„Alles an dem Autor, für den ich in diesem Jahr als allerersten die Trommel rühren möchte, giert nach dem Superlativ:
- Er hat als Jüngster aller Zeiten den Literaturnobelpreis erhalten.
- Seine Millionen Leser haben ihn geliebt und verehrt und seine Figuren unsterblich gemacht.
- Sein Wortschatz ist der größte der angloamerikanischen Literatur seit Shakespeare.
- Kein Geringerer als Henry James, der mit Kollegenlob nun wahrlich knauserte, nannte ihn "das kompletteste Genie", das er je kennenlernen durfte.
Heute aber spaltet dieser Autor wie kein zweiter: In Teilen der akademischen Welt gilt er als eine Art leibhaftiger "Gottseibeiuns" der Literatur, die Erwähnung seines Namens ruft unter den politisch Korrekten konditionierte Reaktionen hervor wie die von Lord Voldemort in der Welt von Harry Potter. Ich spreche von Rudyard Kipling, geboren 1865 in Bombay, dem Autor des nicht genug zu rühmenden Indien-Romans "Kim", einem der besten Dichter der englischen Sprache und dem Verfasser so brillanter Erzählungen wie "Der Mann, der König sein wollte".
Seit Jahrzehnten versucht man, Rudyard Kipling mit zwei Einwänden aus dem Kanon der Weltliteratur zu verbannen. Einwand Nummer eins: War der Mann nicht Imperialist? Für einen Autor mit Kiplings Geburtsdatum und Herkunft ist das in etwa so belastend wie für einen Deutschen heute die Mitgliedschaft im Schäferhundverein.
Der zweite Einwand wiegt da schon schwerer – in Deutschland ist es sogar immer noch ein richtiges Totschlagargument. Ist Kipling kein Kinderbuchautor? Eine neue Übersetzung von Kiplings "Dschungelbücher" bietet Gelegenheit, sich vom Gegenteil zu überzeugen.
Andreas Nohl hat die Erzählungen über den Menschenwelpen Mowgli – den Wölfe im indischen Dschungel adoptierten, der eine Todfeindschaft mit dem lahmen Tiger Schir Kahn pflegt, dessen Mentoren der sinnenfrohe Panther Baghira, der rechtsgläubige Bär Balu und die weise Schlange Kaa sind – in ein vortreffliches Deutsch übersetzt.
Wer dieses Buches aufschlägt, wird mit dem "Gesetz des Dschungels" konfrontiert und mit einem Bild der Natur jenseits eines bloßen Spiegels der menschlichen Seele.
Auf den Seiten dieses Buches tanzen Elefanten, machen Mungos Jagd auf Kobras und Kobras Jagd auf Mungos. Und im Fluss lauern sieben Meter lange menschenfressende Krokodile mit der Parole im Rachen: "Achtet die Alten und Schwachen!"
Wer bei Kipling gelernt hat, solchen Krokodilen zu misstrauen, hat eine politische Lektion fürs Leben erhalten. Also vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich tue, lassen Sie sich eines der großen Vergnügen der Weltliteratur nicht entgehen und lesen Sie "Das Dschungelbuch – Eins und Zwei" von Rudyard Kipling in der neuen Übersetzung von Andreas Nohl, erschienen im Steidl Verlag.“
http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/druckfrisch/sendung/dschungelbuch-kipling-100.html
Nun ist der Wurm nicht immer der selben Meinung wie Denis Scheck, aber hier hat er Recht: ohne Wenn und Aber ist Rudyard Kipling, der vor 150 Jahren geboren wurde und vor 80 Jahren gestorben ist, einer der Großen der Weltliteratur.