurde, war die Entrüstung gegen Frankreich in der Öffentlichkeit jedoch so stark, dass er sowohl den französischen Kaiser als auf den niederländischen König unter Druck setzen konnte. Am 3. April ließ er in Den Haag erklären, wenn es zum Krieg käme, so werde die öffentliche Meinung „und wir mit ihr die Niederlande in erster Linie als verantwortlich dafür ansehen“. König Wilhelm reagierte prompt mit einem Telegramm des Inhalts: „Abtretung Luxemburgs aufgegeben.“

Napoleon III. war verständlicherweise äußerst erbittert: All seine Bemühungen, mit dem niederländisch-luxemburgischen König-Großherzog Wilhelm handelseinig zu werden und frankreichfreundliche Demonstrationen in Luxemburg zu organisieren, waren vergeblich gewesen; er selbst und seine Regierung fühlten sich von Bismarck hintergangen. In der Tat spottete dieser später darüber, dass Benedetti ihm zugetraut habe, deutsches Land zu verraten. Und dem preußischen König gegenüber gab er zu, Napoleon durch die Vorspiegelung hingehalten zu haben, der preußische Herrscher sei durchaus geneigt, „vom Pfade der Tugend abzuweichen“, man müsse ihm aber Zeit lassen, den widerstrebenden König dafür zu gewinnen.

Nachdem die Großmächte durch einen Runderlass Bismarcks auf ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen im Falle Luxemburgs aufmerksam gemacht worden waren, fand vom 7. bis 11. Mai 1867 in London eine Konferenz statt. Dort wurde die Neutralisierung Luxemburgs beschlossen und seine Unabhängigkeit unter den Schutz der Großmächte gestellt. Mit der Erklärung Luxemburgs zu einem „ewig neutralen Staat“ hörte auch die Stadt Luxemburg auf, eine Festung zu sein; die preußische Garnison musste das Land verlassen, und dieses wurde verpflichtet, die Festungsanlagen zu schleifen und künftig keine mehr zu bauen."

 

Spanische Thronfolge

 

„Sosehr sich die Gefahr eines neuen Konflikts zwischen dem Bürgertum und der preußischen Krongewalt mit ihrem Hegemonialstreben abzeichnete, beide politischen Kräfte fühlten sich vom erstarkenden Partikularismus und von ausländischer Einmischung behindert, wenn nicht gar bedroht. Im Frühjahr 1870 war offenkundig geworden, dass man „von der natürlichen nationalen Entwicklung“ nicht mehr jene Fortschritte erwarten konnte, die Bismarck noch im Spätherbst 1869 erhofft hatte. Man stand vor der Zeit einer großen nationalen Kraftanstrengung; als Repräsentant der preußischen Krongewalt fühlte sich Bismarck verpflichtet, die nationalen Ziele des Liberalismus zu verwirklichen, ohne von ihm abhängig zu werden. Daher wollte er so verfahren, dass er die unausweichliche Auseinandersetzung mit dem chauvinistisch erregten Frankreich ohne ausländische Einmischung und partikularistische Sabotage führen konnte; nicht Preußen, sondern Frankreich musste als Friedensstörer erscheinen. Unter diesen Umständen waren vornehmlich Methoden intriganter Kabinettspolitik anzuwenden, und dazu bot sich jetzt die spanische Thronfolgefrage an. Im September 1868 hatte General Prim in Madrid eine Militärrevolte inszeniert und die klerikale Königin Isabella gezwungen, Spanien zu verlassen. Sehr bald wurde eine konstitutionelle Monarchie ausgerufen, der jedoch ein königliches Haupt fehlte. Nachdem eine Reihe von Thronfolgekandidaten erhoben worden war, fiel das Augenmerk auf den Erbprinzen Leopold von Hohenzollern aus dem süddeutsch-katholischen Zweig dieses Geschlechts in Sigmaringen. Möglicherweise hielt man Leopold für geeignet, weil er Schwager des Königs von Portugal war und deshalb hoffte, er könnte die Beziehungen Spaniens mit Portugal enger gestalten. Leopold war der ältere Bruder Karls von Rumänien, der kurz vor dem Krieg von 1866 von Bismarck im Rahmen seiner Einkreisungspolitik gegen Österreich protegiert worden war.

Damals hatte die Thronbesteigung des Sigmaringer Hohenzollern in Rumänien die beifällige Zustimmung Napoleons III. gefunden. Nach der spanischen Militärrevolte und dem Sturz der napoleonfreundlichen Isabella hatte sich die Sachlage für den französischen Kaiser aber verändert. Die unerwarteten Erfolge des Bismarckschen Preußens und der für den französischen Kaiser deprimierende Ausgang der Luxemburger Krise mussten Paris misstrauisch und wachsam werden lassen. Napoleon, auf den hohenzollernschen Thronkandidaten hin angesprochen, spielte den Gleichgültigen. Hingegen wurde der französische Botschafter Benedetti im März 1869 angewiesen, Erkundigungen in Berlin einzuziehen, wie die preußische Regierung zur spanischen Thronfolge stehe; zugleich sollte er erklären, dass der Sigmaringer Hohenzoller als Thronkandidat für Frankreich unerwünscht sei.

Mit Bismarck, der sich ausweichend verhielt, kam Benedetti erst im Mai zusammen. Vielleicht war Bismarck im Frühjahr 1869 auch innerlich noch nicht engagiert genug, konnte er die politisch brisanten Möglichkeiten dieses Projekts selbst noch nicht völlig überblicken. Die neuen Herrscher in Spanien hatten sich im Übrigen auch offiziell noch nicht eindeutig entschieden. Neben General Prim war der Staatsrat Don Eusebio de Salazar in der Sache der Thronfolge besonders aktiv geworden. Er reiste im September 1869 nach Deutschland, wandte sich an seinen alten Bekannten, den preußischen Gesandten Freiherrn von Werthern in München, der ihn erst damals mit dem Fürsten Karl Anton von Hohenzollern und dessen Sohn, dem Erbprinzen Leopold, bekannt machte. Von seiner offiziellen Position aus konnte von Werthern schwerlich beim preußischen König unmittelbar intervenieren, wie dies der Spanier wollte.

Über die allgemeine Lage in Spanien ließ sich Bismarck durch von Bernhardi unterrichten, der sich bereits in den April- und Maiwochen des Jahres 1866 durch wertvolle Dienste sein Vertrauen erworben hatte. In der zweiten Jahreshälfte 1869 schickte Bernhardi ihm Berichte, die die innere Lage in Spanien ebenso offenherzig wie negativ schilderten. Bezeichnenderweise stellte Bismarck diese wahrlich nicht unwichtigen Dokumente dem Kronprinzen nicht und schon gar nicht König Wilhelm zur Verfügung. Die Fäden zwischen maßgeblichen Spaniern und Bismarcks offiziellen und offiziösen Diplomaten waren inzwischen schon so gesponnen, dass am 26. Februar 1870 der spanische Staatsrat Salazar in Berlin mit Bismarck zusammentreffen konnte, um ihm mit mündlichen Erläuterungen einen Brief von General Prim zu übergeben. Die Unterredung fand zwei Tage nach der Auseinandersetzung mit Lasker im Reichstag statt. Auch dieses zeitliche Zusammentreffen lässt die Annahme zu, dass Bismarck von nun an entschlossen war, die Thronkandidatur eines der beiden Sigmaringer Hohenzollern, entweder des Erbprinzen Leopold oder des Prinzen Fritz, mit Nachdruck zu betreiben. Die Thronfolgefrage schien geeignet, ähnlich wie im Sommer 1865 der Vertrag zu Gastein mit seinen politischen Widerhaken, zu gegebener Zeit Komplikationen mit dem politischen Hauptgegner hervorzurufen. Nach Österreich 1865/66 war es 1870 nun Frankreich, mit dem Entscheidungen herbeigeführt werden mussten. Damals wie jetzt steigerte die Zuspitzung der Krise die Bereitschaft zum Krieg."

 

Emser Depesche

 

„Bemerkenswerterweise regte Bismarck bei Loftus nicht allein die besagte Deklaration der englischen Regierung an, sondern verlangte auch von Frankreich Zusicherungen. „Graf Bismarck stellte ferner fest“, so berichtete Loftus an Granville, „daß die gegenwärtige Lösung der spanischen Frage eine endgültige und befriedigende Erfüllung der französischen Wünsche darstelle und weitere Ansprüche nicht erhoben würden, und wenn ferner nicht eine Zurückziehung der drohenden Worte des Herzogs von Gramont oder eine befriedigende Erklärung darüber gegeben werde, dann würde die preußische Regierung verpflichtet sein, Erklärungen (explanations) von Frankreich zu verlangen“. Damit bereitete Bismarck noch vor Ankunft der Depesche aus Ems den Übergang von der Defensive, in die Preußen geraten war, zur Offensive vor. Es war der gleiche Kurs zur Verschärfung des Konflikts, den auch die Pariser Regierung am 12. und 13. diplomatisch einschlug. Schon am Nachmittag des 12. Juli, als Bismarck noch gar nicht in Berlin angekommen war, verlangten Gramont und Ollivier vom preußischen Botschafter von Werther, er möge ein Schreiben an Kaiser Napoleon anregen, in dem sich König Wilhelm wegen der Verheimlichung der Unterhandlungen mit Madrid entschuldigen und gleichzeitig versichern solle, er habe nicht die Absicht gehabt, den Kaiser und Frankreich zu beleidigen. Dieses Schreiben sollte dann der französischen Kammer mitgeteilt und publiziert werden. Freiherr von Werther weigerte sich zwar, ein solches Ansinnen dem König in Ems telegrafisch mitzuteilen, berichtete aber natürlich darüber.

Der französischen Zumutung vom 12. Juli wurde am anderen Tag noch eine weitere hinzugefügt, als Benedetti im Auftrag Gramonts auf der Brunnenpromenade zu Ems von Wilhelm I. verlangte, er möge auch für künftige Fälle garantieren, nie wieder einer eventuellen Hohenzollernkandidatur zuzustimmen. Das war für Wilhelms Selbstgefühl zu viel; entschieden lehnte er dies ab. Nachmittags kam dann noch Werthers Bericht über die französische Forderung nach einem Entschuldigungsschreiben; dieses Ansinnen musste den preußischen König zusätzlich erbittern und von ihm als „Insolenz“ empfunden werden.

Obwohl nachmittags des Königs Flügeladjutant, Fürst Radziwill, Benedetti auftragsgemäß mitteilte, dass der König durch den Verzicht des Erbprinzen die Angelegenheit als erledigt betrachte, wurde der französische Botschafter durch eine neue Depesche Gramonts genötigt, um eine nochmalige Audienz zu ersuchen. Er sollte die bereits ausgesprochenen Forderungen insistierend wiederholen. Der König war aber nicht mehr gewillt, Benedetti zu empfangen und Zusicherungen zu geben. Doch ließ er, gleichsam als versöhnliches letztes Wort sagen, er billige auf jeden Fall den Rücktritt des Erbprinzen. Damit aber durchkreuzte der Monarch den von der Armeeführung gebilligten Plan Bismarcks, die spanische Thronkandidatur als Ausgangspunkt eines Konflikts mit Frankreich zu nutzen.

Kein Wunder dass das Chiffretelegramm Abekens über diese Vorgänge in Ems in der abendlichen Berliner Runde, zu der sich Bismarck, Roon und Moltke zusammengefunden hatten, große Betroffenheit auslöste, ja Niedergeschlagenheit, wie Bismarck berichtete. Der Kanzler hatte sich von Moltke versichern lassen, dass die Armee zum Einsatz bereit sei. Durch seine Kontakte mit Gortschakow und die diplomatischen Gespräche während des ganzen Tages war ihm klar geworden, dass der Norddeutsche Bund gegenwärtig nicht allein in einer günstigen militärischen, sondern auch in einer vorteilhaften außenpolitischen Lage war: Russland war auf Preußens Seite, hielt vor allem Österreich in Schach; England nahm eine neutrale Haltung ein, und Italien hielt sich zumindest vorerst zurück. So war also nahezu sicher, dass ein Krieg mit Frankreich lokalisiert werden konnte. Die Stimmung in Deutschland, selbst im Süden, begann zudem umzuschlagen, wenn auch noch nicht eindeutig für Preußen, so doch gegen Frankreich, von wo Gramonts Drohrede und die chauvinistische Pressekampagne allmählicher herüberdrangen und die Deutschen alarmierten. Die Liberalen waren über das Zurückweichen des preußischen Königs ungehalten; manche ihrer Führer „kochten vor Ingrimm“ …

Wer also war der Verantwortliche für den nun unvermeidbaren Krieg? Auf der Ebene der Diplomatie hat der durch die Widersprüche zwischen Süd- und Norddeutschland beunruhigte Bismarck mit seinem Engagement in der spanischen Thronfolgekandidatur gleichsam die stille Aggression begonnen; aber in der letzten Phase der ganzen Affäre standen Paris und Berlin im Kurs auf den Krieg einander kaum nach. Die Bismarcksche „Emser Depesche“ war die auch zeitlich geschickt gewählte Antwort auf die französischen Herausforderungen vom 6. bis zum 13. Juli. Historisch setzte sich Frankreich ins Unrecht, indem es sich der nationalstaatlichen Einigungsbewegung in Deutschland entgegenstellte. Doch unter den Auspizien der königlich-preußischen Revolution von oben folgte im Laufe des Krieges der Herausforderung Deutschlands die Demütigung Frankreichs."

 

Dem Kriege entgegen

 

„Napoleon bemühte sich noch in letzter Minute um Bundesgenossen. Die österreichische wie die italienische Regierung waren geneigt, ihm beizustehen; die Schwierigkeiten, die dem entgegenstanden, waren jedoch zu groß, so dass ein militärisches Eingreifen nicht möglich gewesen wäre. Die österreichische Regierung musste sowohl auf die Stimmung der deutschsprachigen Bevölkerung Österreichs als auch auf die drohende Haltung Russlands Rücksicht nehmen. Aus denselben Gründen hatten ja auch die Bündnisverhandlungen zwischen Österreich und Frankreich keinen Erfolg. Was Italien anlangte, so konnte Napoleon sich nicht entschließen, das zu tun, was das italienische Volk forderte, nämlich die französischen Truppen aus Rom abzuziehen und damit den päpstlichen Staat zu opfern.

Die zaristische Regierung sympathisierte schon deshalb mit Bismarck, weil sie sich von einer Niederlage Frankreichs die schnelle Aufhebung der Entmilitarisierungsbestimmungen des Schwarzmeer-Vertrages von 1856 versprach. Was England betraf, so war seine Regierung ebenfalls nicht bereit, zugunsten Napoleons einzugreifen da sie sich von einer Schwächung der militärischen und politischen Stellung Frankreichs in Europa und damit auch in den Kolonialgebieten Vorteile erhoffte. Auf jeden Fall wollte die sonst nicht unbedingt preußenfreundliche Regierung in London dem Streben Napoleons nach der Vorherrschaft in Europa Einhalt gebieten.

So waren die diplomatischen Bedingungen für Preußen-Deutschland denkbar günstig; für das isolierte Frankreich dagegen sehr schlecht. Durch die nach der Emser Depesche bekanntgewordene Garantieforderung und die darauffolgende Kriegserklärung standen Napoleon und seine Regierung vor der europäischen Öffentlichkeit als Friedensbrecher da. Bismarck tat das Seine, um diesen Eindruck zu verstärken. Bald nach der Mobilmachung veröffentlichte er den Bericht Werthers vom 12. Juli, der die auf Demütigung Preußens berechnete Forderung nach einem Entschuldigungsschreiben des preußischen Königs an den französischen Kaiser enthielt. Einige Zeit später ließ Bismarck den von Benedetti eigenhändig geschriebenen Vertragsentwurf vom 20. August 1866 dem preußischen Botschafter in London, Bernstorff, zukommen, der das kompromittierende Schriftstück durch die „Times“ im Faksimile publik machte. Nach diesem Entwurf sollte die Vereinigung von Süd- und Norddeutschland Preußen zugestanden werden, falls es Frankreich beim Erwerb von Luxemburg und Belgien behilflich sei. Dem Gesandten in Belgien erläuterte Bismarck, dass Frankreich „bis vor nicht langer Zeit daran gearbeitet habe, uns zur Annahme zu bewegen, und erst dann zu einer feindlichen Stimmung gegen uns übergegangen sei, als es die Überzeugung gewonnen, daß es ihm nicht gelingen werde, uns zum Treuebruch gegen unsere Bundesgenossen und unsere Nachbarn zu verleiten“.

Napoleon hatte seine Hoffnungen auf die partikularistischen Neigungen der Regierungen Bayerns, Württembergs und Hessens und auf die antipreußische Stimmung großer Teile der Bevölkerung gesetzt. Dort erkannte man jedoch mit der gleichen politischen Instinktsicherheit wie 1859, dass es jetzt in erster Linie darum ging, den französischen Chauvinismus mit seinen traditionellen Annexionsabsichten und seinen seit Jahrhunderten immer wiederkehrenden Einmischungen in deutsche Angelegenheiten entscheidend zu schlagen.

Das deutsche Volk fühlte richtig, dass in jenem Augenblick der Hauptfeind der deutschen Nation und der anderen Völker nicht der preußisch-deutsche, sondern der französische Militarismus war. Kein patriotisch empfindender Deutscher konnte wünschen, dass die französischen Heere auf deutschen Boden kämen, um die staatliche Zersplitterung zu verewigen. Um diesen Preis konnte kein Deutscher die Niederlage des preußischen Staates wünschen, zumal Berlin eine zwar undemokratische kleindeutsche Einigung, aber immerhin eine Einigung in Aussicht stellte. Jetzt sah man sich östlich des Rheins vor eine unausweichliche Entscheidung gestellt: entweder sich mit Preußen gegen Napoleon zu stellen und damit die nationalstaatliche Einigung unter Preußens Führung zu unterstützen oder Napoleons Sieg in Kauf zu nehmen und damit jede Einigung für lange Zeit unmöglich zu machen.

Angesichts der nationalen Existenzfrage trat die antipreußische Stimmung in Süddeutschland in den Hintergrund. Wie tief das patriotische Empfinden auch in Gebieten mit noch starken antipreußischen Ressentiments war, beispielsweise in Hannover, zeigt ein Brief Kugelmanns vom 7. August an Karl Marx: „Ich wüßte keinen, außer der bornierten oder interessierten Welfenpartei, die nicht Bonaparte den Untergang wünschen. Alle Beschwerden und Opfer werden freudig ertragen. Die jungen Leute, pflichtig oder freiwillig, drängeln sich mit Ungetüm zu den Fahnen, Privatärzte übernehmen unentgeltliche Behandlung der Verwundenen in und außer den Lazaretten, Privatleute stellen eine größere oder kleinere Zahl von Betten zur Verfügung, um in ihren Häusern Verwundete zu pflegen, allgemeine Beisteuer für die Opfer des Krieges.“ Angesichts dieser patriotischen Stimmung wagte keiner der süddeutschen Fürsten, den im Schutz- und Trutzbündnis vorgesehenen Bündnisfall mit Preußen abzulehnen. Trotz heftigen Widerstandes einiger Partikularisten nahmen die Volksvertretungen die Kriegsvorlagen der Regierungen an. Die süddeutschen Dynasten verkündeten nacheinander die Mobilmachung und unterstellten ihre Truppen vertragsgemäß dem preußischen Oberbefehl. Mit der Teilnahme der süddeutschen Staaten am Krieg gegen Frankreich war der erste Schritt zur künftigen Vereinigung mit dem Norddeutschen Bund getan.

Solange der französischen Bonapartismus, der sich damals nur an der Macht halten konnte, wenn er die Schaffung eines gesamtdeutschen Staates verhinderte und dabei möglichst noch die französische Grenze allmählich nach dem Osten vorschob, nicht geschlagen war, führte Deutschland einen gerechten Verteidigungskrieg. Dies war das Entscheidende und nicht die Tatsache, dass Bismarck den Krieg durch dynastische Intrigen ausgelöst hatte. Reaktionär gegenüber der Demokratie in Deutschland, vertrat Bismarck gegenüber Napoleon die nationalstaatliche Einigung …

Nach seinem ursprünglichen Feldzugsplan wollte Napoleon III. ins Maintal vorstoßen, Süddeutschland und Norddeutschland trennen und Österreich, dessen Mobilmachung stets lange dauerte, zum Krieg gegen Preußen gewinnen. Militärische Vorbesprechungen hatten schon im Februar 1870 in Paris mit dem österreichischen Erzherzog Albrecht stattgefunden. Die französische Armee war eine exzellente Kaderarmee, bestand also aus langdienenden Soldaten und war schon in Friedenszeiten auf Kriegsstärke gebracht. Die moderne Industrie Frankreichs lieferte der Infanterie, die die Schlachten ja noch immer entschied, an Feuerkraft überlegene Waffen: das Chassepotgewehr und die Mitrailleuse, die Vorform des Maschinengewehrs. Die Aufstellung der französischen Armeekorps in Lothringen und im Niederelsass war für den geplanten Angriff gut vorbedacht.

Aber die französischen Dispositionen, die vom eng begrenzten militärischen Standpunkt prinzipiell richtig waren, scheiterten in der praktischen Durchführung. Entgegen den großsprecherischen Erklärungen des Kriegsministers war die französische Armee nicht marschbereit, es herrschte vielmehr ein organisatorisches Durcheinander, das die vorbereiteten Kriegspläne unwirksam machte. Vor allem versagte die Intendantur; überall mangelte es an Ausrüstungsgegenständen, und die Lebensmittel waren teilweise verdorben. Das war das Resultat einer jahrelangen Günstlingswirtschaft, die ihre Geschäfte zum Schaden der Armee und auf Kosten des Landes betrieb. Die Truppenoffiziere und Unteroffiziere, die einen lebhaften Anschauungsunterricht von den Veruntreuungen und Sorglosigkeiten der Staatsbeamten höheren Grades bekamen, antworteten mit der Vernachlässigung des eigenen Dienstes. Und da überdies die französische Armee von keinem begeisternden, vorwärtsweisenden Ziel getragen war, genügten ihre ruhmreiche Tradition und die urwüchsige Tapferkeit der Soldaten nicht, um alle Unbilden und Friktionen des Krieges durchzustehen."

 

Der nächste Sieg

 

Bismarck: „Wie die Dinge stünden, würde es Torheit sein, wenn man seinen Erfolg nicht voll ausnutzte. Die Franzosen seien ein neidisches, eifersüchtiges Volk. Sie hätten Königgrätz übelgenommen und nicht verzeihen können, das ihnen doch nichts geschadet habe, wie sollte irgendwelche Großmut von unserer Seite sie bewegen, Sedan uns nicht nachzutragen?“

 

„Mit dem Zusammenbruch des zweiten Kaiserreichs entfiel für Deutschland jeder Grund zur Weiterführung des Krieges. Frankreich konnte sich nicht mehr in deutsche Angelegenheiten einmischen, aber die liberalen und konservativen Kräfte in Deutschland wollten den Krieg weiterführen, um Gebiete zu annektieren und Frankreich nachhaltig zu schwächen. Die nationalistische Presse verlangte immer vernehmlicher die Annexion der Provinzen Elsass und Lothringen; auch in öffentlichen Kundgebungen sowohl im Norden als auch im Süden Deutschlands begann man von der Rückerwerbung der alten deutschen Grenzgebiete zu sprechen. Bereits am 13. Juli schrieb als Erste die „Berliner Börsenzeitung“, dass es nun keinem Deutschen mehr möglich wäre, Straßburg eine französische Stadt bleiben zu lassen.

Bismarcks Grundauffassung der Annexionsfrage geht indirekt aus einer Bemerkung während der Kapitulationsverhandlungen hervor. Damals sagte er dem französischen General: „Frankreich wird unter allen Umständen für die Ereignisse der letzten Wochen an uns Rache zu nehmen bestrebt sein, und dazu müssen wir uns schon jetzt vorbereiten, auch die nötige Stellung uns erwerben.“ Bismarck konnte an eine Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland nicht glauben. Daher war er militärischen und ökonomischen Überlegungen zugänglich, die auf eine Annexion französischer Provinzen hinausliefen, obwohl ihm immer wieder Bedenken kamen, was die außenpolitische Zweckmäßigkeit eines solchen Vorgehens anging, und er die feindlichen Ressentiments der Elsässer und Lothringer sehr wohl kannte. Dieser Zwiespalt enthüllte sich in Äußerungen gegenüber Moritz Busch vom 4. September und gegenüber Keudell am 6. September, als er die Erwerbung von Elsass-Lothringen für „politisch unerwünscht“, aber den Besitz der Festungen Straßburg und Metz für notwendig hielt, um den Franzosen einen neuen Angriffskrieg zu erschweren. Dazu sollten bei der unfreundlich gestimmten Bevölkerung Elsass-Lothringens vollendete Tatsachen geschaffen werden, wie Bismarck in seinem Immediatbericht vom 12. September 1870 ausführte: „Politisch ist es nach meiner Ansicht von großer Wichtigkeit, die Provinz, deren Abtretung wir von Frankreich verlangen werden, sobald als irgend möglich zu besetzen und unter eine starke Verwaltung zu stellen, wenn auch einstweilen die Hauptstadt der Provinz noch nicht in unserer Gewalt ist. Je rascher und fester wir uns in der letzteren einrichten, umso bestimmter werden wir den Einwohnern derselben wie dem Ausland unseren Willen bekunden, sie zu behalten.“

Außenpolitisch beruhigte Bismarck zunächst Petersburg über die beabsichtigte Annexion, indem er am 16. September 1870 seinem Botschafter Heinrich VII. Prinz Reuß mitteilte: „Wir fordern Elsass und Lothringen nicht als Vindikation alten Besitzes, wie man von einer Seite dem Kaiser einreden zu wollen scheint, um ihn für die baltischen Provinzen besorgt zu machen, was lächerlich ist; nur Deckung gegen den nächsten Angriff wollen wir.“

Aber im französischen Volk war der Wille zum Widerstand gegen deutsche Annexionsabsichten sehr stark. Es zeigte sich, dass Frankreich nicht mehr so isoliert war wie zu Beginn des Krieges. England, besonders aber Österreich und in gewissen Grenzen auch Russland waren nicht bereit, eine weitergehende Schwächung Frankreichs zu dulden. Dennoch kamen die neutralen Mächte Europas nicht dazu, geschlossen aufzutreten, weil die russische Regierung am 31. Oktober die Bestimmungen des Pariser Vertrages vom Jahre 1856 über das Schwarze Meer kündigte. Dies war vor allem gegen England gerichtet."

 

„Sedan hatte den Sturz des napoleonischen Kaiserreichs zur Folge gehabt und war doch keine Entscheidungsschlacht. Der preußische Generalstab, der einen langen Krieg vermeiden wollte, lief Gefahr, ihn durch seine Forderungen nach Annexionen jetzt doch herbeizuführen. Jedenfalls waren selbst nach den vernichtenden Niederlagen Frankreichs seine materiellen und moralischen Hilfsquellen noch nicht erschöpft. Es bewahrheitete sich die These von Clausewitz, wonach der Verteidigungskrieg die stärkere Form des Krieges sei, ebenso wie die Meinung, dass bei der Eroberung eines großen Landes die Schwierigkeiten der Besetzung geometrisch wachsen, während der Umfang des besetzten Gebietes arithmetisch zunimmt. Entgegen Moltkes Vorstellung vom kurzen Kriege zeigte sich die Möglichkeit, dass sich der bewaffnete Kampf zwischen zwei ökonomisch starken und volkreichen Ländern dann zäh und verlustreich hinzieht, wenn beide Staaten gewillt oder gezwungen sind, ihn zu Ende zu führen."

 

„Das Scheitern des nochmaligen Ausfalls der Pariser Armee am 19. Januar war für die Provisorische Regierung Anlass gewesen, die Kapitulation zu beschließen. In einem Immediatbericht vom 14. Januar hatte Bismarck die Frage erörtert, mit wem Preußen in Fragen des Waffenstillstands und des Friedens überhaupt zu verhandeln hätte. Er war geneigt, mit bonapartistischen Elementen ein Arrangement zu treffen. Doch ungeachtet solcher Wünsche musste er nüchtern feststellen, die Republik habe „den Vorzug, daß sie vorhanden ist“. Danach war es nicht mehr verwunderlich, dass Bismarck dem Ersuchen Jules Favres, des Außenministers der Provisorischen Regierung in Paris, nach einer Unterredung stattgab; sie erfolgte am 23. Januar in Versailles. Hier verhandelt der „Zivilist im Kürassierrock“, wie Bismarck von den Generalstabsoffizieren bespöttelt wurde, mit dem französischen Advokaten, der zur empathischen Rhetorik neigte, über den Abschluss eines Waffenstillstands. Auf beiden Seiten waren also die Spitzen der Armee bei der Verhandlung über eine militärische Frage zunächst ausgeschaltet …

Noch am Abend des 26. Januar setzte Bismarck - gleichsam in der Rolle des obersten Befehlshabers - den Generalstabschef Moltke von der mit Favres verabredeten Einstellung des Geschützfeuers um Mitternacht in Kenntnis. Am 28. Januar waren beide Seiten nach internen Beratungen so weit, den Waffenstillstand abzuschließen. Die Linientruppen, die Paris verteidigt hatten, wurden mit Ausnahme einer Division entwaffnet und die meisten hauptstädtischen Forts ebenso wie die Artillerie den Preußen übergeben. Die preußisch-deutschen Truppen kontrollierten nur vorübergehend den westlichen, vornehmlich von Bürgern bewohnten Teil von Paris bis zur Place de la Concorde; weder das eigentliche Zentrum noch die Arbeiterviertel wurden besetzt, was bedeutete, dass die im Wesentlichen aus Proletariern bestehende Nationalgarde intakt und bewaffnet blieb. Ihre Entwaffnung überließ Bismarck der Provisorischen Regierung. Schon die damalige Presse vermerkte, dass Bismarck und Moltke sich hüteten, die preußisch-deutschen Truppen in den Pariser Hexenkessel zu bringen.

Offensichtlich wollte Bismarck das Geschäft der Niederringung der Pariser Arbeiter der neuen bürgerlich-republikanischen Regierung Frankreichs überlassen. Schon im September 1870 hatte er in einem Brief an seinen Sohn Herbert geschrieben, wenn die deutschen Truppen zu früh in Paris einrückten, „so verhinderten wir damit, dass sie sich untereinander entzweien. Lange kann ihr innerer Frieden mit ihrer ziemlich sozialistischen Gesellschaft an der Spitze nicht dauern.“"

 

Pariser Kommune

 

„War schon der Beschluss dieser Nationalversammlung, nicht in Paris zu tagen, eine Beleidigung der kampf- und leidgeprüften Hauptstadt, so folgte die zweite Provokation, als in der Nacht des 18. März Thiers seine Truppen ausschickte, damit sie der Pariser Nationalgarde die Kanonen entwendeten. Jetzt wurden die hauptstädtischen Arbeiter gezwungen, die schon lange propagierte Gemeindefreiheit, die Kommune von Paris, von der Parole in die Tat umzusetzen. Daraus erwuchs binnen kurzem jene weltgeschichtlich wie ein Fanal wirkende Arbeiterregierung. Sie wurde nach zwei Monaten gestürzt, nicht zuletzt, weil das Oberkommando der deutschen Armee vor Paris nach einer Absprache mit dem Stabschef Mac-Mahons es zuließ, dass die Versailler Truppen Paris über St. Denis von Norden her, mitten durch die deutschen Linien, angreifen konnten. In der „Blutwoche“ vom 21. bis 28. Mai 1871 und unter voller Verantwortung von Adolphe Thiers, des Gegen- und zugleich Mitspielers von Bismarck, wurden Kommunarden an der Mur des fédérés, in den Arbeitervierteln von Belleville und am Montmartre zu vielen Tausenden erschossen. Gefangene wurden nicht gemacht oder auf ferne Inseln verbannt."

 

Reichsgründung

 

„Noch während die nord- und süddeutschen Soldaten in Frankreich kämpften, begannen im Herbst 1870 langwierige Verhandlungen vornehmlich mit den Regierungen in München und Stuttgart, weil man allen Partikularismen zum Trotz doch noch ein nationalstaatlich geeintes Deutschland zustande zu bringen suchte. Bismarck wollte das durch Anschluss der süddeutschen Staaten an den Norddeutschen Bund und Annahme seiner nur geringfügig zu modifizierenden Verfassung erreichen. Süddeutsche Monarchisten und Partikularisten, die angesichts des im Kriege gewachsenen Nationalbewusstseins in die Defensive geraten waren, erwogen verschiedenste Verfassungsprojekte für einen neuen Bund. In Bayern waren natürlich die Vorstellungen einer stark föderalistischen Staatseinheit am ausgeprägtesten. Auch schien den süddeutschen Dynastien die Stunde gekommen zu sein, territoriale Veränderungen und Grenzkorrekturen zu erreichen. In München dachte man daran, die badische Pfalz der linksrheinisch bayerischen zuzuschlagen und den Großherzog in Karlsruhe mit elsässischem Gebiet zu entschädigen. Bismarck ging auf solchen „Seelenschacher“ gar nicht ein.

Die ersten Unterhandlungen mit München, wohin auch der württembergische Minister kam, führte Rudolph Delbrück, engster Mitarbeiter Bismarcks im Bundeskanzleramt. Das war bereits im September 1870; im Oktober beantragte Baden seine Aufnahme in den Norddeutschen Bund - dieses Mal im Einverständnis mit Bismarck, und von ihm unter der Hand veranlasst. Durch die Siege in Frankreich hatten sich die Machtverhältnisse in Deutschland so geändert, dass Badens Antrag nicht mehr, wie noch im Frühjahr 1870, die bundesstaatliche Einigung erschwerte. Frankreich war nicht mehr in der Lage, ein Veto einzulegen, und Bayerns Gegenmanöver waren im Herbst kaum noch zu fürchten. Vielmehr vermochte jetzt Preußen Druck auszuüben, zunächst auf Hessen. Dort herrschte zwar nach wie vor ein preußenfeindlicher Großherzog und neben ihm der nicht anders gestimmte Minister Freiherr von Dalwigk. Aber angesichts des Einheitsstrebens und des Thronfolgers am Hofe musste Dalwigk nachgeben und dem Antrag auf Annahme in den Norddeutschen Bund zustimmen.

Widerstände der süddeutschen Fürsten brach Bismarck nicht mit Hilfe der Volksmeinung, sondern mit dem Mitteln der diplomatischen Intrige und auch der Korruption. Doch ganz fremd war ihm der Gedanke an einen Druck von unten gegen die dynastischen Frondeure und intrigierenden „Tintenkleckser“ auch wieder nicht. Als sie ihn zu sehr peinigten, schrieb er noch kurze Zeit vor Abschluss der Verfassungsverträge an seinen Sohn Herbert: „Wenn nicht ein deutsches Unwetter dazwischen fährt, so wird mit diesen Diplomaten und Bürokraten der alten Schule nichts zu Stande kommen, wenigstens in diesem Jahre nicht.“

Der Abkommen mit den süddeutschen Dynastien kamen doch zustande. Preußens Übergewicht war zu stark. Wie es auch juristisch formuliert sein mochte, praktisch traten sie dem Norddeutschen Bund bei, dem man zunächst den Namen Deutscher Bund gab. Nur einige Reservat- oder Sonderrechte im Militär-, Steuer und Verkehrswesen konnten sich die württembergischen und bayerischen Herrscher erhandeln. Den Bayern musste Bismarck am meisten zugestehen; der König behielt seine eigene Armee und damit die gesonderte Ausbildung und Erziehung der Offiziere. Gegenüber Vorhaltungen, er hätte hier zu viele Zugeständnisse gemacht, meinte Bismarck, am Münchner Kadettenkorps dürfe das Deutsche Reich nicht scheitern. Bayern reservierte sich noch sein eigenes Heimat- und Niederlassungsrecht, und wie Württemberg und Baden hatte jedes dieser Länder seine eigene Eisenbahn. Der bayrische Vorsitz im Bundesratsausschuss für auswärtige Angelegenheiten schien beachtlich zu sein, stellte sich aber später als bedeutungslos heraus, ebenso das Zugeständnis an die süddeutschen Könige, ihre dynastischen Herrschaftszeichen in Gestalt der Briefmarken zu behalten, auf denen ihre Köpfe oder die ihrer Prinzregenten bis zur Novemberrevolution 1918 zu sehen waren. Doch welche Reichtümer und Hoheitsrechte den Fürsten Nord- und Süddeutschlands nach 1871 auch verblieben, ihre politische Macht war durch die Revolution von oben gebrochen.

Erst nach Abschluss der Verfassungsverträge machte Bismarck die Kaiserfrage zum Verhandlungsgegenstand mit den süddeutschen Fürsten. Es galt vor allem, den eifersüchtigen Stolz des Bayernkönigs zu beachten und auszunutzen. Eitle Leute seien „traitabel“, das war stets Bismarcks Meinung, daher wagte er den Versuch, den schwierigen Bayern-König an der Spitze des nach Preußen größten deutschen Staates dafür zu gewinnen, Wilhelm I. die Kaiserkrone anzutragen. Bei diesem von Bismarck hinter dem Rücken des Preußenkönigs vorbereiteten Plan half ihm der bayrische Oberst-Stallmeister Graf Holnstein. Die Szenen dieses Intrigenstücks spielten sich vornehmlich in Versailles ab. Dort gab der Bundeskanzler dem hochgestellten Boten gleich drei Schriftstücke für König Ludwig mit. Das amtliche Schreiben war von Superlativen umrahmt, vom Beginn: „Allerdurchlauchtigster Großmächtigster König!“ bis zur Schlussformel: „In tiefer Ehrfurcht ersterbe ich Eurer Majestät untertänigster treugehorsamster Diener v. Bismarck“. Die Kernsätze des Schreibens lauteten: „Bezüglich der deutschen Kaiserfrage ist es nach meinem ehrfurchtsvollen Ermessen vor allem wichtig, daß deren Anregung von keiner andern Seite wie von Eurer Majestät und namentlich nicht von der Volksvertretung zuerst ausgehe. Die Stellung würde gefälscht werden, wenn sie ihren Ursprung nicht der freien und wohlerwogenen Initiative des mächtigsten der dem Bunde beitretenden Fürsten verdankte.“ Im Privatbrief appellierte Bismarck an König Ludwig als den Nachfahren der wittelsbachischen Markgrafen im Brandenburg des 14. Jahrhunderts, deren „besonderes Wohlwollen“ seine Vorfahren „während mehr als einer Generation“ genossen. Damit brachte er so etwas wie nie erstorbenes Vasallentum des Brandenburgers gegenüber dem Wittelsbacher ebenso verklärend wie berechnend in Erinnerung.

Das dritte von Holnstein übermittelte Schriftstück war der Entwurf jenes Briefes, den Ludwig II. an König Wilhelm I. richten sollte - was dann auch tatsächlich mit einigen Änderungen geschah. Mit diesem sogenannten Kaiserbrief kehrte der bayrische Oberst-Stallmeister zum Bundeskanzler ins Hauptquartier nach Versailles zurück. Den königlich-bayrischen Diensteifer vergoldete Bismarck ansehnlich. Ludwig II. erhielt für seine Privatschatulle geheime Jahresdotationen, die sich insgesamt auf etwa 4 Millionen Mark beliefen. Graf Holnstein bekam für seine Vermittlung eine Provision von, wie man später munkelte, 10 Prozent. Von der Bestechlichkeit des gräflichen Abgesandten aus Bayern wusste Bismarck schon vor Ausbruch des Krieges. Die preußische Gesandtschaft in München hatte ihm berichtet, dass Holnstein als der „bayrische Morny“ bekannt sei, womit auf den Halbbruder Napoleons III. angespielt wurde, der als Personifikation monströser Bereicherungssucht galt.

Ohne jede Ahnung, wie Bismarck die Sache eingefädelt hatte, erhielt König Wilhelm den Kaiserbrief. Er war erfreut, dass der Erste der Reichsfürsten ihm den Kaisertitel antrug und damit die Form der Legitimität wahrte. Doch zugleich dämmerte dem Hohenzollern instinktiv, dass mit der Erweiterung der preußischen Hegemonie, des Norddeutschen Bundes zum „Deutschen Reich“ und der Ersetzung des prosaischen Titels eines Bundespräsidenten durch den des „Deutschen Kaisers“ das traditionelle Preußentum doch Schaden nehmen würde – langsam, aber sicher

Bismarck aber lag vor allem daran, dass das neu erstehende Reich durch den Kaisertitel ein Integrationssymbol erhalte. Wie immer in Zeiten historisch bedeutsamer Entscheidungen, hatte der Bundeskanzler mit seinem königlichen Herrn wieder einmal seine Mühsal. So schrieb er am 12. Dezember 1870 seiner Frau: „Mich plagen die Fürsten mit ihrer Geschäftigkeit und auch mein allergnädigster mit all den kleinen Schwierigkeiten, die sich für ihn in der sehr einfachen Kaiserfrage an fürstliche Vorurtheile und Kinkerlitzchen knüpfen.“

Der Reichstag des Norddeutschen Bundes hatte wie alle Länderparlamente die neue Reichsverfassung anzunehmen, die im Wesentlichen der eben dieses Bundes glich. Die Abänderungen bezogen sich fast ausschließlich auf die Sonderrechte der süddeutschen Fürsten. Außerdem wählte der Reichstag eine Deputation von 30 Abgeordneten, um eine Adresse an den König zu überreichen, mit der „Bitte, daß es Eurer Majestät gefallen möge, durch Annahme der deutschen Kaiserkrone das Einigungswerk zu weihen“. Bevor aber diese „dreißig Kerle“, wie sich das Gefolge unter sich titulierte - ihre „untertänigste Bitte“ der Majestät vortragen durften, mussten sie in Versailles zwei Tage warten, bis nämlich die Zustimmungen aller deutschen Fürsten zur Kaiserwürde Wilhelms I. eingetroffen waren. Vorher wollte Wilhelm I., anders als sein Bruder Friedrich Wilhelm IV. 1849, mit den Parlamentariern nicht einmal zusammentreffen. Nach langen Streitereien über Titel, Wappen, Flagge, Benennungen kam endlich die Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 zustande an jenem Tage, da Friedrich I. im Jahr 1701 in Königsberg zum preußischen König gekrönt worden war.

Im Spiegelsaal des Versailler Schlosses versammelten sich Fürsten, Prinzen, Generäle und Offiziere. Abordnungen der Regimenter mit ihren Fahnen waren erschienen; das deutsche Volk fehlte. Die Hofpredigt und die kaiserliche Proklamation, die den Saal erfüllten, befassten sich in selbstgerechtem Pathos mit der kriegerischen Ruhmessucht Ludwigs XIV., in dessen Prachtschloss sich alle versammelt hatten …

Bis zum letzten Augenblick hatte sich König Wilhelm I. gegen den Titel „Deutscher Kaiser“ gewehrt, um durch Beiwort nicht den Anschein zu erwecken, als ob das Preußische im Deutschen aufgehen sollte; „Kaiser von Deutschland“ hatte er heißen wollen, da ihm wohl daran gelegen war, über Deutschland zu herrschen, aber zugleich sagen zu können: Preuße bin ich und Preuße will ich bleiben! Sein Schwiegersohn, der badische Großherzog Friedrich, umging die Schwierigkeiten, indem er kurz vor der Eröffnung der Feier mit Bismarck absprach, den „Kaiser Wilhelm“ hochleben zu lassen. Am Ende der Proklamation schritt Wilhelm an seinem Kanzler vorbei, ohne ihn eines Blickes oder Wortes zu würdigen, und drückte den anderen Großen des alten Preußen und des neuen Kaiserreiches die Hand. Kam in dieser demonstrativen Szene nur der Ärger des Augenblicks zum Ausdruck? Die Szene in Versailles symbolisierte nicht den ersten Konflikt, in den der Monarch mit seinem Minister geraten war.

An allen historischen Wendepunkten – 1864, 1866, 1870/71 - musste Bismarck entweder hinter dem Rücken seines Königs handeln oder seinen Widerstand brechen. Das alles war unvermeidlich, weil hier zwei voneinander abhängige Persönlichkeiten wesensverschieden waren. Bismarck hatte stets eine konkrete und situationsbezogene Konzeption erarbeitet; Wilhelm hatte nie eine solche, sondern nur allgemeine Prinzipien, mit denen der harten und komplizierten Wirklichkeit letztlich nicht beizukommen war. Bismarck war auch adels- und preußenstolz, dennoch nüchterner Realpolitiker; Wilhelm dagegen teils sentimental-legitimistischer, teils prestigebedachter Moralist. Recht schwach in seiner Fähigkeit entwickelt, die Dinge zu sehen wie sie sind, ersetzte König Wilhelm konsequentes Denken durch moralisierenden Eigensinn, der stets durch die Macht der Verhältnisse und mit größter Mühsal gebrochen werden musste.

Drei Kriege sind unter Bismarcks politischer Leitung von 1864 bis 1870 geführt worden und keinen hat der spätere „Heldenkaiser“ politisch recht verstanden. Er musste 1864 von Bismarck mit allen diplomatischen Finessen gegen den Augustenburger aufgebracht werden, um mit seinem monarchischen Legitimitätsdenken nicht das ganze politische Konzept zu verderben. Bis zuletzt sträubte er sich 1866 gegen die Auseinandersetzung mit Österreich; so lange, bis Bismarck ihn wieder mit allen Künsten in die Position des Beleidigten und in seiner Ehre Gekränkten hineinmanövriert hatte. Von den Hintergründen der spanischen Thronfolgekandidatur, bei der er von Anfang an widerstrebte, begriff er nichts. Und auch in den dritten Krieg, den politisch denkende Diplomaten schon 1866 voraussahen, ging er unwissend und daher mit dem ihm so nötigen guten Gewissen. Drei Kriege, drei Siege, dreimal gefeiert ein tumber Tor!"

 

„Die große Zahl der Stimmen für die Parteien des großen und mittleren Kapitals und der nationalstaatlichen Einigung zeigte noch einmal, dass die demokratische Revolution von unten 1848/49 und ihre letzte, wenn auch geringe Chance von 1866 entscheidende Niederlagen erlitten hatten. Der historische Fortschritt konnte sich danach nur in der Form der Revolution von oben vollziehen. Der königlich-preußische Revolutionär Bismarck war, wie ihm selbst Karl Marx zugestand, Testamentsvollstrecker der Revolution von 1848, zugleich aber auch Bewahrer ihrer Konterrevolution, insofern er die Prärogative der Krone allzeit entschlossen verteidigte.

In dieser Dialektik von Revolution und Konterrevolution steckte sowohl die Negierung des Absolutismus als auch des Liberalismus. In den Jahren von 1866 bis 1871 entstand etwas Drittes: Fasst man sowohl die Verfassungsurkunde als auch die Verfassungswirklichkeit ins Auge, dann erweist sich der schon damals entstandene Begriff des Bonapartismus als zutreffende Kennzeichnung der neuen Herrschaftsform. So verschieden einzelne Erscheinungen des Napoleonismus und des preußisch-deutschen Hegemonialsystems waren, sie zeigten doch gleiche Wesenszüge; beide übernahmen die Aufgabe, den Industriekapitalismus der freien Konkurrenz durchzusetzen, stützen sich vornehmlich auf die Armee und versuchten, somit machtgeschützt, zwischen den sozialen Kräften und politischen Institutionen zu lavieren und sie im Gleichgewicht zu halten. Die Voraussetzung dieser modernen bonapartistischen Diktatur war die Schwäche der einzelnen Klassen. In Deutschland war das ostelbische Junkertum, der grundbesitzende Kern des Adels, schon aus ökonomischen Gründen nicht mehr in der Lage, die ausschließliche Herrschaft im Staate auszuüben. Das Bürgertum hatte in der Revolution von 1848/49 eine solch folgenreiche Niederlage erlitten, dass es sein ökonomisches Erstarken nur noch ausnutzte, um bei den herrschenden Gewalten wirtschafts- und nationalpolitische Konzessionen durchzusetzen. Für die Arbeiterbewegung aber war, trotz aller organisatorischen und politischen Fortschritte, die Zeit der Revolution noch nicht gekommen.

Die soziale und politische Entwicklung des preußisch-deutschen Bonapartismus brachte eine bemerkenswerte Eigenart hervor. Sein Bonaparte hatte, wie sich Engels einmal ausdrücke, drei Köpfe „wie der alte slawisch-pommersche Götze Trieglaw“. In diesem Dreierverhältnis war der König der unvermeidliche Repräsentant, Moltke der gebildete moderne Heerführer, Bismarck der „Majordomus“, der „moderne Richelieu“, wie ihn die Generalstabsoffiziere, die „Halbgötter“, insgeheim mit Bewunderung nannten.

Bismarck hat sich seine Majordomus-Stellung wohl verdient. Unbefriedigt in der Enge seines altmärkisch-pommerschen Junkertums, trieb es ihn schon früh in die Weite der großen Welt hinaus. Bald hatte er erkannt, dass da nicht nur Könige und Hochadlige agierten, sondern auch Bankiers und Industrielle. Mit ihnen war zu rechnen, ihre Interessen mussten berücksichtigt werden, schon weil anders die des Landadels, der Krongewalt und der Armee nicht gewahrt werden konnten. Diese realpolitische Erkenntnis, die ihn von den meisten seiner Standesgenossen abhob, verstand er in einfallsreiche und klug abwägende, in ebenso phantasievolle wie raffinierte Politik umzusetzen, die alle Kraft seines Wesens forderte: seine Kombinationsfähigkeit und seine kritische Menschenkenntnis, sein dynamisches Naturell, sein Gottvertrauen und den Teufel in seinem Leibe."

 

„Fünf Wochen nach der Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Versailler Schlosses wurde Frankreich ein harter Vorfrieden aufgenötigt. Otto von Bismarck war gefeiert, bewundert, auf jeden Fall respektiert, aber auch gehasst.

Wie aber war dem Sieger selbst zumute? An der endgültigen Festlegung der Grundforderungen des Vorfriedens brauchte er nicht zu zweifeln, noch hatte er eine Wiederaufnahme des französischen Widerstandes zu befürchten, selbst die Pariser Kommune sollte bald die Präliminarien akzeptieren. Nicht einmal eine Einmischung der europäischen Großmächte in die deutsch-französischen Verhandlungen war zu erwarten. Im März 1871 ging zudem noch die Londoner Pontuskonferenz zu Ende, die die im Pariser Frieden von 1856 Russland auferlegte Entmilitarisierung des Schwarzen Meeres wieder aufhob, also dem quasi Verbündeten Preußen-Deutschlands einen beachtlichen Erfolg brachte."

 

Deutsches Reich

 

Gründerzeit

 

„Das Mit- und Gegeneinander der sozialen und politischen Kräfte im werdenden Alt-Preußen zersetzenden Deutschen Reich ist erst vom Wirtschaftlichen her annähernd zu verstehen. Eigentlich datiert der Aufschwung seit der Überwindung der Krise von 1866, der deutsch-französische Krieg unterbrach ihn nur; dann setzte sich der Aufwärtstrend in Industrie und Landwirtschaft in einer Steilkurve fort. Überdies wurde die Konjunktur überhitzt durch die im Friedensvertrag von Frankreich geforderten und wider Erwarten schnell ins Land geflossenen rund 5 Milliarden Goldfranken, die umgerechnet 4,2 Milliarden Mark erreichten, eine dreimal so hohe Summe wie das Umlaufgeld im Deutschen Reich. Über die Hälfte dieser Reparationen, rund 2,2 Milliarden Mark, wurde ausgegeben, um das Landheer und die Kriegsmarine modern auszurüsten, die Festungen zu erweitern und neu zu bestücken.

Von dem Geld aus Frankreich profitierten vor allem die Unternehmer in Deutschland, die in der Rüstungsindustrie engagiert waren: der „Kanonenkönig“ Krupp in Essen, aber auch Gruson in Magdeburg und Hartmann in Chemnitz, ferner solche Berliner Industrielle wie Borsig, der strategische Eisenbahnlinien baute, und Schwartzkopff, der neben Maschinen auch Torpedos produzierte; schließlich Siemens und Halske, deren Telegraphen ihren Nutzen für das Heer bewiesen hatten.

Auch auf dem Wege der Begleichung von Staatsschulden und Kriegsanleihen flossen in die Wirtschaft hohe Summen, die das disponible Kapital vermehrten. Die Bildung solcher Reichsfonds wurde mit der gesetzlichen Bestimmung verbunden, die Summen industriell anzulegen. Deutsche Bankhäuser, allen voran die Hansemannsche Disconto-Gesellschaft, taten das, indem sie diese Fonds durch Schuldverschreibungen und Eisenbahnprioritäten verwerteten.

Im Zuge der profitablen Umsetzung der französischen Milliarden wurde die wirtschaftspolitische Gesetzgebung weiter ausgebaut. Damit sich die ökonomische Dynamik in Richtung eines modernen, gewissermaßen großmachtwürdigen Industrielandes durchsetzen konnte, mussten alle aus der Zeit des Absolutismus und der Zersplitterung Deutschlands herrührenden Hemmnisse beseitigt werden. Die Planung und Durchführung dieses gesetzgeberischen Werkes wurden dem „Generalstabschef der Freihändler“, Rudolph von Delbrück, übertragen. Als Präsident des Bundeskanzleramtes seit 1868 und des Reichskanzleramtes seit 1871 war er Stellvertreter und engster Mitarbeiter Bismarcks.

Preußische Traditionen der Staatsergebenheit und des Wirtschaftsliberalismus verkörpernd, war Delbrück wie geschaffen dafür, den Liberalen zwar nicht Herrschaft, aber „einflußreiche Beratung“ zu gewährleisten."

 

Vereinheitlichung

 

„Nach Inkrafttreten des Münzgesetzes vom Dezember 1871 ging es mit den sieben verschiedenen Währungsgebieten und 33 Notenbanken allmählich zu Ende; die Mark galt als Währungseinheit in ganz Deutschland, bis 1878 wurden die verschiedenen Landesmünzen eingezogen. Gleichzeitig leitete man den Übergang zur Goldwährung ein, der auch durch den Zufluss der französischen Goldkontributionen erleichtert worden war. Durch Umwandlung der Preußischen Bank in die Reichsbank wurde die Münzhoheit gesichert. Zu den Zentralisationstendenzen gehörte auch die einheitliche Regelung des Handels- und Strafrechts.

Wesentlich beteiligt an der Münz- und Bankgesetzgebung war der Nationalliberale Ludwig Bamberger, einst Teilnehmer an der 48er Revolution, in der Pariser Emigration zum reichen Bankier geworden und 1870 Mitbegründer der Deutschen Bank. Er hatte bereits 1867 eine französisch verfasste Studie „Monsieur de Bismarck“ veröffentlicht und diesen königlich-preußischen Politiker - allen illiberalen Zügen seines Wesens zum Trotz - als letzten Endes im Dienste der 1789 begonnenen bürgerlich-kapitalistischen Revolution gesehen. So hatte er sich - wohlüberlegt – Bismarck genähert, der die Chance erkannte und Ludwig Bamberger im August 1870 und noch einmal im Spätherbst ins preußisch-deutsche Hauptquartier einlud, um dort mit ihm unter anderem journalistische Arbeiten zu verabreden. Die Zusammenarbeit dieser sonst verschiedenen Politiker war während und nach dem Kriege möglich geworden, weil beide aktuelle Probleme in gleicher Weise lösen wollten: Sie berücksichtigten konkrete Interessen und gingen dabei von der unmittelbaren, durch Erfahrung geschärften Anschauung aus, nicht von theoretischen Abstraktionen."

 

Goldgräber-Stimmung

 

In der Tat, viele Gründungen gingen von einem realen Bedürfnis aus und wurden möglich, weil in der Gesamtwirtschaft so viel Kapital freigeworden war, dass es in Gestalt von Aktien in anderen Unternehmen angelegt werden konnte. Oft genug aber war eine sogenannte Gründung auch Vorwand zu schamloser Börsenspekulation. Das Entscheidende waren dann nicht die produktiven Anlagen, sondern die hohen Aktienkurse. In der Regel wandte sich ein geldsuchender Unternehmer an ein Bankhaus, das die einzelnen Ermittlungen (Zweck, Termin, Provision, Gewinn) anstellte und dann die Börse und die Presse für freie Aktien interessierte. Um die Kurse hochzutreiben, mussten sowohl der Wirtschafts- als auch der Inseratenteil der Zeitungen für reißerische Empfehlungen der aufgelegten Werte herhalten. So war für die Aktienemission das Zusammenwirken des Dreigestirns Bank - Börse - Presse unentbehrlich. Die Agiotage, also die Ausnutzung des über dem nominellen Wert einer Aktie stehenden Betrages zur Börsenspekulation, war der eigentliche Zweck vieler Beteiligungen. Allein im Jahr 1872 wurden in Preußen fast doppelt so viele Aktiengesellschaften gegründet wie in den Jahrzehnten von 1801 bis 1870. Diese rasante Zunahme lässt schon vermuten, dass hier, wie Engels ausgeführt hatte, Quantität in Qualität insofern umschlug als von jetzt an die Aktiengesellschaft gleichsam die erste Potenz der späteren Monopolvereinigungen wurde.

Wenn die Form der Aktiengesellschaft bisher nur für Eisenbahnen, Versicherungen und größere Montanunternehmen üblich war, so verbreitete sie sich jetzt auf die ganze Industrie und das Bankwesen. Bei Gründern und Spekulanten rückten die Bankiers an die erste Stelle. In Preußen entstanden 1872 allein 49 Banken und Kreditinstitute mit einem Kapital von 345,6 Millionen Mark. Die bedeutendsten Banken in Deutschland in der Reihenfolge ihrer Gründung waren: die Disconto-Gesellschaft (1851), die Darmstädter Bank (1853) die Deutsche Bank (1870) und die Dresdner Bank (1872). Neben diesen sogenannten D-Banken, die unabhängig von ihrem juristischen Sitz ihre Verwaltungszentrale in Berlin hatten, besaßen die Privatbank S.Bleichröder und später die Berliner Handels-Gesellschaft beträchtlichen Einfluss. Diese Großbanken hatten engste Beziehungen zu Regierungsvertretern wie auch zu Abgeordneten. Bleichröder war nach der Reichsgründung mehr denn je das finanzpolitische Faktotum Bismarcks, beriet alle Pläne mit dem Kanzler und verwaltete den Welfenfonds, also die Zinsen, die das 1868 von der preußischen Regierung beschlagnahmte Vermögen des entthronten Königs Georg von Hannover einbrachte und die auch der Korrumpierung von Zeitungen dienten. Nachdem Bismarck angeblich oder wirklich bestechliche Journalisten als „Reptilien“ bezeichnet hatte, gab er das Stichwort für die abschätzige Bezeichnung des Welfenfonds als „Reptilienfonds“.

 

Wirtschaftlicher Aufbau

 

Zweifellos förderte Bismarcks Herrschaft den Kapitalismus mit allen seinen ökonomischen und sozialen Fortschritten, aber auch seinen moralisch-politischen Verderbnissen. Von 1870 bis 1872 erhöhte sich die Industrieproduktion um rund ein Drittel, die Produktion von Roheisen um mehr als 40, die von Stahl um 80 Prozent. Am Wachstum der Steinkohleproduktion wurde die Intensität der Industrialisierung besonders deutlich. Das Ruhrgebiet weitete seine Grubenfelder nach Osten und Norden aus. Die höhere Produktion erreichte man weniger durch technische Verbesserungen als durch die Erweiterung der Belegschaft.

Der Maschinenbau stand noch am Anfang seiner großindustriellen Produktion; zunächst galt es, die englischen Lizenzbauten zu überwinden, also eigene Konstruktionen zu entwickeln. In der Textilindustrie stammte der Zuwachs an Kapazitäten nach 1871 aus Annexionsgewinnen, nämlich aus der Baumwollindustrie des Oberelsass. Sie brachte der deutschen Textilindustrie 56 Prozent mehr Spindeln, 88 Prozent mehr Webstühle und 100 Prozent mehr Druckmaschinen für Baumwollstoffe. Außerhalb des Elsass vergrößerten die Spinnereien und Webereien in Deutschland ihren Maschinenbestand auf der Grundlage der bisher bekannten Technik. Die Spinnereien erhöhten die Spindelzahlen und beschleunigten den Umlauf. In keinem anderen Industriezweig war jedoch die Hausindustrie so weit verbreitet wie in der Textilindustrie. Die Zahl der hier Beschäftigen übertraf um die Hälfte die der in mittleren und Großbetrieben Arbeitenden.

Innerhalb der Gesamtentwicklung der deutschen Industrie war schon damals zu erkennen, dass die Produktionsgüterindustrie schneller wuchs als die der Konsumgüter. Deutschland war unwiderruflich in die Phase des kapitalistischen Welthandels und der großen Industrie eingetreten. Diese Entwicklung trug wesentlich dazu bei, dass der Kapitalismus der freien Konkurrenz in den Jahren 1866 bis 1873 seinen Höhepunkt erreichte.

 

Börsen-Sturz

 

„Dem Berliner Börsensturz folgten weitere, bis schließlich alle Börsen in Deutschland betroffen waren. Was einzelne Beobachter vorausgesagt hatten, bewahrheitete sich: Die Ausdehnung der Industrieproduktion nach 1871 mochte zum Teil echten Bedürfnissen entsprochen haben, doch waren diese durch die kurzsichtigen Interessen „der Aktionäre, soweit sie Geldhändler“ waren, zu sehr forciert worden. Die Börsenkönige hatten in ihrem Gründer- und Spekulationseifer Menschen aus allen besitzenden Klassen und Schichten, von der kaiserlich-königlichen Familie bis zu den Inhabern von Tante-Emma-Läden, in ihre Geschäfte hineingezogen und alle Warnungen in den Wind geschlagen, allzu rasch und unbedacht in den Kreislauf der Wirtschaft gepumpt könnten die französischen Milliarden wie Drogen wirken und die Produktion weit über den Bedarf hinaus stimulieren. 1873 trat dann der große Kollaps ein.

Panik ergriff adlige und nichtadlige Spekulanten; große und kleine Geldjäger sahen sich plötzlich in einem für sie unverständlichen Unglück oder gar in die Schande des Bankrotts gestürzt, nicht selten kam allerlei Betrug ans Licht. Schuld erheischte Sühne! Vor allem Angestellte bekamen es zu spüren, die in der Zeit des Milliardenfiebers der Verlockung nicht widerstanden hatten, von den Gewinnen der Großen durch Unterschlagungen und Fälschungen auch etwas abzubekommen; sie wurden am ehesten gefasst, so dass Kassierer, Bankbeamte und Prokuristen in einer bis dahin noch nie dagewesenen Zahl ihr Leben mit Selbstmord oder ihre Karriere im Gefängnis beendeten. Auf die großen Spekulanten konnte der Betrugsparagraph des Reichsstrafgesetzbuches dagegen nicht angewandt werden, weil liberale Juristen sich erboten, ihnen durch spitzfindige Erörterungen ehrbares Tun zu bestätigen.

Viele Gründer, die vor Ausbruch des Banken- und Börsenkrachs jegliche Intervention entrüstet zurückgewiesen hätten, riefen nun nach Staatshilfe, verlangten die Wiedereinführung der von der Kriegszeit noch in Erinnerung gebliebenen Vorschusskasse oder die Ermächtigung für die Preußische Bank, wertgeminderte Aktien beleihen zu dürfen. Doch vorerst konnten nur „notleidende Institute“ unterstützt werden …

Als aber im Herbst eine Flut von Bankzusammenbrüchen hereinbrach, war es der Preußischen Bank nicht mehr möglich, für alle Bedrohten und Betroffenen Stützdämme zu bauen, weder materiell noch moralisch-politisch. Mit Recht sah die öffentliche Meinung in den zahlungsunfähigen Bankiers nicht Notleidende sondern Spekulanten die keine Staatshilfe verdienten. Die meisten der Gescheiterten blieben sich selbst überlassen und wurden auf die vielgepriesenen Selbstheilungskräfte der Wirtschaft verwiesen, was durchaus in der Logik des Kapitalismus der freien Konkurrenz lag.

Viele Unternehmer waren gezwungen zunächst die Produktion zu reduzieren, auf neue Kapitalanlagen weitgehend zu verzichten oder sich auf alte Projekte zurückzuziehen, die keine neuen Investitionen notwendig machten. Bauunternehmer wiederum, mit Bodenspekulanten vom Schlage eines Heinrich Quistorp verbunden, die nicht mehr zahlen konnten, entließen die Arbeiter und kündigten den Handwerkern, so dass die begonnenen Gebäude nicht mehr fertiggestellt wurden. Im Ganzen war dennoch der Kapitalrückgang durch Produktionsdrosselung geringer als der durch Preisverfall. Während die Produktionsmenge von 1873 bis 1874 um 5 Prozent sank, fiel der Wert der Produktion um 15 Prozent.

Man kann davon ausgehen, dass Otto von Bismarck den Krisenverlauf mit Aufmerksamkeit verfolgte, wobei ihm neben den Zeitungen, die er gründlich studierte, auch die Berichte der Regierungspräsidien und der Ministerialbeamten zur Verfügung standen; nicht zuletzt gewann er auch durch seinen Bankier Gerson Bleichröder gewisse Einblicke ins Börsenmilieu. Anders als nach dem Wiener Krach gab sich Bleichröder Ende Juli 1874 in einem Brief an Bismarck recht optimistisch: „Im geschäftlichen Leben ist es außerordentlich still, die Börsen wollen sich noch immer nicht erholen; doch ich denke, zum Spätherbst müssen die Course anziehen, weil das Publikum im Allgemeinen die Gewohnheit angenommen hat, lieber gut zu essen und zu trinken, als gut schlafen zu wollen.“

Das hier erwähnte „Publikum“ war offenbar der Kreis jener hartgesottenen Börsenjobber, von denen Bleichröder neue Aktivitäten erwartete - eine Sicht, die nicht auf die bewegenden, nur durch Analyse zu erfassenden Kräfte der ökonomischen Dynamik gerichtet war. Im Grunde war Bleichröder kein Wirtschaftspolitiker, sondern ein Geschäftsmann mit vielen Verbindungen, der zeitweilig auch diplomatische Dienste leisten konnte. In diesem Sinne war er Bismarck von Nutzen.

Die Hoffnung auf eine baldige Besserung des Konjunkturverlaufs erfüllte sich nicht. Von der Börse her war das überhaupt nicht möglich; vielmehr mussten die Relationen von Verbrauch, Preisniveau und Produktion in Ordnung gebracht werden. Von 1873 an sank beispielsweise der Roheisenverbrauch in Deutschland von Jahr zu Jahr, bis er schließlich 1879 fast um die Hälfte geringer geworden war, was etwa auch den Rückgang des Maschinen- und Apparatebaus entsprach. Da der Binnenmarkt nur noch ungenügend aufnahmefähig war, musste der Außenhandel mit schwerindustriellen Produkten forciert werden. Bei Roheisen stieg die Ausfuhr von 1872 bis 1878 von 151.000 auf 419.000 Tonnen, bei Schienen von 70.700 auf 207.000 und bei Maschinen von 37.300 auf 72.300 Tonnen.

Schon dieses Streiflicht auf einen Sektor der Schwerindustrie lässt erkennen, dass die Krisenerscheinungen vielgestaltig und durch Handlungen von Menschen zu modifizieren waren. Das zeigt auch ein Blick auf die Steinkohleproduktion, die nur vorübergehend um eine halbe Million Tonnen sank; ihr Wert ging jedoch auch bei erhöhter Produktion bis 1879 beständig zurück. Der langanhaltende Preisverfall für Steinkohle trieb die Unternehmer an, die Arbeit unter Tage mit den raffiniertesten Methoden zu intensivieren.

Auch außerhalb der Produktionsgüterindustrie versuchten die Unternehmer, ihre Fabriken zu modernisieren, die Arbeit zu intensivieren, die Löhne zu senken und Arbeiter zu entlassen. Diese trugen in jeder Hinsicht die Lasten des „Gesundschrumpfens“ in der Wirtschaft. Die Arbeitslosigkeit stieg von Jahr zu Jahr, sodass sie am Ende der Krisenphase 1873 bis 1879 in den Städten etwa 25 Prozent betrug.

Wenn insgesamt gesehen der Rückgang der Produktion um 5 bis 6 Prozent nicht sonderlich spektakulär war, dann war dies in hohem Maße dem Außenhandel zu verdanken, der von 1870 bis 1879 einen kaum unterbrochenen Aufschwung verzeichnete. Allerdings schätzten zeitgenössische Beobachter die Qualität der großen Masse deutscher Ausfuhrartikel gering ein.

Friedrich Engels, der sich als ehemaliger Fabrikant in der internationalen Geschäftswelt gut auskannte, schrieb noch 1884 an August Bebel: „Im ganzen bleibt die deutsche Industrie, was sie war: sie macht die Artikel, die den Engländern zu kleinlich, den Franzosen zu ordinär sind, aber endlich auf großem Maßstab; ihre Lebensquellen bleiben: 1. das Musterstehlen vom Ausland und 2. die Wegschenkung des eigentlichen Mehrwerts an den Käufer, wodurch allein sie konkurrenzfähig wird, und die Herauspressung eines missbräuchlichen Mehrwerts durch Druck auf den Arbeitslohn, wovon allein sie lebt.“

Ehrenwert waren also die drei Methoden, mit denen sich die deutschen Unternehmer auf dem Weltmarkt zu behaupten suchten, keineswegs, handelte es sich doch um Verstöße gegen so etwas wie Urheberrechte, um Dumpingpreis und schließlich Niedrigpreise durch Lohndruck. Schon acht Jahre vor Engels hatte der ebenso sachverständige wie gutbürgerliche Berliner Professor Franz Reuleaux die deutschen Produkte auf der Weltausstellung in Philadelphia 1876 mit dem berühmt gewordenen Urteil abgestempelt: Billig und schlecht!

Kein Zweifel, auch solche Kritiken führten dazu, dass sich auf der Grundlage der Rationalisierung und Mechanisierung, aber von Innovationen in der Produktion neben der Quantität ebenso die Qualität deutschen Industrieschaffens allmählich verbesserte. Damit ging die Senkung der Preise, technologisch begründet, Hand in Hand. Zugleich beschleunigte die akute Wirtschaftskrise (1873 bis 1879) innerhalb einer ungewöhnlich langen Depression (1873 bis 1896) die Konzentration der Produktion und des Kapitals weit mehr als alle ihre Vorgänger. Es bildeten sich Großunternehmen heraus, die mit einer umfangreichen Produktion auch mehr Mitarbeiter in ihren Fabrikationsstätten beschäftigten. Zugleich wurden durch Kapitalkonzentration die Großbanken noch mächtiger; während kleinere, weniger entwickelte, verschwanden."

 

Vom Liberalismus zum Schutzzollsystem

 

„Die Industriekrise wurde durch die seit 1875 wirkende Agrarkrise verstärkt. Mit der amerikanischen Getreideproduktion und ihrem Eindringen auf den europäischen Markt geriet die deutsche Landwirtschaft in wachsende Absatzschwierigkeiten. Von 1875 bis in die 1890er Jahre sanken die Getreidepreise, und die preußischen Großgrundbesitzer zeigten sich unfähig, ihre landwirtschaftliche Produktion rentabler zu gestalten, wobei blamabel war, dass die preußischen Hektarerträge für Getreide, Kartoffeln und Heu unter denen des Reiches blieben. Erst die Abwanderung vieler Arbeitskräfte in die Industriegebiete und ins Ausland zwang die Junker zu rationelleren Produktionsverfahren. Im Allgemeinen aber zogen sie es vor, der Notlage nicht durch vermehrte Verwendung von Maschinen, sondern durch Gewinnung von Saisonkräften, vor allem polnischer Wanderarbeiter, zu begegnen.

Im Ganzen gesehen traf die Weltwirtschaftskrise Deutschland in einer so weit entwickelten Phase des Kapitalismus, dass im Vergleich zu der von 1857 viel mehr Schichten und Personen (Groß- und Kleinbürger, Junker, Kapitalisten und Proletarier) in ihren Strudel hineingerissen wurden. Doch nach Gründertum, Krise und Depression wurde Deutschland durch starke Konzentration von Produktion und Kapital zu einer Industrienation, die zusammen mit den USA das bisherige Industriemonopol Englands brach. Diese Jahre waren wohl doch eine „große, aber miese Zeit“, um Worte des witzigen Großbankiers Carl Fürstenberg aufzugreifen.

Erschüttert jedenfalls war die liberale Ideologie, die an die Selbstheilungskräfte der freien Konkurrenz geglaubt hatte und die Einmischung des Staates in das Wirtschaftsleben verabscheute. 1873 hatten der Saarindustrielle von Stumm und der schlesische Magnat von Kardorff vergeblich die Beibehaltung der noch existierenden Eisenzölle und ihre Erhöhung gefordert. Sie waren an der Mehrheit der Nationalliberalen und der Vertreter der damals noch freihändlerisch gesinnten Getreideexporteure im Reichstag gescheitert. Kardorff veröffentlichte dann 1875 eine sensationell wirkende Schrift „Gegen den Strom“, worin er die Umkehr der deutschen Wirtschaftspolitik zum Schutzzollsystem verlangte. Ehe sie darangingen, Interessenverbände zu bilden, nahmen die Protagonisten des Schutzzolls jedoch Kontakt mit Bismarck auf. Die Zusammenarbeit zwischen Bleichröder und Kardorff war besonders eng. Im November 1875 schrieb er an Bismarck, dass die Handelspolitik eine Änderung erfahren müsse, „wenn nicht die Industrie in Deutschland vollends zugrunde gehen“ solle. Doch selbst nach Empfang dieses in alarmierendem Ton gehaltenen Briefes meinte der Kanzler gegenüber Lucius von Ballhausen, er werde sich „in der vorhandenen wirtschaftlichen Kalamität … vorläufig nicht engagieren“. Auch eine Eisenindustriellen-Deputation hatte nach ihrer Audienz beim Reichskanzler am 1. Dezember 1875 feststellen müssen, dass er „vorläufig seine passive Haltung in wirtschaftlichen Fragen nicht aufgeben werde, daß aber, wenn überhaupt, nur von der Initiative des Fürsten eine Änderung in der eingeschlagenen neueren Richtung unserer Wirtschaftspolitik zu erhoffen sei“.

Die Herren vom Ruhrpott erfuhren, wie andere auch, dass sich Bismarck nie rasch für eine grundsätzliche Änderung seines politischen Kurses entschied. Zunächst wollte er immer genau beobachten, ob sich die Kraftverhältnisse auch wirklich im Sinne der Ideen und Interessen, die ihm vorgebracht wurden, entwickelten. Nie war er der Mann, der leichtfertig „unreife Früchte“ abschlug. Aber er behielt nun im Blick, in welchem Ausmaß die schutzzöllnerisch eingestellten Interessenorganisationen tatsächlich Kraft und Einfluss gewannen. Dazu hatte er noch die Parteienverhältnisse zu berücksichtigen. So unbehaglich er sich auch im Zusammenspiel mit den Liberalen gefühlt haben mochte, er konnte nichts aufkündigen, solange er von politischen Vertretern und Ideologen seiner Standesgenossen, den Konservativen, so viel Feindschaft erfuhr."

 

„Spätestens seit 1875 umwarben den Reichskanzler schutzzöllnerisch gewordene Schwerindustrielle und Großbankiers, die wussten, was sie wollten. Den ostelbischen Junkern hingegen war nur klar, wogegen sie standen, und da sie sich nicht kompromissbereit gegenüber dem Großkapital zeigten, konnten sie es auch nicht gegenüber Bismarck sein. Von Ende Juni bis Juli 1875 erschienen in der „Kreuzzeitung“ die Artikelfolge „Die Aera Bleichröder-Delbrück-Kamphausen“, anzeigend, dass enge Gefolgsleute und Mitarbeiter Bismarcks ins Visier genommen werden. Das vom Chefredakteur kräftig redigierte Elaborat eines Franz Perrot wirkte, weil es im traditionellen Organ der Altkonservativen erschien, den allgemeinen Unmut über die Folgen des Gründerkrachs ausnutzte und - nicht zuletzt - auf Bismarck zielte. Er sollte als Helfershelfer oder gar als Werkzeug des angeblich jüdisch beherrschten „Banquier-Liberalismus“ denunziert werden.

Perrot schrieb, als hätte er die spätere Unterscheidung der Nazis zwischen „raffendem und schaffendem“ Kapital gelesen. Um das kritische Feuer voll auf das Bankkapital richten zu können, warf er den Ministern Delbrück und Camphausen ihre Verwandtschaft mit Bankiers vor. Sie seien zudem im „Millionär-Club“ in der Behrenstraße zuhause, also bei Bleichröder, dem jüdischen Bankier, den man zu Unrecht zum „intellektuellen Urheber“ der neudeutschen Wirtschaftspolitik erklärte. Von der absichtsvollen Überhöhung seines politischen Einflusses abgesehen, wurde Bleichröder mit dem vergifteten Lob bedacht, er habe sich um des Kanzlers Vermögenslage zu einer Zeit Verdienste erworben, als Bismarck, „um mit spärlichem preußischen Gesandtengehalt und ohne erhebliches Vermögen seinen Souverän in Petersburg, Paris und Frankfurt repräsentieren zu können, allerdings guten Rat in finanziellen Dingen haben mußte“. Und über die Gegenwart hieß es: „Es ist bekannt, daß Herr v.Bleichröder mit dem Fürsten-Reichskanzler vielfach verkehrt.“ Diese Beziehungen wurden in den fünf Artikeln wie ein Thema mit Variationen behandelt. An anderer Stelle war vom reichen „Mitbürger semitischer Race und mosaischen Glaubens“ die Rede, vom Bankier, der „das Ohr und das Vertrauen des leitenden deutschen Staatsmannes und seiner Minister besaß“. …

Bismarck reagierte zunächst gar nicht. Erst einige Monate später, am 9. Februar 1876, warf er der „Kreuzzeitung“, die politischen Gesichtspunkte übergehend, „ehrlose Verleumdung“ vor und verlangte, dass niemand „mit einem Abonnement sich indirekt daran beteiligen“ solle. Daraufhin antworten 46 Urkonservative, unter ihnen auch der alte Adolf von Thadden, in einer „Deklaration“, in der Bismarcks Anschuldigungen und seine „Belehrungen über Ehre und Anstand“ im Tone beleidigten Aristokratenstolzes zurückgewiesen wurden und die Unterzeichner sich für zuverlässige Stützen des Thrones erklärten. Ihre Zahl verdoppelte sich in den nächsten Wochen. Voller Grimm stempelte Bismarck diese „Deklaranten“ als Übeltäter ab und veranlasste die Veröffentlichung ihrer Namen im „Reichsanzeiger“. Ließ er sich hier ausschließlich vom persönlichen Groll, von der „Reizbarkeit seines Charakters“, wie Karolyi nach Wien schrieb, leiten? Gegen eine solche Interpretation spricht, dass der Kanzler nach dem Angriff der „Kreuzzeitung“ einige Monate bis zum Gegenangriff verstreichen ließ, bis er nämlich wusste, dass sich unter Industriellen und Agrariern ein organisierter Antiliberalismus heranbildete, der jedoch keineswegs identisch war mit dem urpreußischen Konservatismus.

Nicht vornehmlich der persönliche Groll, sondern eine politische Überlegung veranlasste Bismarck, die „Deklaranten“ auf eine Art Proskriptionsliste setzen zu lassen. Ihre Geisteshaltung hatte sich nämlich als ein ernstzunehmendes Hindernis für die Neuformierung einer konservativen Partei erwiesen, die das zunehmende Gewicht des Industrie- und Bankkapitals zu berücksichtigen imstande war. Die Modernisierung einer solchen Partei im Sinne des Anpassens an die ökonomisch-soziale Entwicklung der „neuen Zeit“, wie sich Bismarck gelegentlich ausdrückte, war die Voraussetzung für die politische Übereinkunft und Zusammenarbeit von Agrariern und Industriellen, von Konservativen und rechten Liberalen. Nur ein derartiges Bündnis ermöglichte eine neue Ausrichtung der Finanz- und Wirtschaftspolitik.

Bei der Umgruppierung der ökonomisch-sozialen und politischen Kräfte war Bismarck Treiber wie Getriebener. Louis Baare, Generaldirektor des „Bochumer Vereins für Bergbau und Gußstahlfabrikation“ und überzeugter Schutzzöllner, schrieb am 9. Dezember 1875 an den Verbandssekretär des „Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller“: „Wenn wir eine großangelegte Agitation beginnen wollen, die darauf gerichtet sein müßte, den Kaiser, das heißt Bismarck, zu zwingen die Minister zu wechseln, … so können wir solche Macht nur erlangen, wenn wir uns mit anderen Elementen vereinigen.“ Mit anderen Elementen? Das bedeutete, dass man sich zunächst bemühen wollte, möglichst viele Industrielle in eine große Organisation zu bringen. War das vollbracht, konnte man dann im Innern wie nach außen für den Schutzzoll wirken.

Diesem zielbewussten Ratschlag folgte Wilhelm von Kardorff, als er für den 14. Dezember zu einer Versammlung von Vertretern des „Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller“, des „Vereins süddeutsche Baumwollindustrieller“ und einiger Fabrikanten anderer Branchen einlud. Bei dieser Zusammenkunft waren sich die Industriellen über die Frage der zukünftigen Wirtschaftspolitik und insbesondere über Charakter und Ausmaß des Schutzzolles noch längst nicht einig. Man erkannte nur die Notwendigkeit, sich zusammenzuschließen, denn immerhin hatten sich jetzt Industrielle aus dem Süden wie dem Norden, von Oberschlesien bis nach Berlin und dem Ruhrgebiet eingefunden. Diese gesamtdeutsche Zusammenkunft sollte die Gründung eines zentralen Verbandes vorbereiten.

Die tüchtigen Geschäftsleute gingen ohne Zeitverlust ans Werk. Bereits am 15. Februar 1876 wurde der „Zentralverband deutscher Industrieller“ aus der Taufe gehoben, wohlgemerkt, sechs Tage nach Bismarcks Angriff auf die „Kreuzzeitung“. Dieser neu gegründete Zentralverband, der den Schutzzoll als Losungswort immer noch nicht offen proklamieren konnte, forderte schon damals alles, was eine Dezimierung der freihändlerischen nationalliberalen Mehrheit im Reichstag bewirken konnte, und suchte deshalb das Bündnis mit jenen Großgrundbesitzern, die sich allmählich vom Freihandel abwandten. Damals wuchsen nämlich in dem Maße, wie die deutschen Getreideproduzenten nach Ausbruch der Agrarkrise von 1875 den englischen Absatzmarkt verloren und sich auf dem Binnenmarkt der ausländischen Konkurrenz gegenübersahen, jene Kräfte unter den Junkern, die - ähnlich wie ein zunehmender Teil der Industriellen - nach einem „Schutz der nationalen Arbeit“ riefen. Da der traditionelle „Kongreß deutscher Landwirte“ nur den freihändlerischen Interessen der Getreideexporteure diente, gründeten Rittergutsbesitzer und Agrarpublizisten sieben Tage nach der Konstituierung des „Zentralverbandes deutscher Industrieller“, also Ende Februar 1876, die „Vereinigung Deutsche Steuer- und Wirtschaftsreformer“ als zunächst noch schüchternen Auftakt zur großagrarischen Zollagitation. Schließlich war die Masse der Agrarier von ihrer traditionellen Freihandelsdoktrin und -praxis nicht so rasch abzubringen. Der Beginn einer neuen Bewegung unter den Großagrariern aber war von den Eisenindustriellen im Zentralverband sofort honoriert worden, indem sie auf die Gründungsversammlung der großagrarischen Vereinigung einen Vertreter schickten.

Sieht man Bismarcks Auftreten im Reichstag gegen die „Kreuzzeitung“ und die hinter ihr stehenden Junker, die Gründung des „Zentralverbandes deutscher Industrieller“ und der „Vereinigung deutsche Steuer- und Wirtschaftsreformer“ in ihrem chronologischen Zusammenhang, dann könnte man geradezu von einer Februarwende in Richtung auf eine neue Wirtschafts- und darüber hinaus Innenpolitik sprechen. Seit dieser Wende, die jene von 1878/79 gleichsam ankündigte, begannen sowohl die Differenzierung unter den Altkonservativen als auch die Zersetzung des Beamtenliberalismus. Sichtbares Zeichen dafür war der Rücktritt Rudolph von Delbrücks als Präsident des Bundeskanzleramts am 25. April 1876. Der „Generalstabschef des Freihandels“ war in dem berüchtigten „Kreuzzeitungs“-Artikel sozusagen Mitangeklagter der Kardorff und Bleichröder. Diese entfalteten eine seiner bisherigen Wirtschaftspolitik entgegengesetzte Aktivität, der sich der Reichskanzler im Zeichen der Februarwende aber deutlich genug zuwandte. Delbrück kannte Bismarck viel zu gut, um nicht vorauszusehen, dass es mit ihm früher oder später zu einem eklatanten Bruch kommen müsse. Deshalb wollte er rechtzeitig gehen, anstatt gegangen zu werden. Sein Rücktritt kam auch für Eingeweihte überraschend, nicht zuletzt für den Reichskanzler selbst, der nun Zuflucht zu den verschiedensten Erklärungen für das Vorgefallene nahm. In solchen Fällen konnte Bismarck auch larmoyant werden; so beklagte er sich über den alten Kaiser, er habe ihm „Delbrück genommen“, womit er darauf anspielte, dass Majestät dem Demissionsgesuch rasch stattgegeben hatte.

Jedenfalls kam die Amtsniederlegung Bismarck ungelegen, weil er trotz seines internen geäußerten Unmuts über die Liberalen das Zusammenspiel mit ihnen nicht aufkündigen wollte, solange die Konservative Partei nicht neu formiert war …

Nach umsichtigen Verhandlungen, zu denen auch enger Kontakt mit Bismarck gehörte, kamen konservative Parteipolitiker am 6. Juni 1876 in Frankfurt am Main zusammen und beschlossen die Gründung der Deutschkonservativen Partei. Der Ort der Zusammenkunft und der vorgeschlagene Parteiname zeigten bereits an, dass der preußische Partikularismus der Altkonservativen überwunden werden sollte. Überdies befanden sich unter den 27 Unterzeichnern neben elf Konservativen aus dem ostelbischen Preußen Vertreter aus Bayern, Sachsen, Baden und Hessen. Naturgemäß kamen auch die Neukonservativen vornehmlich aus dem agrarischen Ostelbien. Indem sie sich jedoch mit anderen auf dem nationalstaatlichen Boden zusammenfanden, zeigten sie schon größere Aufgeschlossenheit und damit Bereitschaft, mit den politisch sich gleichfalls neu bildenden Kräften des Industrie- und Bankkapitals einen Kompromiss einzugehen, auch wenn der Gründungsaufruf für die Deutschkonservative Partei gegen die „Bevorzugung des großen Geldkapitals“ und das „Überwuchern der Spekulationen und des Aktienwesens“ opponierte und damit politische Tuchfühlung mit den Leuten von der „Kreuzzeitung“ wahrte.

Im wirtschaftspolitischen Teil des Gründungsaufrufs rückten die Deutschkonservativen vorsichtig vom Freihandelsstandpunkt ab, indem sie erklärten: „Gegenüber der schrankenlosen Freiheit nach liberaler Theorie wollen wir im Erwerbs- und Verkehrsleben eine geordnete wirtschaftliche Freiheit.

 

Industrieller Elan

 

„Zweifellos aber setzte der Reichsgründer mit seiner Politik Potenzen frei, weckte bei Industriellen, Technikern und vielen Naturwissenschaftlern jenen Elan, der sie beflügelte, die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts bis zu ihrem ersten Höhepunkt Mitte der 1880er Jahre weiterzuführen. Auch wenn das scheinbar unabhängig von Bismarck geschah und ihm sogar fremd blieb, es gehörte zu seiner Wirkung und zur Auswirkung des von ihm Geschaffenen.

Als sich der Kanzler den eisenschaffenden und -verarbeiten Industriellen politisch näherte, blieb es außerhalb seines Gesichtskreises, dass diese die Metallurgie und den Maschinenbau mit Hilfe ihrer Ingenieure so kräftig entwickelten, dass man allmählich von einem Stahlzeitalter zu sprechen begann. Die quantitativ und qualitativ gesteigerte Stahlproduktion stand in Wechselwirkung mit der Vervollkommnung und Spezialisierung von Werkzeug- und Arbeitsmaschinen, die zunehmend in der modernen Großindustrie produziert wurden und produzierten. Dort ersetzte die wissenschaftliche Durchdringung der Produktionsprozesse allmählich den noch handwerklich bedingten Empirismus. Die technischen Wissenschaften mit ihrem größer werdenden Korps von Ingenieuren bekamen eine Mittlerfunktion zwischen den Naturwissenschaften und der sich konzentrierenden Produktion.

Ein qualitativer Umschwung erfolgte auch hinsichtlich der Kraftmaschinen. Die Dampfmaschine, die entscheidende Kraftmaschine in den Fabriken, wirkte umso sparsamer, je größer sie wurde. Gleichsam organisch wuchs sie in die Elektrotechnik hinüber, indem sie in den zentralen Kraftwerken die Dynamomaschinen antrieb, die den elektrischen Strom erzeugten. Mit dem Aufkommen der Elektroindustrie in den 1880er Jahren hörte die Dampfmaschine auf, Herrin in der industriellen Produktion zu sein. Immer zahlreicher wurden die Anwendungen des elektrischen Stroms. Zunächst vorwiegend zur Beleuchtung verwendet, nahm die Umsetzung in Kraft und Wärme, schließlich die Verwendung für elektrochemische Zwecke zu. Mit dem Ausbau der Leitungsnetze begann der Siegeszug des Elektromotors. Da er im Unterschied zur Dampfmaschine den Einzelantrieb der Arbeitsmaschinen gestattete und relativ billig war, hatte er eine zweifache Wirkung: Auf der einen Seite war jetzt auch für den Handwerksbetrieb eine Kraftmaschine erschwinglich, auf der anderen Seite erleichterte der wohlfeile und anpassungsfähige Elektromotor den Ausbau der Großbetriebe wie auch deren Umstellung in der Fertigung und Betriebsorganisation …

Neben der Entwicklung der Agrokulturchemie, die immer stärker über landwirtschaftliche Versuchsstationen Eingang in die Praxis fand, machte vor allem der Ausbau der Teerfarbenindustrie, also die Herstellung synthetischer Farbstoffe, die deutsche chemische Industrie dominierend. Den Vorsprung gewann sie dadurch, dass sie vom Wert der wissenschaftlichen Forschung von Anfang an überzeugt war und Theorie und Praxis systematisch zu verbinden verstand. In Werner Siemens vereinigte sich der Techniker und Wissenschaftler mit dem Unternehmer. Seiner liberalen Grundanschauung entsprach es, dass er seit 1866 Bismarck „mit kühler Bewunderung“ gegenüberstand.

Wie hoch auch das Niveau der deutschen Technik und Wissenschaft sein mochte, im praktischen Produktionsprozess konnte selbst der erfindungsreichste Ingenieur ohne Mitwirken der Facharbeiter nicht erfolgreich sein. Gerade weil die maschinelle Produktion unter anderem auch die Tendenz hatte, die Geschicklichkeit des Arbeiters herabzumindern, gerade weil, wie Marx 1856 sagte, im Kapitalismus das reine Licht der Wissenschaft nur auf dem dunklen Hintergrund der Unwissenheit leuchtet, war es sowohl für den Industriellen als auch für die Techniker unverzichtbar, zumindest einen Stamm von Facharbeitern in den Betrieben zu erhalten. Dafür sorgten Fortbildungsschulen verschiedener Art. Nicht wenige Gewerkschaften und Fachvereine pflegten eine ausgedehnte Bildungsarbeit. Es war nicht bloß ein Mittel der Tarnung, wenn unter dem Sozialistengesetz die Gewerkschaftszeitungen als Fachblätter mit Konstruktionsbeschreibungen, Modellbögen, Auskünften über Materialsorten erschienen. Pfuscharbeit war gerade bei klassenbewussten Arbeitern verpönt und wurde als Kampfmittel abgelehnt.

Das Bürgertum, das über wachsende Macht in der Wirtschaft und im Staat verfügte, besaß geradezu das Bildungsmonopol auf den Hochschulen. So konnte es Techniker und Wissenschaftler ausbilden lassen, die nicht nur fachlich hervorragend waren, sondern auch politisch so geformt, dass sie der bestehenden Gesellschafts- und Staatsordnung ergeben blieben."

 

Kulturkampf

 

Christoph Arens: „"Es handelt sich hier um einen großen Kulturkampf." Es war der Mediziner Rudolf Virchow, der dem erbittert geführten Großkonflikt zwischen katholischer Kirche und der Regierung in Preußen-Deutschland seinen Namen gab.

Startschuss für den Versuch von Reichskanzler Otto von Bismarck, Staat und Kirche zu trennen und den politischen Arm des Katholizismus - die Zentrumspartei - zu schwächen, war der sogenannte Kanzelparagraph, der am 10. Dezember 1871, vor 150 Jahren, in das Strafgesetzbuch des gerade gegründeten Deutschen Reiches eingefügt wurde: Geistliche konnten "mit Gefängniß oder Festungshaft bis zu zwei Jahren" bestraft werden, wenn sie die Ausübung ihres Amtes für politische Äußerungen missbrauchten.

Keineswegs kam der Konflikt aus heiterem Himmel: In ganz Europa wurden im 19. Jahrhundert die Machtverhältnisse zwischen Kirche und dem modernen Staat neu bestimmt. Verfügte die Kirche seit dem Mittelalter über großen Einfluss auf Schulsystem, soziale Einrichtungen und gesellschaftliche Institutionen, versuchte der liberale Staat, seinen Einfluss auszudehnen. 1864 verurteilte Papst Pius IX. im "Syllabus Errorum" vermeintliche Irrlehren der Moderne, darunter Sozialismus, Liberalismus und Menschenrechte. Das Erste Vatikanische Konzil (1869-1870) erklärte die Unfehlbarkeit des Papstes - unter engen Voraussetzungen - in "Religion und Sitten".

In diesem Versuch, die päpstliche Autorität in ganz Europa zu festigen, sahen Bismarck und viele Liberale einen Angriff auf den Staat. Das umso mehr, als die Katholiken sich seit 1870 in der Zentrumspartei organisierten und verlangten, die Rechte der Kirchen gegen den Staat zu schützen.

Gefährlich war nach Bismarcks Meinung auch die Zusammenarbeit des Zentrums mit den katholischen Minderheiten der Polen, Elsaß-Lothringer und Dänen. Der Reichskanzler, der sich der Unterstützung durch die evangelischen Kirchen sicher sein konnte, deklarierte die Partei zum verlängerten Arm des Papstes und zum Reichsfeind. Sie sei Rom-hörig und nicht loyal zu Berlin.

Beim Kanzelparagraphen blieb es nicht: Ein Jahr später übernahm der Staat die alleinige Schulaufsicht in Preußen und verbot den Jesuitenorden reichsweit. Außerdem wurden die Beziehungen zum Vatikan abgebrochen. Im Reichstag bekräftigte Bismarck polemisch: "Nach Canossa gehen wir nicht."

1873 wurde in den preußischen "Maigesetzen" eine staatliche Abschlussprüfung für Geistliche eingeführt. Kirchenaustritte wurden gesetzlich geregelt und erleichtert. Darüber hinaus behielt sich der Staat ein Einspruchsrecht bei der Vergabe geistlicher Ämter vor. Es kam zu einer regelrechten Verwaisung kirchlicher Posten. 1874 wurde zunächst in Preußen, 1875 im ganzen Reich, die Zivilehe bindend eingeführt. 1875 wurden alle geistlichen Orden und ordensähnlichen Gemeinschaften verboten. Außerdem verfügte das «Brotkorbgesetz», alle staatlichen finanziellen Zuwendungen an die Kirche einzustellen.

Gleichzeitig nahmen die Sanktionen gegen Vertreter der katholischen Kirche zu. Allein innerhalb der ersten vier Monate des Jahres 1875 wurden 136 katholische Zeitschriftenredakteure zu Geldstrafen verurteilt oder inhaftiert. Im selben Zeitraum wurden 20 katholische Zeitungen konfisziert, 74 katholische Gebäude durchsucht, 103 katholische politische Aktivisten ausgewiesen oder interniert. 55 katholische Organisationen und Vereine wurden geschlossen. Über die Hälfte der katholischen Bischöfe Preußens befand sich 1878 entweder im Exil oder im Gefängnis. Der Papst sprach von Kirchenverfolgung.

Letztlich wurde diese Politik für Bismarck zum Bumerang: Der Druck schweißte die Katholiken zusammen; das Zentrum gewann Wähler. Zwar wurden mit der Zivilehe und der Staatsaufsicht über die Schulen bis heute geltende Reformen eingeführt. Doch der Eiserne Kanzler vergiftete die politische Atmosphäre nachhaltig. Katholiken empfanden sich lange als Bürger zweiter Klasse.

Bismarck ruderte zurück. 1878 war er bereit, sich mit den Katholiken zu arrangieren, weil er ihre Zustimmung zu den Sozialistengesetzen benötigte. Die SPD wurde Reichsfeind Nummer eins. Die Aussöhnung wurde erleichtert, als Pius IX. starb und mit Leo XIII. ein kompromissbereiterer Papst folgte. 1882 nahm Preußen wieder Beziehungen zum Vatikan auf. Mehrere Milderungsgesetze legten den Konflikt offiziell bei. Am 23. Mai 1887 erklärte Papst Leo XIII. den "Kampf, welcher die Kirche schädigte und dem Staat nichts nützte", für beendet.

Das Jesuitengesetz allerdings wurde erst 1917, der Kanzelparagraph erst 1953 aufgehoben.“

https://www.domradio.de/artikel/nach-canossa-gehen-wir-nicht-kulturkampf-zwischen-katholiken-und-bismarck-beginnt-1871

 

Sozialistengesetz und Sozialgesetzgebung

 

Aus „Wikipedia“: „Seit der Rede von August Bebel im Reichstag am 25. Mai 1871 zu Gunsten der Pariser Kommune sah Bismarck in den Sozialdemokraten eine revolutionäre Bedrohung. Schon damals skizzierte er seine zukünftige Politik so: „1. Entgegenkommen gegen die Wünsche der arbeitenden Klassen, 2. Hemmung der staatsgefährlichen Agitation durch Verbots- und Strafgesetze.“

Nach Bismarcks Ansicht verstärkten die sozialen Auswirkungen der Gründerkrise die revolutionäre Gefahr. Zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I. im Jahr 1878 dienten Bismarck als willkommener Anlass, mit einem Sozialistengesetz gegen die Sozialistische Arbeiterpartei vorzugehen. Er wollte einen „Vernichtungskrieg führen durch Gesetzesvorlagen, welche die sozialdemokratischen Vereine, Versammlungen, die Presse, die Freizügigkeit (durch die Möglichkeit der Ausweisung und Internierung) […] träfen“ …

Im neuen Reichstag stimmten schließlich auch die Nationalliberalen, nach einigen Zugeständnissen, dem Sozialistengesetz zu. Es blieb, mehrfach vom Parlament verlängert, bis 1890 in Kraft. Dieses Ausnahmegesetz verbot die sozialistische Agitation, während die politische Arbeit der sozialdemokratischen Parlamentarier davon unberührt blieb. Letztlich verfehlte das Gesetz seinen Zweck und trug ungewollt zur Verfestigung eines sozialistischen Milieus bei, denn erst jetzt setzte sich die marxistische Theorie wirklich durch. Bemerkenswert ist, dass Bismarck dem Thema später in seinen Gedanken und Erinnerungen kein einziges Wort widmete …

Hauptziel von Bismarcks Sozialpolitik war, eine stärkere Staatsbindung zu erzeugen. Die Parteien sollten dabei von ihrer Basis getrennt werden. Bismarck verschleierte sein eigentliches Ziel des Machterhalts dabei keineswegs. Geplant war zunächst nur eine Unfallversicherung, später kamen Versicherungen gegen Krankheit, Invalidität und Altersarmut hinzu. Diese sollten weitgehend staatlich kontrolliert sein – zeitweise sprach Bismarck sogar von Staatssozialismus. Er wollte so „in der großen Masse der Besitzlosen die konservative Gesinnung erzeugen, welche das Gefühl der Pensionsberechtigung mit sich bringt.“

„Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte“ …

Anstelle der ursprünglich geplanten Reichsanstalt setzte er später die Berufsgenossenschaften durch. Gedacht als neokorporativer Zusammenschluss jenseits der Parteien, wurden die Genossenschaften von den Unternehmern dominiert. Entgegen dem ursprünglichen Ziel gewannen in ihnen die Vertreter der Rechtsparteien an Gewicht. Die Krankenversicherung wurde dagegen von der Selbstverwaltung der Arbeiter dominiert; Sozialdemokraten dominierten viele der Allgemeinen Ortskrankenkassen.

Mit der Sozialgesetzgebung schuf Bismarck einen Pfeiler des modernen Sozialstaats; seine machtpolitischen Ziele erreichte er aber nicht. Der Versuch, der Sozialdemokratie die „Wurzeln abzugraben“, schlug mittelfristig ebenso fehl wie das Vorhaben, den Obrigkeitsstaat zu Lasten der Parteien auszubauen. Bismarcks Interesse an der Sozialgesetzgebung ließ nach: Die Alters- und Invalidenversicherung von 1889 wickelte er geschäftsmäßig ab.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_von_Bismarck

 

Kolonialismus

 

„Bereits in den 1870er Jahren gab es auch in Deutschland zahlreiche Vorschläge, wie und wo man Kolonien „erwerben“ könne. Bismarck jedoch ging aus außen- und innenpolitischen Gründen nicht darauf ein. Gebietserweiterungen außerhalb Europas, die geeignet waren, „Mißtrauen gegen die Friedlichkeit unserer Gesinnungen“ zu erregen, betrachtete er unmittelbar nach der Reichsgründung nicht als eine „Quelle … der Stärke, sondern der Schwäche für Deutschland“. Einer Verwirklichung kolonialer Expansion stand damals auch die Zusammenarbeit mit den Nationalliberalen entgegen, bei denen die antikolonial eingestellten, freihändlerischen Gruppen stark waren. Das öffentliche Interesse war in dieser Hinsicht gering.

Erst der wirtschaftspolitische Kurswechsel vom Freihandel zum Schutzzoll leitete 1879 eine koloniale Bewegung in Deutschland ein: Vereine entstanden, Propagandaschriften erschienen, in denen territoriale „Erwerbungen“ in Übersee als Absatzgebiete, hin und wieder auch schon als Rohstoffbasis, nicht zuletzt aber als Ziel von Auswanderern in den verlockendsten Farben geschildert wurden. Der industrielle Protektionismus schien nicht mehr zu genügen und sollte durch Kolonialexpansionismus ergänzt werden. Bereits im Oktober 1878 war in Berlin der „Zentralverein für Handelsgeographie und Förderung deutscher Interessen im Ausland“ gegründet worden. Der „Westdeutsche Verein für Kolonisation und Export“, einer der regionalen Zusammenschlüsse, zeigte schon in der Namensgebung die Wunschvorstellung und das interessenbedingte Motiv an. Export wurde mehr und mehr zum Schlag- und Klagewort vieler Industrieller. Da der durch die Überproduktion bedingten Depression der Binnenmarkt zu eng geworden war, tönte der Ruf nach der weiten Welt immer lauter. Wie es schien, eröffnete sich dort ein neuer Raum, wo man Handel treiben, vielleicht Vorteile erringen, Stützpunkte schaffen oder gar herrenlose Landgebiete, ganz gleich auf welche Weise, in Besitz nehmen - man nannte es „erwerben“ – konnte.

Aus dem Geschäftshunger entwickelte sich Landhunger, und zum Zupacken fand sich allemal eine moralische Rechtfertigung, entweder „christliches“ Missionieren oder pseudodarwinistisches Selektieren. Fontanes Worte: „Sie sagen Moral und meinen Kattun“, galten nicht nur für England, das allerdings kolonialer Vorreiter war. Seine weltpolitische Machtentfaltung, nicht sein innenpolitischer Liberalismus, wurde zum Vorbild deutscher Kolonialpropaganda. In einer 1879 erschienenen Schrift verwies man nicht allein auf Großbritannien, sondern auch auf die USA und Russland und erging sich in kühnen Zukunftsträumen: „Unsere großartigen Erfolge in den Jahren 1870 und 1871, berechtigen sie uns denn nicht, die alte, bescheidene, schüchterne und bedientenhafte Rolle endlich einmal gründlich beiseite zu legen, uns kühn und stolz unter die drei Bewerber um die künftige Weltherrschaft zu mischen …?“

Bismarck folgte derartigen Höhenflügen nicht, sondern blieb auf dem Boden der Realitäten, galt doch seine vordringliche Sorge der militärischen und diplomatischen Sicherung des neuen deutschen Reiches auf dem europäischen Kontinent. Von Kolonien in Übersee wollte er zunächst überhaupt nichts wissen. Noch im Februar 1880 erklärte er mit deutlichem Bezug auf England über Kolonien: „Wir haben keine genügende Flotte, um sie zu schützen, und unsere Bürokratie ist nicht gewandt genug, die Verwaltung solcher Länder zu leiten.“ Damals wollte er nur darauf bestehen, dass die deutsche Schifffahrt und der deutsche Handel in Übersee die gleichen Rechte haben wie andere Interessenten …

Das Hamburger Seehandelshaus Godeffroy & Sohn, das seit den 1850er Jahren ein weitverzweigtes Netz von Handelsniederlassungen und Plantagen im Südseegebiet aufgebaut und sich eine beherrschende Stellung vor allem im Handel mit Samoa und den benachbarten Inselgruppen geschaffen hatte, stand infolge verunglückter Spekulationen vor dem Bankrott, als sich nach dem Börsenrausch die Wirtschaftskrise als hartnäckig erwies. Die Firma wurde in die „Deutsche Handels -und Plantagengesellschaft der Südsee“ (DHPG) umgewandelt, deren Aktien zusammen mit den Plantagen zur Befriedigung der Gläubiger dem Londoner Bankhaus Baring Brothers & Co. verpfändet wurden. Adolf von Hansemann von der Disconto-Gesellschaft, der schon in zusammengebrochenen Gründerzeitfirmen profitreiche „Hilfe“ geleistet, das heißt, sie zumeist vereinnahmt hatte, erkannte nun eine günstige Gelegenheit, vorteilhaft ins Überseegeschäft zu kommen.

Unter Mitwirkung von Bismarcks Bankier Bleichröder gründete Hansemann am 13. Februar 1880 die „Deutsche Seehandels-Gesellschaft“ (DSG), die auch das bankrotte Godeffroysche Unternehmen unter der Bedingung fortführen wollte, dass das Reich für die in die neue Gesellschaft anzulegenden acht bis zehn Millionen Mark 20 Jahre lang einen jährlichen Zuschuss zur Dividende bis zu drei Prozent des Grundkapitals zahle. Reichsmittel sollten also dazu herhalten, das Risiko des Überseegeschäftes abzuschwächen.

Im Übrigen war Hansemann mit von Kusserow verschwägert, und Godeffroy galt in dem sonst freihändlerischen Hamburg als Anhänger des Schutzzollsystems. Mochten diese persönlichen Konnexionen auch den Zugang zu Bismarck erleichtern, ausschlaggebend für diesen waren politische Überlegungen. Dass Besitz und Handelsbeziehungen der Hamburger Firma in englische Hände geraten könnten, alarmierte und veranlasste ihn, zum Schutz des deutschen Überseehandels staatlich zu intervenieren. Auch handelsgeographische Überlegungen fanden bei ihm Gehör. Als man ihm nämlich berichtete, dass nach Vollendung des damals geplanten Panamakanals der Verkehr mit den Samoainseln in der Südsee wesentlich verkürzt werde, vermerkte er in einem Marginale: „Das ist die Hauptsache.“

Die Presse tat das Ihre, um die „finanzielle Förderung eines Unternehmens“ zu propagieren, „welches die Erhaltung der in der Südsee gewonnenen kommerziellen Stellung bezweckt“, so die offiziöse „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“. Die „Kölnische Zeitung“ hoffte ebenso wie das „Deutsche Handelsblatt“, dass die Diskussion über die Samoafrage „einer durch volkswirtschaftliche Notwendigkeiten gebotenen Kolonialpolitik“ Auftrieb gebe. Hier ging man schon über das hinaus, was Bismarck bezweckte. Er wollte staatliche Finanzhilfe für den privaten Überseehandel und -besitz im Reichstag durchsetzen, aber noch keinen kolonialen Territorialstaat gründen und annektieren. Selbst bei diesen ersten Schritten auf der Kolonialbahn war er so zurückhaltend, dass er sich während der Debatten über die Samoavorlage nicht in den Reichstag begab und die Dinge ohne ihn verhandelt wurden.

Die Anhänger des entschiedenen Wirtschaftsliberalismus, die im Kampf um Freihandel oder Schutzzoll eine schwere Niederlage erlitten hatten, gingen bald erneut ins parlamentarische Gefecht, mit Argumenten, die wirksamer geworden waren, weil sie den Welthandel durchaus bejahten und nur die staatliche Unterstützung privater Interessen, die als nationale ausgegeben wurden, ablehnten. Leute, die sich im Geschäftlichen auskannten, rechneten nun die Dinge durch, mochten sie auch als unpatriotische „Krämerseelen“ beschimpft werden.

Ludwig Bamberger zeigte sich wiederum als scharfsinniger Debattierer. Während manche in der Samoavorlage hoffnungsvolle Perspektiven zu entdecken vorgaben, sah er in ihr nur ein „Versuchsfeld“ für „koloniale Experimentalphysik“. Sieht man von der sarkastischen Übertreibung ab, dann sind hier des Kanzlers Absichten durchaus erfasst, denn Bismarck brauchte immer wieder anschauliche Erfahrung und wollte in der Samoaangelegenheit ausprobieren, wie sich Staatssubventionen in bestimmten Fällen im Überseehandel auswirken, um dann eventuell weitergehen zu können. Er vermutete, dass die Dynamik der Entwicklung die Dinge von privaten Überseebesitzungen zur staatlichen Gebietsherrschaft treiben würde. Was er verschwieg, sagte sein offiziöses Organ, die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“, als sie in der Schlussphase der Reichstagsdebatten schrieb, die Samoavorlage sei nur ein „Vorspiel deutscher Kolonialpolitik“.

Vorerst jedoch hatten die Kolonialinteressenten ihre Kräfte überschätzt; die Samoavorlage wurde am 27. April 1880 im Reichstag nach heftigen Auseinandersetzungen mit den Stimmen der Fortschrittspartei, der linken Nationalliberalen, des Zentrums, vieler Konservativer und der Sozialdemokratie zu Fall gebracht. Dennoch: Die Wirtschaftsliberalen hatten nur ein Nachhutgefecht bestanden. Zusammen mit den Frei- und Deutschkonservativen hatten immerhin die rechten Nationalliberalen unter Bennigsen für die Vorlage gestimmt; schon zeichnete sich jenes Parteienbündnis ab, das den späteren „Kartell-Reichstag“ bilden sollte. Und die Stimmenthaltung von 140 Abgeordneten, die zwar für staatliche Zuwendungen an private Unternehmen keine Hand erheben wollten, aber nicht unbeeindruckt waren vom Gerede über „nationale Belange“, konnte die Verfechter der Kolonialpolitik durchaus hoffen lassen.

Auf jeden Fall nutzte man das Interesse für die Samoavorlage geschickt aus, um von 1880 an den kolonialen Gedanken in der Öffentlichkeit propagandistisch hochzuspielen. Schon gründeten Kreise der Schwerindustrie, des Bankkapitals und der Aristokratie am 6. Dezember 1882 in Frankfurt am Main den „Deutschen Kolonialverein“, der die koloniale Bewegung organisatorisch zusammenfassen und Regierung wie Reichstag so schnell wie möglich auf den Weg kolonialer Annexionen zwingen sollte. Zur großbürgerlichen und aristokratischen Prominenz von Wirtschaft und Politik gesellte sich die der Wissenschaft. Fürst Hohenlohe-Langenburg stellte einen historischen Vergleich an, der aufschlussreich für den Geist dieser gesellschaftlich weitgefächerten Sammlungsbewegung war, indem er meinte, dass der „Deutsche Kolonialverein“  wie 30 Jahre zuvor der Zollverein - eine Basis schaffen könne, „mit Hilfe welcher unsere Industrie jenseits der Meere in ungeahnter, selbständiger Weise erblüht“.

In dieser programmatischen Erklärung begann bereits der Missbrauch des deutschen Patriotismus für die Zwecke eines weltpolitischen Expansionismus. Mit Hilfe des Kolonialenthusiasmus erstrebte man einen „nationalen Aufschwung“, der oppositionelle Regungen in der Arbeiterklasse und dem Kleinbürgertum überspielen und widerstreitende Kräfte im Reichstag regierungsfreundlicher stimmen sollte. Diesen Hoffnungen gab Fürst Hohenlohe-Langenburg Ausdruck, als er wenige Wochen vor der Gründung des Kolonialvereins am 29. September 1882 an den Saar-Industriellen Stumm schrieb: „Nach meiner Überzeugung wäre eine entsprechende Kolonisation der beste Ableiter für die sozialdemokratische Gefahr, die uns bedroht.“ So war es kein Wunder, dass Wilhelm Liebknecht einige Zeit später bei der Kritik des Kolonialismus im Reichstag erklärte, die herrschenden Klassen wollten „vor die Augen des Volkes eine Fata Morgana auf dem Sande und auf den Sümpfen Afrikas“ zaubern, also die soziale Frage einfach exportieren und die deutschen Arbeiter, so wie dies in England gelungen war, vom revolutionären Klassenkampfe ablenken. Für die Nutznießer und Ordnungshüter der herrschenden Gesellschaft war das umso mehr vonnöten, als sich im Jahre 1883 die langwährende Depression wieder einmal zu einer akuten Wirtschaftskrise zuspitzte.

In dieser angespannten Situation, als auch die Propaganda für Handels- und Kolonialexpansionismus weiter aufbrandete, schickte Bismarck am 24. April 1884 ein Telegramm an den deutschen Konsul in Kapstadt und erklärte darin die Besitzungen des Bremer Großkaufmanns Lüderitz in Südwestafrika unter den Schutz des Reiches gestellt. Bereits am 1. Mal 1883 hatte Lüderitz mit einem Hottentotten-Häuptling einen Kaufvertrag abgeschlossen, durch den er Angra Pequena (Kleine Bucht genannt) mit dem umliegenden Landgebiet an sich gebracht hatte: in einem zweiten Vertrag erweiterte er das Gebiet so, dass es den Umfang von Elsass-Lothringen einschließlich Baden und Württemberg annahm. Hier war in den Augen Bismarcks ein königlicher Kaufmann am Werke, für den er durchaus bereit war einzutreten.

Lange bevor der Kanzler die offizielle Schutzerklärung für die Landkomplexe von Lüderitz im April 1884 telegraphisch nach Kapstadt richtete, hatte er seinen Sohn Herbert, der als Botschaftsrat in der Londoner Botschaft tätig war, beauftragt, beim dortigen Außenamt nachzufragen, ob im besagten Gebiet Südwestafrikas britische Hoheitsrechte bestünden. In London aber behandelte man diese Angelegenheit im Jahre 1883 monatelang mit der überheblichen Lässigkeit eines selbstbewussten Empire, das von den Kolonialplänen eines Emporkömmlings wie dem Deutschen Reich wenig hielt. Natürlich hatte auch Bismarck wieder das Seine getan, um im diplomatischem Spiel von Fragen und Gegenfragen manches derartig zweideutig zu formulieren, dass in London der Außenminister wie der Kolonialstaatssekretär in der Vorstellung lebten, Berlin sei im Grunde an kolonialen Annexionen nicht ernsthaft interessiert, wo sie die Dinge erst recht auf die lange Bank schoben.

Das wiederum machte das Kapland, das dem Lüderitzschen Gebiet benachbart war, nervös, zumal sich die dortige Regierung aus finanziellen Gründen zur Intervention außerstande fühlte. Deutlicher wollte Bismarck mit der auf England wie das Kapland hinzielenden Erklärung, dass er Hoheitsrechte nicht anerkennen könne, die nicht tatsächlich ausgeübt würden. Die völkerrechtlich einseitige Erklärung des Schutztelegramms setzte dann allen Zweifeln, ob Bismarck den Weg der Kolonialpolitik beschreiten werde, ein Ende. Auf britischer Seite verwandelte sich der Zweifel an Deutschlands kolonialen Ambitionen in ein gerüttelt Maß Misstrauen.

Jetzt blieb abzuwarten, ob die britische Regierung den Überraschungsstreich Bismarcks hinnehmen würde. Das geschah am 21. Juni 1884, nachdem der Streitfall in einer Kabinettssitzung behandelt worden war. Bismarck hatte gut gezielt: Von einem Landflecken an der Walfischbai abgesehen, konnte das Empire keine tatsächlich ausgeübten Hoheitsrechte in Südwestafrika geltend machen. Das von Lüderitz in Besitz genommene Gebiet war in der Tat noch keine staatlich verwaltete Kolonie, daher konnte Bismarck am 23. Juni in der Budgetkommission des Reichstages mit einiger Berechtigung erklären: „Wir wollen keine Treibhauskolonien, sondern nur den Schutz der aus sich selbst heranwachsenden Unternehmungen.“

Als Herbert von Bismarck in London bemerkte, dass Deutschland „nach wie vor keine Kolonien im englischen Sinne, sondern nur unmittelbare Protektion unserer mit Charter zu versehenen Landsleute“ wolle, erwiderte ihm sachkundig Lord Granville: „Dann kommen sie doch zu Kolonien, unsere haben fast alle ähnlich angefangen. Sie können sich dem schließlich nicht entziehen.“ Am Ende lief doch alles auf Kolonien hinaus, in denen die angeblich schutzbedürftigen Kolonisten Herrschaft über die Eingeborenen ausübten.

Um einer Entwicklung zu Hoheitsgebieten unter deutscher Flagge Einhalt zu gebieten, stiftete der Kolonialminister Lord Derby die von London abhängige Kapregierung an, alle nicht unter deutschem Schutz stehenden Gebiete zwischen Kapland und Angola zu annektieren, was das dortige Parlament am 16. Juli auch deklarierte. Ehe es aber verwirklicht werden konnte, ließ Bismarck Kriegsschiffe entsenden, die zuerst im Süden und dann im Norden des begehrten Gebiets die deutsche Flagge hissten. Damit war Deutsch-Südwestafrika - das heutige Namibia – gegründet. Da die schwache Regierung in Kapstadt gegen die Deutschen nicht intervenieren konnte und auch England es wegen seiner in Ägypten aufgebrochenen Gegensätze zu Frankreich nicht wagte, nahm man die amtliche Mitteilung des Reiches vom 8. September 1884 über die deutsche „Besitzergreifung“ Südwestafrikas notgedrungen hin und machte sogar gute Miene zum bösen Spiel ...

Trotz aller Gegenkräfte konnte das Bismarcksche Deutschland auf dem Weg zur Kolonialmacht von einer relativ günstigen internationalen Konstellation profitieren. Gesichert durch das Dreikaiserbündnis und den Dreibundvertrag in Europa und im Windschatten der weltpolitischen Gegensätze, die zwischen England und Russland, dem Empire und Frankreich sowie Frankreich und Italien aufgebrochen waren, nutzte Bismarck die Gunst der Stunde, um in schnellen Zugriffen während der Jahre 1884 und 1885 den überwiegenden Teil des deutschen Kolonialreiches vor 1914 zusammenzubringen.

Nach der Besitzergreifung Südwestafrikas hisste im Juli 1884 der Afrikaforscher und Generalkonsul in Tunis, Gustav Nachtigal, im Auftrag der deutschen Regierung die deutsche Flagge in Togo und Kamerun; dort hatte sich vor allem das Hamburger Handelshaus Woermann festgesetzt. Im Herbst 1884 „erwarb“ Carl Peters, der durch seine Grausamkeiten gegen die Eingeborenen als „Hängepeters“ bekannt wurde, im Auftrag der „Gesellschaft für deutsche Kolonisation“ weitere Gebiete in Ostafrika, für die der Gesellschaft am 27. Februar 1885 ein kaiserlicher Schutzbrief ausgestellt wurde. Einen solchen erhielt im Mai 1885 auch die Neuguinea-Kompanie, ein Zweigunternehmen der Disconto-Gesellschaft, für ihre Besitzungen im nordöstlichen Neuguinea und auf den vorgelagerten Inselgruppen in der Südsee.

Die kolonialpolitische Auseinandersetzung mit England war begleitet von einer taktischen Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich, deren Interessen sich vorübergehend trafen. Auf der Londoner Ägyptenkonferenz im Juli 1884 stand die britische Regierung isoliert dem vereinten Widerspruch der Dreikaisermächte und Frankreichs gegenüber. Außerdem hatte sich Deutschland bereits im April 1884 dem französischen Protest gegen den englisch-portugiesischen Vertrag vom 26. Februar 1884 angeschlossen, der faktisch die Kongomündung an England auslieferte und früher oder später auch die vom belgischen König Leopold II. errichtete Kongokolonie unter englischen Einfluss gebracht hätte.

Vom 15. November 1884 bis zum 26. Februar 1885 fand in Berlin die Kongokonferenz statt, zu der Deutschland und Frankreich ohne vorherige Verständigung mit der Kolonialmacht England eingeladen hatten. Das war der Höhepunkt der deutsch-französischen Kolonialentente. Auf dieser bislang größten Kolonialkonferenz waren 14 vornehmlich europäische Staaten und die USA vertreten. Wie 1878 wurde Bismarck zum Präsidenten gewählt, führte jedoch den Vorsitz nur in der Eröffnungs- und Schlußsitzung, ansonsten agierte ein Mitglied des Auswärtigen Amtes. Dabei spielten protokollarische Überlegungen hinein: Auf einem Kongress wie 1878 waren zumeist Ministerpräsidenten anwesend, auf der Konferenz von 1885 nur zweit- oder gar drittrangige Vertreter. Die Berliner Kongokonferenz wies Englands Anspruch auf eine Monopolstellung in Westafrika zurück; sie bestätigte vielmehr die Zollfreiheit des Handels in dieser Region, die Freiheit der Schifffahrt auf Kongo und Niger und führte zur internationalen Anerkennung des belgischen Kongostaates. Bald nach dem Februar 1885 verursachten die wachsenden internationalen Schwierigkeiten der englischen Politik zu einem Umschwung. Insbesondere hatten die Niederlagen im Sudan und die neue Welle der russischen Expansion in Mittelasien das Kabinett Gladstone schwer erschüttert. Die Zeit war reif dafür, dass der Reichskanzler seinen Sohn Herbert zum vierten Mal nach London entsandte, damit er die Möglichkeiten einer Wiederannäherung prüfe …

Obwohl sich der Kanzlersohn nicht gerade durch diplomatische Geschmeidigkeit auszeichnete, gelang es ihm nach vier weiteren Gesprächen mit Lord Granville, die zwischen London und Berlin strittigen Kolonialfragen durch einen Kompromiss zu bereinigen. England erkannte die deutschen Ansprüche in Kamerun und Togo, Ostafrika, Neuguinea und auch in Südwestafrika an, zwang Deutschland aber gleichzeitig, Ambitionen auf Betschuanaland sowie St-Lucia-Bai ab und damit die Hoffnung auf ein geschlossenes, vom Atlantischen bis zum Indischen Ozean reichendes Kolonialreich in Südafrika aufzugeben.

Die deutsch-englische Verständigung zeigte wieder einmal Bismarcks politischen Stil, ja nicht den Bogen zu überspannen. Das schien umso mehr geboten, als vorauszusehen war, dass in Paris das Ministerium Jules Ferry wegen seiner niederlagenreichen Kolonialkriege in Indochina und seines begrenzten Zusammenspiels mit Bismarck bald gestürzt werden würde, was am 30. März 1885 auch geschah.

Die gesicherte Stellung Deutschlands in Europa, zu der ein ungestörtes Verhältnis zu England gehörte, bedeutete dem deutschen Kanzler mehr als weitergehende kolonialpolitische Offensiven. Frankreich wie Deutschland konzentrieren ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Möglichkeiten bündnispolitischer Umgruppierungen der Großmächte auf dem europäischen Kontinent. Bismarck bekannte ausdrücklich, dass Fragen der Kolonialpolitik für ihn hinter den Erfordernissen der europäischen Politik zurückstehen müssten: „Meine Karte von Afrika liegt in Europa.“

Noch in den 1890er Jahren versicherte Bismarck, er sei nie „Kolonialschwärmer“ gewesen. Allerdings, ähnlich wie in die Schutzzollpolitik, für die er sich seit 1875 immer stärker interessiert und schließlich engagiert hatte, ließ er sich in die Kolonialbewegung hineinziehen und machte die in ihr zum Vorschein kommenden Interessen von Großindustriellen, Großbankiers und Großgrundbesitzern zum Gegenstand diplomatischer Aktivitäten. Mit offiziell geforderten Exportwünschen begann es, mit staatlich geschützten Handelsniederlassungen und Landbesitzungen setzte es sich fort und endete mit staatlich verwalteten Landnahmen, eben mit Kolonien. Es sollte also die Flagge dem Handel, der Offizier dem Kaufmann folgen, wie die Kurzformel für den kolonialen Expansionismus lautete.

Bismarck wollte mit praktischem Weitblick „auf die tropischen Kolonien hauptsächlich Wert“ legen; auf Südwestafrika nur insoweit, als dort „Metallreichtum“ festzustellen sei. Sein Auge auf äquatoriale Gegenden richtend, dachte er an die dort wachsenden billigen Produkte wie Baumwolle, Kaffee oder Kopra. Doch kein Interesse zeigte er an landwirtschaftlichen Kolonien, von denen Vieh in großer Zahl oder Tausende von Zentnern Wolle nach Deutschland exportiert werden könnten, also neue Konkurrenz für die ostelbischen Grundbesitzer entstünde.

Auf der anderen Seite nahm Bismarck beim Kolonialexpansionismus Unsicherheitsfaktoren und ungewisse Zukunftsaussichten durchaus in Kauf. In diesem Sinne waren für ihn die Kolonien doch auch ein Experimentierfeld, wie es ihm der linksliberale Ludwig Bamberger vorwarf. Von Torschlusspanik, wie manche Kolonialpropagandisten, für die Deutschen zu spät gekommen waren, blieb Bismarck frei. Aber für die vorzügliche Besetzung von „herrenlosen Gebieten“ war er am Ende doch, und zwar nach der Devise: nehmen, was noch zu haben war. Anders ist die Schärfe seiner Auseinandersetzung mit England nicht zu erklären.

Da Bismarck jedoch in der Politik Rechner und kein Schwärmer war, hielt er dieser Kolonialpolitik von jenem Moment an inne, da die Beziehungen unter den Mächten auf dem europäischen Kontinent schwieriger und gefahrvoller wurden."

 

Außenpolitik

 

Die Außenpolitik Otto von Bismarcks beruhte vor allem auf einem freundschaftlichen Verhältnis zu Russland. Nach dem Krieg gegen Frankreich war Deutschland „saturiert“, erwartete aber früher oder später einen Angriff Frankreichs. Auf keinen Fall sollte Deutschland in einen Zweifronten-Krieg mit Frankreich und Russland geraten. Zudem sollte es ein freundschaftliches Verhältnis zu England geben.

Der Balkan war ein Zankapfel zwischen Deutschlands Verbündeten Österreich-Ungarn und Russland. Auf keinen Fall sollte das Dreier-Bündnis deswegen brechen.

Aus den Jahren 1876 und 1887:

 

„Bismarcks Rede gipfelte in dem Satz dass er zu irgendwelcher deutschen Beteiligung im Orient-Konflikt nicht raten könne, solange er „in dem Ganzen für Deutschland kein Interesse sehe, welches es auch nur die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert wäre“.“

 

„Bismarck riet Österreich zwar, seine Truppen an der galizischen Grenze zu verstärken, um vor russischen Überraschungen gesichert zu sein, lehnte aber alle Vorschläge Wiens ab, die auf einen gemeinsamen Präventivkrieg gegen Russland hinausliefen. Wieder und wieder betonte er Deutschland Saturiertheit nach 1870; die Vermeidung eines Angriffskrieges wurde zur Dominante seiner Außenpolitik, und am allerwenigsten war er für eine Aggression gegen Russland zu gewinnen. Das begründete er in einem Erlass an den Botschafter in Wien, in dem er gegen die Vorstellung polemisierte, Russland könnte „zertrümmert“ werden, und betonte: „Ein derartiges Ergebnis liegt aber auch nach den glänzendsten Siegen außerhalb aller Wahrscheinlichkeit. Selbst der günstigste Ausgang des Krieges würde niemals die Zersetzung der Hauptmacht Russlands zur Folge haben, welche auf den Millionen eigentlicher Russen griechischer Konfession beruht. Diese würden, auch wenn durch Verträge getrennt, immer sich ebenso schnell wieder zusammenfinden wie die Teile eines zerschnittenen Quecksilberkörpers. Dieses unzerstörbare Reich russischer Nation, stark durch sein Klima, seine Wüsten und seine Bedürfnislosigkeit wie durch den Vorteil, nur eine schutzbedürftige Grenze zu haben, würde nach seiner Niederlage unser geborener und revanchebedürftiger Gegner bleiben, genau wie das heutige Frankreich es im Westen ist. Dadurch wäre für die Zukunft eine Situation dauernder Spannung geschaffen, welche wir gezwungen werden können, auf uns zu nehmen, wenn Rußland uns oder Österreich angreift, welche aber freiwillig herbeigeführt zu haben ich nicht auf meine Verantwortung nehmen möchte.““

 

Der Lotse geht von Bord

 

An Person und Politik von Kaiser Wilhelm II. (ab 1888) lässt sich viel kritisieren – die Entlassung Otto von Bismarcks gehört nicht dazu. Dessen Alters-Starrsinn (er war knapp 75 Jahre alt) hinderte ihn daran zu sehen, dass seine Zeit abgelaufen, er nicht mehr zeitgemäß war.

Natalie Wohlleben: „Am 29. März 1890 veröffentlichte die Londoner Satirezeitschrift „Punch“ die wohl international bekannteste Bismarck-Karikatur: „Dropping the pilot“. John Tenniel (1820 – 1914) popularisierte damit eine Bildsprache, die bis heute lebendig ist. Die sprichwörtlich gewordene deutsche Übersetzung „Der Lotse geht von Bord“ trifft allerdings weder die Aussage des Zeichners noch das historische Geschehen auf den Punkt. Es ist zu vermuten, dass die „preußische Zensur damals bei der Übersetzung leise die Feder mitgeführt haben“ könnte.

Kaiser Wilhelm II. ist als scheinbar passiver Beobachter zu sehen, der an der Reling lehnt und entspannt den Abgang Otto von Bismarck beobachtet. John Tenniel dürfte den scheidenden Kanzler dabei aber tatsächlich weniger als Lotsen gesehen haben denn als Steuermann (wie „pilot“ auch übersetzt werden kann), der das „Staatsschiff“ verlassen muss – „dropping“ kann allgemein durchaus mit „fallenlassen“ übersetzt werden, in der Fachsprache der Seefahrt lässt man damit jemanden von Bord gehen.

Der erste deutsche Reichskanzler hatte am 18. März 1890 sein Rücktrittsgesuch schließlich nur unwillig eingereicht. Zweimal war er dazu von Kaiser Wilhelm II. aufgefordert worden, und zwar aus vielfältigen Gründen: Zum einen lehnte er den repressiven Kurs des Reichskanzlers gegenüber der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung ab. Zum anderen empfand er dessen Versuch, sämtliche Kommunikation der Minister mit ihm zu kontrollieren, als inakzeptabel. Bismarck, der nach den Ergebnissen der Reichstagswahl im Februar 1890 zudem keine Mehrheiten mehr für die Unterstützung seiner Politik finden konnte, musste sich schließlich geschlagen geben. Sein Rücktritt stand dennoch nicht für eine politische Richtungsentscheidung, wie Lothar Gall in seiner Bismarck-Biografie schreibt: Bei dessen „Sturz ging es von Seiten derer, die ihn stürzten, in Wahrheit um keine Zukunft, um keine vorwärtsweisende Alternative, sondern fast ausschließlich um das, woran sich auch der alternde Kanzler so sehr klammerte: um die Macht als solche und nicht zuletzt um ihren äußeren Schein und ihre Insignien.““

https://www.bismarck-stiftung.de/2020/03/25/ein-steuermann-kein-lotse-vor-130-jahren-erschien-dropping-the-pilot/

 

 

Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm

 

 

Das Böse verlachen

- Satire, Realsatire, ernst Gemeintes -

 

Simone Solga: Happy End im Irrenhaus | Folge 80

https://www.youtube.com/watch?v=xHghDC0zaU8

 

Dechiffriert: Dreiste ARD-Propaganda zum AFD-Parteitag. Regierungskritik für Tagesschau antisemitisch

https://rumble.com/v33onvk-dechiffriert-dreiste-ard-propganda-zum-afd-parteitag-regierungskritik-ist-a.html

 

HallMack  Aktuelle Kamera 22 - Die Energiepreisbremse

https://www.frei3.de/post/f5029ad6-01c9-4ca3-a5c6-d64cf5d993a7

 

HallMack  Die Backnang-Order

https://www.frei3.de/post/e97617c8-ac65-41f9-b55c-5f328888c707